1080
249/24
Münster den 18
Jul.
87.

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Hier bin ich, mein Herzens lieber Fritz Jonathan seit vorgestern Abend,

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und schreibe diese Zeilen auf dem Bette, das ich seit gestern hüten muß wegen

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meiner geschwollenen Füße, der ich aber nunmehr bald hoffe los zu werden.

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Ich werde hier wie ein Kind und Bruder des Hauses gepflegt, und wenn sich

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nun nicht meine seelische Natur nicht erholt: so verlier ich alle Hofnung zu

S. 250
einer Erneurung meiner Leibes- und GemüthsKräfte. Den 27
pr.
kam ich in

2
Berlin an, fand einen Bewillkommnungsbrief von Claudius, bin dort nicht

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aus dem Hause gewesen. Mein treuer Wirth, Landsmann Gevatter und

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Freund hat alles für mich abgemacht, und ich eilte weg, um nicht dort gantz

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an Füßen gesund zu werden – Habe Leuchsenring, Gedicke, Spalding

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kennen gelernt. Biester war abwesend und kam an eben dem Tage in

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Braunschweig an, als wir durchreisten. Ein junger Landsmann, der Uebersetzer des

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Agamemnons besuchte uns.

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Hier fand ich einen Brief von Reichardt nebst Einl. aus Pr. auf mich

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warten, nebst einer Stelle die Dich, lieber Fritz, betrifft: „Für Jacobi, dem

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ich heute nicht wieder schreiben mag, will ich Ihnen doch ein paar Worte

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sagen. Ich sah Engel gestern und kam im Gespräch auf J. er sagte mir die

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Theaterdirection, der er jetzt gantz lebt, daß er so gar seine Lehrstelle beim

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Gymnasium niedergelegt hat, hindere ihn an aller
φφ
ischen Lectüre; er kenne

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also J. neueste Schrift auch nicht, höre aber von seinen Freunden, daß sie

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weit klärer und bestimmter geschrieben sey, als seine vorigen Schriften

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über denselben Gegenstand und daß er im Grunde mit Moses nur um sehr

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wenig, um ein Nichts aus einander sey. Von Moses Morgenstunden fügte

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er hinzu: so sehr er sie auch als ein Meisterstück der Diction ehrte, sey er

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doch in Meinungen u Beweisart gantz verschieden gesinnt.

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Die Recension über J. Schrift in der Voßischen Zeitung ist von Biester.

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J.
kent
sie
noch
wohl noch nicht, ich will drum
schreib
schicken und sie

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hier beylegen“ –

24
Ich
l
e
iege
wie ein Lazarus mit Tüchern umwunden um meine bereits

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ziemlich geschlungenen Füße, und lebe übrigens vom
luxu
eines
des reichen

26
Manns
umgeben. Mir ist aber wie einem Menschen zu muthe, der selbst

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nicht weiß, wie ihm geschehen, und wie er von einem so weiten Ende

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hergekommen ist. Mein
Alc.
B. entspricht gantz dem Ideal meines Herzens.

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Seiner lieben kindlichen Marianne Gesundheit bekümmert mich und ist meine

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einzige Sorge. Ich hoffe hier bald daheim und zu Hause zu seyn, so bald ich

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nur wieder aufstehen kann und

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Da kam eben
Mariane
mit Deinem Briefe an unsern
Franz
.

33
Meinen jüngsten Freund
D
r
uffel
habe ich gestern kennen gelernt, und wird mit

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meinem Michael sich im Griechischen üben. Unser Engel und Gefährte

35
Raphael,
vulgo D.
Lindner, hat sich um uns wie sein Namensgenante um den

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alten blinden Tobias und Sohn verbindlich gemacht, wird auch hier nicht

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αχρηστος
seyn. Lieber Fritz Jonathan, auch Dir bin ich anräthig ihn wegen

S. 251
Deiner Hauptschmerzen zu rath fragen. Mein Vertrauen ist unermeßlich zu

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seiner Treue und Liebe. Zwey Eigenschaften, die nicht feil sind und nicht durch

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Specimina pro Gradu
erworben werden können. Die gute Fürstin
Aspasia

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ist auf dem Lande, und ihren alten Freund
Pericles
hat mein Junge heute in

5
der Kirche gesehen.

6
Ich habe mir in
Reichardts
Hause trefflich gefallen, und den Wirth

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noch mehr schätzen und lieben gelernt, als aus den Freundschaftsdiensten, die

8
ich ihm schuldig bin. Seine
Frau
, ihre
Mutter
und beyde

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Schwestern
, ihr
Bruder
, und die zahlreiche Familie sind ein Ausbund guter

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Menschenseelen, die mich mit Berlin beynahe ausgesöhnt haben.

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Hier lieg ich wie in Abrahams Schooße und lebe als Augen und

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Ohrenzeuge einer Harmonie, die der erste Philosoph unter den Sternen

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wahrzunehmen glaubte. Laß mich so lang ich will und kann, träumen und

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schlummern in meiner empfindseeligen Lage. Man erwartet Dich hier im August,

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sey so gut und mache unsere Erwartung wahr. Komme wenn Du kannst dem

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lieben Erndte- und meinem
Geburts Monathe
zuvor. Mich verlangt eben

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so sehr Dich zu sehen; aber meine
vis inertiae
dient zum Gleich- oder

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Uebergewichte der Ruhe, die ich, nach so vieler Unruhe, mit langen Zügen zu

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genüßen nöthig habe um wieder in den Gang zu kommen.

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Ich muß noch nach Berlin schreiben, und aufhören. Also auf Glücklich

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Anschauen und baldiges Einander sehen. Ich umarme Dich, und schreibe so bald

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ich kann, mehr und nicht auf dem Bette. Von meinem Reisegefährten u

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Michael die beste Empfehlungen Deines alten Johann George. Wir grüßen

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die Deinigen mit einstimmigem
Herzen


25
Adresse:

26
An / HErrn Geheimen Rath
Jacobi
. / zu /
Pempelfort


27
Vermerk von Jacobi:

28
Münster den 18
ten
Juli 1787.

29
JG Hamann –

30
empf den 19
ten

31
beantw. den 20
ten

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 377 f.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 556–558.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 6: Januar bis November 1787. Hg. von Jürgen Weyenschops, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2012, 214–216.

ZH VII 249–251, Nr. 1080.

Zusätze fremder Hand

251/28
–31
Friedrich Heinrich Jacobi

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
250/22
kent
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
kennt
250/26
Manns
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
liege
250/32
Mariane
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Marianne
251/16
Geburts Monathe
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
GeburthsMonathe
251/24
Herzen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Herzen.