1087
260/18
Pempelfort den 13
Aug.
87.

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Mein erwünschter, mein auserwählter
Franz,

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Gestern kamen wir glücklich hier an um 5 Uhr gegen Abend – der Anfang

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unserer Reise war ein wenig verdrüßlich, weil ich meinen grünen
Charivari

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zu Hause gelaßen hab, und die Witterung rauh war und feucht, folglich

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nicht den Maasregeln der vorigen Tage gegen meinen kleinen Ausschlag

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angemeßen. Mein Mittag in Dürmen bestand also in einigen Löffeln

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Biersuppe. Der Wagen, den uns der sonst gefällige Postmeister geben konnte, war

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nicht so beqvem, aber doch bedeckt gnug vor einem Platzregen, der uns

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überfiel, aber zum Glück zu rechter Zeit aufhörte. Er war demjenigen ähnlich,

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den wir den vorigen Mittag im
großen
Saale der
besten
Fürstinn

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ruhig abgewartet hatten; währte aber etwas länger. Im Thor von Dorsten

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kam uns ein Bedienter mit einem Briefe aus P. zuvor, der alles zu unserer

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Aufnahme im Posthause auf das ordentlichste besorgt war. Jetzt war die

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Reyhe an den lieben
D.
Raphael zu fasten, der über Kopfschmerzen und

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Verkältung klagte. Wir speisten mit einem Sohn der Postmeisterin, einem

S. 261
Vicarius,
und ich ließ mir gelüsten ein kleines halbes gebratenes Huhn

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schmecken zu laßen. Gestern fuhren wir in einer alten beqvemen Kutsche ab,

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hielten in Bruch oder zu Mühlheim jenseit der Ruhr einen vergnügten

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Mittag, und kamen unter anhaltenden Regen, der mich an das Evangelium

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Dom. X. p. T.
erinnerte, erwünscht an, wo alles zu unserer Ruhe und Pflege

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zubereitet war.

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Ich hoffe, liebster, bester Franz, daß Sie eben so umständlich seyn werden,

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uns Ihr und
Mariannen
Befinden zu melden. Gott gebe, daß sich alles zu

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unserer gemeinschaftlichen Zufriedenheit bald entwickeln möge, und entferne

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alles, was Ihre häusliche Glückseeligkeit stören möge, die noch so manchen

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Wunsch des Wachstums übrig hat. Ich kann es unmöglich vergeßen, daß

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ich auch Ihnen den jetzigen neuen Genuß der Freude und des Lebens zu

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verdanken habe, und eben so viel Hoffnung zu einer beßern Erneuerung.

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Heute bin zum ersten mal im Garten gewesen, und habe meinem

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freundschaftlichen Artzte meinen Besuch abgestattet, der ein paar niedliche Zimmer

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in einer besondern Wohnung hat, und in dieser Lage beßer zu schlafen, als in

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der Nähe eines lästigen Patienten, der ihm immer vor Augen lag, und ein

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wenig zu arbeiten im stande seyn wird. Auch unsere doppelt kranke Marianne

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wird sich erleichtert fühlen durch die gegenwärtige Leere, und eine Bürde

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weniger haben. Ich hätte vorzüglich nöthig mich in Ansehung Ihrer Leute

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zu entschuldigen, welche die gröste Ursache haben sich über meinen

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pollnischen Abschied
, wie man es bey uns nennt, zu beschweeren. Ich bin

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ehmals in Trinkgelder gegen Bediente, ohne es zu wißen, zu freygebig

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gewesen – und habe in Ihrem Hause noch einige Gründe mehr gehabt, mich

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des entgegengesetzten Fehlers verdächtig zu machen, meinen

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Lieblingsempfindungen zum Trotz, aus vielleicht eben so sophistischen Gründen, die ich

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Gelegenheit haben werde Ihrem Urtheil anheim zu stellen, weil Sie schon wißen,

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wie sauer mir urtheilen und wählen wird.


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Den 14 –

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Zum Willkom meiner Muße habe ich des seeligen Hallers
Tagebuch

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seiner Beobachtungen über Schriftsteller
und
über sich

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selbst
gefunden, von hinten das Buch angefangen und mich an den

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Fragmenten religiöser Empfindungen
nicht satt lesen können. Ihnen

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und der Princeßin wünschte ich auch diese Lectür.

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Gestern erhielt auch unser Jonathan die
Lettre remise au Roi de Prusse

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par Mirabeau,
die uns allen außerordentlich Gnüge gethan hat.
Ne pas trop

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gouverner.
Der
Salomon du Nord
ist treffend, und
Joseph
scharf

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beurtheilt. Der erste Probebogen von Alexis ist auch angekommen, und gestern

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Abend ein Epistelchen vom
Compere Claudius.

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Vater und Sohn wohnen in einer Stube neben J. J. und ich wünschte

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die Einrichtung dieses schönen Sommersitzes zum Muster Ihrer künftigen

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Wohnung, an die ich im
Geiste
denke – Aus der kleinen Colonie der

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größeren Bibliothek merke ich eine strenge Ordnung, die uns beyden, mein

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erwünschter Franz, nicht gegeben ist, und
Tante
Lehne wie
Claudius
Sie

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nennt, scheint diesen Geist in der ganzen Haushaltung eingeführt zu haben.

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Kein Wunder daß Jonathan diese Schwester sein
Alter Ego
nennt.
/
Mein

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würdiger
Pendant, Corman, Coeurman
oder Herzensmann wird schon nach

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Welbergen abgegangen seyn.

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Freund
Ernst
Schuld ist abgetragen; Er selbst wird hier erwartet.

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Mit meinen Füßen geht es nach Wunsch. Fleisch, Fische und Melonen

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sind mir untersagt; desto mehr schmause ich im Gemüse, woran der Garten

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reich ist, und die Auswahl Leonore überlaßen wird.

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Meine Zunge wird auch reiner, und die Witterung sich auch wohl zur

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Brunnencur beßern, die unser J. wegen eines
Catarrhe
auf einige Tage hat

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einstellen müßen. Von lauter guten Aussichten umgeben, wozu selbst ein nahe

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liegendes Carthäuser Kloster gehört. Vier Apotheken sind mir hier

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angeboten. Sie können sich daraus den
luxum
Ihres Patienten vorstellen, um ein

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würdiger Brunnengast zu werden.

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Erfreuen Sie mich bald mit guten Nachrichten, besonders in Beziehung

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Mariannens für unsern Artzt, der mir bald entbehrlich werden wird, und

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deßen Cur ich auch Ehre zu machen hoffe. Leben Sie recht wohl und denken

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so fleißig an uns, wie wir es hier thun, und ich vor allen Anlaß habe, Gott

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und Ihnen zu danken. Grüßen und empfehlen Sie unsern gemeinschaftlichen

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Freunden Ihren alten Invaliden
in spe

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Johann Georg.


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Zusatz Jacobis:

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Ich grüße u küße Dich; lieber Franz, mit Deiner Mariane herzlich u treulich

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Dein Fritz.


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Adresse:

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An / HErrn
Frantz Bucholz
/

34
Herrn von Welbergen / zu /
Münster
.


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den 13 Aug. 87

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841 x.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 363 f.

Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 130–133.

ZH VII 260–262, Nr. 1087.

Zusätze fremder Hand

262/30
–31
Friedrich Heinrich Jacobi

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
261/1
Vicarius,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Vicarius;
262/9
/
]
Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel.
262/9
–11
Mein würdiger […] seyn.]
Streichung nach der Handschrift hinzugefügt.
262/35
den 13 Aug. 87
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.