474
271/20
Königsberg den 16
Xbr.
776.

21
HöchstzuEhrender Herr CapellMeister,

22
Landsmann und Freund!

23
Zuvörderst wünsche ich, daß Sie, wie es einem christlichen
Virtuosen
gebürt,

24
Gott danken für alles was Er gegeben und was Er genommen hat, mit einem

25
Fiat voluntas TVA!
dt. dein Wille geschehe! (
Mt 6,10
)
vollendete Mutter
Catharina Dorothea Elisabeth
herzlichen
Fiat voluntas TVA!
Erndte und Freude für Ihre vollendete

26
Mutter – aber Frühregen und Spaatregen für Ihre würdige junge Frau! Daß Sie

27
Schwester im Apoll …
Im
Vossischen Musenalmanach auf das Jahr 1777
, S. 37 und 133 sind Reichardts Vertonungen der Lieder
„Aufmunterung zur Freude“
und
Claudius’
„Morgenlied eines Bauern“
abgedruckt; ebd., S. 100 Juliana Bendas Vertonung des Liedes
„Dora“
.
Juliane heißt und zugleich Ihre Schwester im Apoll ist, hab ich eben aus der

28
poetischen Blumenlese für das bevorstehende Jahr ersehen, in dem Ihnen

29
Gott einen Erben bescheeren wolle, damit Ihre Muse eine eben so fröhlige

30
und glückliche Mutter auf Erden werde, als jene im Himmel ist. Amen!

31
Curialien pro praeterito et futuro
dt. Anredeformeln für Vergangenes und Künftiges
Nach wohl überstandnen
Curialien pro praeterito et futuro,
eilt meine

32
Hündin vom Nil
nach „ut canis e Nilo“, dt. wie ein Hund aus dem Nil; ägyptische Hunde sollen nach
Solinus,
Collectanea rerum memorabilium
, 15,12 nur im schnellen Laufen aus dem Nil lecken.
Briefes
HKB 461
Feder wie eine Hündin vom Nil, zum
Thema
meines ersten Briefes, den ich

33
vor Jahr und Tag geschrieben und bitte gegenwärtige Fortsetzung

34
freundschaftlicher aufzunehmen. Ihr gänzl. Stillschweigen darauf hat mir weh

S. 272
gethan; und es fällt mir schwer Sünden gegen den Geist der
Freundschaft

2
eandem chordam
dt. dieselbe Saite
ungerügt zu laßen. Ich kann aber unmögl.
eandem chordam
berühren, ohne

3
wenigstens zum voraus zusetzen, daß ich wirklich eine Antwort erhalten hätte

4
ungefehr nachstehenden Innhalts. Unter hundert idealischen Antworten, die

5
sich alle zum Innhalt meines ersten Anschreibens gereimt oder gepaßt hätten,

6
erlauben Sie mir diejenige Copey urkundlich zu machen, welche unserer

7
beyderseitigen Lage und Geschmack am meisten Gnüge gethan hätte.

8
am alten Graben
Wohnort seit 1770, in der Nähe des Lizent
Theurer Mann Gottes am alten Graben!

9
Quovsque tandem
dt. wie lange noch? (
Cic.
Cat.
, 1,1)
Quovsque tandem
– – doch declamiren, Hopfen und Maltz ist an Ihnen

10
verloren. Ihre
affaire de coeur
liegt gantz außer meiner Sphäre und ich habe

11
hartes P … weiche B
Abraham Jakob Penzel
in Königsberg und
Johann III Bernoulli
(vgl.
HKB 461 ( III 218/24 )
), der um Hilfe gebeten wurde, um Penzel vom Militärdienst zu befreien.
so viel mit mir selbst zu thun, daß mich Ihr hartes
P
dort und das weiche
B.

12
Mann im Monde
Johann III Bernoulli
hier gleich viel angehen. Dem ohngeachtet bin ich zweymal bey dem
Mann

13
im Monde
gewesen, ohne ihn, wie Sie leicht denken können, bey sich gefunden

14
zu haben. Wär er sichtbar gewesen, er hätte daran glauben müßen, daß sein

15
Mond und Ihr lieber Erdschwamm von gleicher optischen Größe sind. So

16
viel können Sie doch hieraus sehen, daß es mir am guten Willen nicht fehlt,

17
auch wider mein Gewißen Ihnen gefällig zu seyn. Wenn Sie es nach einem

18
halben Jahr noch für nöthig finden, mich in dieser
affaire de coeur
noch

19
als einen Unterhändler oder Vertrauten zu misbrauchen: so werd ich zur

20
harmonia praestabilita
die von Gott im Voraus festgelegte Harmonie der Dinge nach der Monadologie von
Gottfried Wilhelm Leibniz
harmonia praestabilita
meiner Freundschaft zwischen zwo so
heterogenen

21
Physiognomien, wie Hamanns und Penzels sind, vielleicht etwas mehr

22
Vertrauen haben, denn sich vor der Hand ohne vorsetzliches Blendwerk füglich

23
von mir thun läßt. Leben Sie mittler weile wohl, armer alter Mann mit dem

24
kranken Kopf! Wenn der so wacker und gesund wäre als Ihr Herz ist: so

25
Friedrichsdors
Friedrich d’or, Goldmünze benannt nach
Friedrich II.
; entspricht 5 Reichstalern (eine im ganzen deutschsprachigen Raum übliche Silbermünze).
wären Sie mit keinen Friedrichsdors zu bezahlen. Ich bin Ihr aufrichtiger

26
Freund und Landsmann

27
Mäßig geschwind
Anspielung auf Allegro moderato
Berlin Mäßig geschwind
Johann Friedrich Reichardt.

28
den 25
April
776.


29
Alles in der Welt, liebster Capellmeister! nur muthen Sie mir nicht mehr

30
die verfluchte Arbeit zu, in Ihrem Namen meine eigene Briefe zu

31
beantworten. Hier ist von keiner
fictione poetica
die Rede, daß unser Freund

32
Kreutzfeld
Johann Gottlieb Kreutzfeld
als Literaturtheoretiker und als Befürworter Penzels
Kreutzfeld
Schiedsrichter seyn könnte, sondern von einem ächten Document eines

33
Hofmanns, der wie Sonnenklar zu ersehen
atti
schen Witz mit spartanischer

34
Tugend zu verbinden weiß. Ich besorge, daß mein erstes Schreiben zu

35
Misverständnißen Anlaß gegeben und da ähnliche Umstände mir die

36
Nothwendigkeit auflegen den Innhalt deßelben zu erneuern: so will ich mich im Ernst

S. 273
rechtfertigen gegen bloße Vermuthungen und erwarte von Ihrer Freundschaft

2
nur so viel Antheil, als Sie der Klugheit und der Lage der Sache gemäß finden.

3
Johannes Turicensis
Johann Caspar Lavater
in Zürich
Ich bin kein Idealist in der Physiognomi
st
e, wie der heil.
Johannes

4
Recensent
die Rezension von
Lavater,
Physiognomische Fragmente
in
Allgemeine deutsche Bibliothek
, Bd. 29, S. 379–414
Turicensis
noch ein
Professionn
ist wie
der
sein strenger
Recensent
in der

5
allgemeinen deutschen Bibliothek (deßen Verfaßer ich gern durch Sie erfahren

6
möchte) aber ein wenig Menschenkenntnis traue ich mir auch zu
und noch

7
mehr
bey allem Mistrauen gegen mich selbst und meinen Nächsten Nach

8
diesen Voraussetzungen kann Ihnen auf meine Ehre versichern, daß je länger

9
ich
Penzel
kennen lerne, desto mehr meine Achtung für die Anlage seines

10
Geistes und Herzens zunimmt und bisher zugenommen hat.

11
coup d’oeil
dt. flüchtiger Blick
So entscheidend auch ein
coup d’oeil
bey äußerl. Merkmalen seyn kann:

12
so ist sein Verdienst doch immer eins von den edlern Metallen, die erst auf der

13
Capelle
wo Silber und Gold vom Blei geschieden werden
Capelle abgetrieben werden und dann geschätzt werden müßen. Zu meiner

14
großen Beruhigung laßen Sie sich also, HöchstzuEhrender Freund, sich ins

15
Ohr gesagt seyn, daß ich Ihnen keinen Nichtswürdigen empfohlen habe und

16
nochmals empfehle.

17
dasige Academie
Johann III Bernoulli
hatte an
Friedrich II.
geschrieben und eine abschlägige Antwort bekommen, vgl.
HKB 461 ( III 218/6 )
. So übernahm es die Berliner Akademie der Wissenschaften, Bernouillis Petition zu unterstützen und Penzel vom Militärdienst zu befreien.
Um also endlich einmal zur Sache zu kommen: so hat die dasige
Academie

18
wie es scheint eben den Versuch
in corpore
gethan, den einer ihrer Mitglieder

19
in seiner Einfalt des Herzens, die mir ungemein edel und heroisch vorkommt,

20
gewagt. Beydes scheint fruchtlos gewesen zu seyn – und wenn es dabey sein

21
Bewenden hätte; so wär eben nicht viel daran gelegen. Sollte aber meinem

22
Orest
Penzel verfolgte, wie den Muttermörder Orest die Furien, seine Entscheidung, sich anwerben zu lassen.
Orest Pentzel
statt seiner gehoften Erlösung ein größerer Unfall dadurch

23
kreyßende Riesengebürge Mäuse
auf
Hor.
ars.
, 139 zurückgehende Redensart („Parturient montes, nascetur ridiculus mus“, dt. der Berg kreißte und gebar eine lächerliche Maus)
erwachsen: so sollen alle innerhalb Berlin kreyßende Riesengebürge Mäuse

24
gebären – daß Himmel und Erde sich bewegen –

25
Ich mag weder drohen noch fluchen,
und
sondern w
e
ürde schon zu

26
seiner Zeit wißen was ich thun will.

27
Um allen diesem Unheil zuvorzukommen, beruhigen Sie meinen Geist. Es

28
wird Ihnen an Verbindungen nicht fehlen, durch die es Ihnen leicht fallen

29
dörfte alles was von Seite der Academie vorgefallen, zuverläßig zu erfahren

30
u mir das Nöthige davon anzuvertrauen, damit ich wenigstens im Stande

31
bin mit einem guten Rath hier zur Hand zu seyn; denn so wenig auch Lust

32
hätte das Glück dieses unternehmenden Kopfs zu beschleunigen, so sehr
ich

33
wünschte ich alle Wege der Verzweifelung ihm abzuschneiden und ihn bey

34
einer guten Laune in seinem Schicksal zu erhalten.

35
Nun liebster Capellmeister werden Sie abermal meine Ansprüche auf Ihre

36
Freundschaft für einen Misbrauch halten? – Nur daß ich dies zweyte

37
Schreiben nicht Selbst beantworten darf! – –

S. 274
Canonicus Pauw
Cornelis de Pauw
Können Sie mir nicht ein Wort vom
Canonicus Pauw
melden? Wo lebt

2
Recherches philosophiques sur l’Allemagne
nicht ermittelt; wohl fingierter Titel in Anlehnung an andere Schriften de Pauws
er jetzt? Hat man bald seine
Recherches philosophiques sur l’Allemagne
zu

3
erwarten – –

4
Nicolai den Lindnerschen Catalogum
Biga bibliothecarum
, vgl.
HKB 468 ( III 246/19 )
Hat Ihnen
mein
Freund Nicolai den Lindnerschen
Catalogum duplicem

5
mitgetheilt? Vier Tage vor der
Auction
befiel ich krank
heit
. Es ließ sich zu

6
Flußfieber
„Febris catarrhalis, ein nachlaßendes Fieber, welches sich mit Flüssen auf der Brust vereinigt. Man macht einen Unterschied unter ein gutartigen [Catarrh] und bösartigem Flußfieber.“, vgl.
Krünitz
, Tl. 14, S. 420
einem Flußfieber an schien ein Gallenfieber, erklärte sich aber bald zu einem

7
Quartanfieber
viertägig wiederkehrendes Fieber, vgl.
Krünitz
, s.v. Quartan: „viertägig, als Quartanfieber, ein Fieber, welches sich jederzeit am vierten Tage wieder einstellt, nähmlich den ersten Fiebertag immer wieder mitgerechnet, so daß also zwischen 2 Fieberanfällen 2 gute Tage gezählt werden.“
ehrlichen
Quart
anfieber. Mein ganzes Haus
beynahe
(meine 3 Kinder

8
Gottlob! ausgenommen) ist ein Lazaret gewesen. Nach einer
Quarantaine

9
von 15 Wochen denke ich in dieser den ersten Ausgang zu wagen; meine

10
Hausmutter ist noch übel daran und nicht so weit gekommen, wie ich, durch leidige

11
Recidive
Rückfälle
Recidive,
die mich bis diese Stunde für sie beunruhigen.

12
Claudius … und seiner Frau
Matthias Claudius
und
Anna Rebecca Claudius
Gevatter
Claudius
beschwert sich auch, daß ihm und seiner Frau in

13
feine Luft
in Darmstadt, vgl.
HKB 467 ( III 241/33 )
Ansehung ihrer Gesundheit die feine Luft nicht so gut bekommt als die schwerere

14
in Wandsbeck und daß sie bey beßeren Tagen magerer werden. Ich habe mich

15
Beyträgen
Von Claudius erschienen im
Vossischen Musenalmanach auf das Jahr 1777
, S. 135–137
Morgenlied eines Bauermanns
(
vgl. Musenalm
) und S. 151f.
Wächter und Burgermeister
; zu letzterem vgl. den „Nachhelf eines Vokativs“ in
Hamann,
Schürze von Feigenblättern
,
HHE 5
, S. 279.
an seinen beyden Beyträgen zur Blumenlese nicht satt lesen können. Bey

16
jeder Kleinigkeit die mich
affici
rt, dergl. es hundert der Tages giebt, stößt mir

17
der Vers auf:

18
Sie ist ein …
aus dem „Morgenlied eines Bauermanns“ im
Vossischen Musenalmanach auf das Jahr 1777
, S. 135
Sie ist ein sonderliches Wesen
!


19
Dein Brunn …
Spr 5,18
; Hamann interpoliert jedoch „Werk“ anstatt „Frau“
Verzeihen Sie mein langweiliges buntscheckiges Geschmier. Dein Brunn

20
sey geseegnet und freue Dich des
Werkes
Deiner Jugend. Ein
Wort alter

21
Lehre
aus den Sprüchen Salomons, statt einer Empfehlung an Ihre

22
Gemalin.

23
Ich umarme Sie unter Anwünschung alles Wohlergehens und empfehle

24
mich Ihrem besten Andenken als Ihr aufrichtig ergebenster Freund und Diener

25
Johann Georg Hamann.

Provenienz

Druck ZH nach den unpublizierten Druckbogen von 1943. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 195–200.

ZH III 271–274, Nr. 474.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
274/20
Werkes
]
Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
lies
Weibes
statt
Werkes