1088
263/2
Pempelfort. auf dem Bette den 16
Aug.
87.

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Den 2 d. erfreute mich und beschämte mich zum Theil Ihr zärtlicher Brief

4
vom 27
pr.
Herzlich geliebtester Gevatter Landsmann und Freund. Seit

5
Dom.
X.
bin ich hier, ohne dem Zweck meiner Reise und den Bedürfnißen

6
meiner Gesundheit näher zu seyn. Allenthalben meinen Freunden, und folglich

7
mir selbst zur Last, weil ich so wenig genießen kann als ich selbst geniesbar

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bin. Mit meinen Füßen geht es zwar beßer, aber die innere Qvelle des Uebels

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ist zu voll und die
materia peccans
erfordert Zeit zur Auflösung und

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Abführung, welche der Stärkung und Widerherstellung vorhergehen muß. Auf

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dem ersten Preuß. Dorfe im Westphälischen kam uns die mitgegebene

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Reisekost sehr zu statten, und selbst in Münster habe ich mich mehr wie einmal an

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dem Vorrathe der übrig gebliebenen
Gries
der gastfreyen Vorsorge und

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Zärtlichkeit erqvickt und mit widerholten und doppelten Geschmack Ihrer

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würdigen Gattin und der Albertischen Familie erinnert – an die
Ehre
,

16
die
Freude
und die
Fülle
Ihres Hauses, den darin herrschenden Geist der

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Einheit und Ordnung zurückgedacht, den Gott erhalten und seegnen wolle

18
– reichlich und täglich! Wie sehr dank ich der Vorsehung, daß ich der Pflege

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Ihres kleinen Lieblings nicht im Wege gewesen. Küßen Sie die kleine Mutter

20
von dem alten Mann, der mit Kranken sympathisirt und zu seiner

21
Widergenesung noch immer Hoffnung hat, aber nicht so gut zu Fuß ist
,
sie

22
einzuholen und mit Pathchen und Hermannchen mitzuspielen.

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Sie werden sich aus meiner Lage und der
vi inertiae
meines Gemüths, die

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sich aller Bewegung und Thätigkeit widersetzt die
Nothwendigkeit

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meines zähen Stillschweigens leicht erklären können, und daß ich noch zu

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nichts tauge, zu allem stumpf und unbehülflich bin.

27
Den 23
pr.
überraschte mich Jonathan Jacobi, brauchte hier den

28
Pyrmonter und reiste den 4 d. wider ab. Da wurde die Abrede genommen zu

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meiner Brunnencur in Pempelfort. Ich bin während meines Aufenthalts in

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Münster kaum im stande gewesen ein paar Tage auszugehen und mich in der

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Stadt umzusehen.

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Meine Unpäßlichkeit und meines Wirths seine war also das einzige

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Thema,
wovon ich hätte schreiben können. Auf die letztere hatte ich vorzüglich

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bey der Gesellschaft meines medicinischen Raphaels Rücksicht genommen. Der

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Anblick meines B. ist Beweis gnug des feinsten Nervensystems, daß ich keinen

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nähern Schlüßel nöthig hatte, um meine Neugierde zu befriedigen. Mit

S. 264
unsern kleinen Vertraulichkeiten kann niemand gedient seyn. Die Absicht und

2
die Art meiner Reise
qualifici
rt sich zu keinen Beschreibungen.
Vestigia me

3
terrent – Bene latuit
ist der Wunsch und die einzige Glückseeligkeit oder

4
vielmehr Bedürfnis meines Lebens.

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B. Marianne ist ihrer Entbindung nahe, und an ihrer Jugend nagt ein

6
verwahrloseter Wurm einer schleichenden Auszehrung – Da haben Sie ein

7
Concert
von 3 Patienten, von denen keiner zur Correspondenz taugt. Wir

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reisen nicht wie die Herren Berliner, fürs
Publicum,
sondern mit den

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individuelsten Privatabsichten

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Hans Michael hätte Ihnen nichts schreiben können, als daß sein alter

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Vater theils auf dem Bette theils auf der Stube zubringen muß, unter

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ewigem Gebrauche purgirender, auflösender und ausführender Mittel, mit

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einem Schwager unsers wohlthätigen Wirths zum Zeitvertreibe das

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Griechische vorgenommen. (Es ist ein junger
Detten
und war einer der nächsten

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Nachbarn.) mit einem gefälligen Gelehrten, Prof. Kistenmaker, einigen

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Umgang gehabt, der ihn mit Büchern v alten Autoren versorgte und daß ich mein

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Bette und meinen Tisch mit einer Menge Büchern belegt, von denen ich die

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wenigsten habe bestreiten können. Es geht uns mit unserer Schreibfeder, wie

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mit unserer Zunge. Und unserer Unvermögenheit wegen uns zu trösten, muß

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Vater und Sohn dem Horatz sein
Di bene fecerunt
nachbeten. Erwarten

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Sie also keine Unterhaltung, bis ich derselben ein wenig fähiger seyn werde.

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Pempelfort kennen Sie so gut als ich, und daß wir uns, liebster Reichardt,

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Ihrer öfters und freundschaftlich erinnern, versteht sich von selbst. Morgen

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fange ich eine neue Cur mit dem hiesigen berühmten
Hoffmann
schen

25
Kalkwaßer
an, wodurch unser Freund
L.
meine Genesung und den Gebrauch

26
des Pyrmonter, wozu ich eben hieher gekommen bin, zu befördern hofft. Ich

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reise wie ein Kranker, der sich um nichts bekümmern kann, der sich und seine

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Freunde, die er heimsucht, bedauert, und seine
elende Klügeleyen

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mitzutheilen sich fürchten muß,
somnia aegri.
Wie sollte es mir einfallen ein

30
Lobredner
oder
Kunstrichter
meiner Freunde, meiner wohlthätigen

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Freunde zu seyn, auf deren Mitleiden und Nachsicht ich allein Ansprüche

32
machen muß –


33
den 17 –

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Ardinghello fiel mir gestern in die Hände, und ich konnte nicht eher

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aufhören, bis ich damit fertig war. Eben so gieng es mir mit
Hallers

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Tagebuche
, das ich bey meiner Ankunft gleich vor mir fand. Den Tag darnach

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erhielten wir die merkwürdige Epistel des
Mirabeau.
Diese Unenthaltsamkeit

S. 265
meines Appetits im Lesen und Eßen ist ein unüberwindliches
Palliativ
und

2
pabulum
meiner langen Weile, die ich mir leider selbst zu meiner Muse

3
erwählt
.

4
Franz Buchholtz, Erbherr von
Welbergen
ist der einzige Titel, den mein

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Münsterscher Freund hat. Ungeachtet seiner hypochondrischen Diät, mit der

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er sich seit vielen Jahren seiner Uebel erleichtert hat durch eine strenge

7
Beobachtung einer gesetzmäßigen Lebensart, mit der er sich vor den

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Wirkungen der Luft in Acht nehmen muß, ist er ein paar mal in einer offenen

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Kutsche mir zu Gefallen
ausgefahren,
und wird wie ich hoffe sich dieses selbst

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aufgelegten Joches allmählich entäußern können. Der Umgang in seinem

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Hause ist sehr eingeschränkt, desto angemeßener aber meinem Geschmack.

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Einer meiner angenehmsten und merkwürdigen Tage, die ich in Münster

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erlebt, war der erste Besuch im Hause der Prinzeßin, der herrlichen

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Bibliothek
und schönen Garten. Es war der
neunte
August. Eines Hemsterhuis

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Diotima
ist eine so merkwürdige und einzige Erscheinung ihrer Art – daß

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ich armer Invalide eben so viel Zeit nöthig haben werde den Schatz ihres

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Geistes und Herzens, als ihrer in allen Sprachen, Wißenschaften und

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Künsten reichen und prächtigen Sammlung zu übersehen und anzuwenden. Der

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alte
Pericles
von Fürstenberg und mein junger
Alcib.
B. sind ihre

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vertrautesten Freunde. Sie können also leicht denken, daß des letzteren Haus eine

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hohe Schule
für mich gewesen ist, und seyn wird – und wie sehr mir

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mens sana in corpore sano
nöthig ist zum Genuß alles Guten, womit ich in

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Münster
und
hier
umgeben bin, noch immer leider! wie ein Tantalus.

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Zu unsern innigsten Hausfreunden in Münster gehörte ein gewißer

25
Druffel
,
der diesen Herbst nach Göttingen gehen wird um das
Jus
dort zu

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studieren, und ein
D. Corman,
der in Welbergen lebt, und nach der Stadt kam

27
mich kennen zu lernen. HE
Schücking
der einige Gedichte in Voßens

28
Musenalmanach geliefert, kam dort auch zum Besuch, und wird hier

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gleichfalls erwartet. Meinen alten Freund
Kleuker
aus Osnabrück hoffe ich

30
auch nächstens kennen zu lernen.

31
An HE von Schuken. Zufriedenheit mit seinem Aufenthalt in Schlesien

32
nehme ich vielen Antheil. Leuchsenr. wird schwerlich hier
erwartet
.
Ob er nach

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M. kommen wird?
D.
Biester werde vielleicht hier kennen lernen.

34
Ueber die Nachricht von meines alten Freundes, des jetzigen

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Kammergerichtsraths Philippi erwünschten Verpflanzung nach B. habe ich mich herzl.

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gefreut. Er wird für die Handschuh, die meine älteste Tochter mir gestrickt,

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Sorge tragen, auch für die alten Stiefel, daß ich sie einmal mit einer
guten

S. 266
Gelegenheit
hieher oder nach Münster wieder erhalte, oder allenfalls auf

2
meinem Rückwege mitnehmen kann. Ich setze zum voraus, daß Sie zufällig

3
Anlaß haben sich meiner zu erinnern, wenn Sie ihn etwa sehen sollten.


4
den 18.

5
Ich bin gestern zum ersten mal ausgefahren nach Grafenberg, habe diesen

6
Morgen mein Frühstück im Saal versucht. Es geht alles so langsam mit mir,

7
daß ich nicht von der Stelle komme. Unterdeßen muß ich
nolens volens
so viel

8
Gedult mit mir selbst haben, als meine Freunde mir zum Muster und

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Vorbilde dienen. Diese Woche wurden wir mit einem Briefe von Claudius erfreut;

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deßen Kinder aber auch krank sind. Gott erbarm sich aller Kranken, unter

11
denen ich der gesundeste und vornehmste bin, weil ich selbst nicht weis, wo es

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mir eigentlich fehlt.

13
Sie haben, liebster Gevatter, gnug gelesen, um mein bisheriges und

14
ferneres Stillschweigen nebst der
Quarantaine
deßelben beurtheilen zu

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können. Den Aufschluß Ihres Musäus haben wir sämtlich in Münster mit

16
vieler Zufriedenheit gelesen. Sie haben den Knoten geschürzt, und waren

17
auch schuldig zur Entwickelung deßelben das Ihrige beyzutragen. Nur ein

18
einzig mal nach Hause geschrieben, noch keinen einzigen der von dort

19
erhaltnen
Briefe beantworten können. Ich warte mit Schmerzen auf gute

20
Nachricht von Mariannens Entbindung, an deren Cur ich wie an meiner eigenen

21
Antheil nehme, und deren Druck ich mitfühle. – Wenn ich nur ein wenig

22
arbeiten könnte, so würde es zur Zerstreuung dienen. Aber
hinc illae

23
lacrumae
– daß ich nicht einmal, einen Brief schreiben kann, und immer mehr

24
in Unthätigkeit versinke, wie in einem Morast –

25
Haben Sie also Gedult mit mir, und laßen Sie mir Zeit zu meiner

26
Erholung und Wiederherstellung, wenn ich selbige noch erleben soll. Ich umarme

27
Sie und alle die Ihrigen – von der
lieben trauten Mutter
und

28
Grosmutter
an bis auf die jüngsten
Enkel
und übrige sämtliche

29
Genoßen Ihres mir unvergeßlichen Hauses und Busens. Mein

30
herumschwärmender Junge und an mich gefeßelte Freund und Reisegefährte nehmen an

31
meinen Gesinnungen den innigsten Antheil. Die Vorsehung erfülle alles, was

32
ich nicht auszudrücken und zu äußern im stande bin. Ihr
glücklicher
Mitgefühl

33
wird leichtlich alles errathen, was mein
Jonathan
hier und seine ihm

34
ähnliche
beyde Schwestern
mir aufgetragen haben. Er hat mit seinem

35
unbeholfenen Gast alle Hände voll, und mit dem Abdruck des
Alexis
wird

36
auch geeilt, damit er vor der Meße fertig werde. Weil alle
Dito’s
kein Rätzel

S. 267
für Sie seyn können: So bleibe selbige
in petto
Ihres alten unvermögenden

2
pppp Pilgrims
J. G. H.


3
den 20

4
Morgen wird der Anfang mit dem Pyrmonter gemacht. Tausend Grüße

5
und Küße an alle von allen! Ich kann nicht mehr.


6
Adresse mit rotem Lacksiegelrest:

7
An / Herrn Reichardt, / Königl. Preuß. Kapellmeister / in / Berlin.

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 1.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 364–367.

Siegfried Sudhof (Hg.): Der Kreis von Münster, 1. Teil, 1. Hälfte. Münster 1962, 367.

ZH VII 263–267, Nr. 1088.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
265/9
ausgefahren,
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
ausgefahren;
265/32
erwartet
.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
erwartet.
266/19
erhaltnen
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
erhaltenen
266/32
glücklicher
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
glückliches