1162
S. 474
Vermerk von Jacobi:
2
empfangen den 20
ten
May b. den 23
ten
3
Münster den 16 May 88.
4
Lieber Herzens Jonathan Fritz, Marianne u Hans sind diesen Morgen
5
nach Angelmodde gegangen und ich halte mit unserm lieben Frantz allein
6
Haus. Gestern war bey Sprickmann in Lohmans Hause und habe in seinem
7
nah
gelegnen Garten seine ganze Familie kennen gelernt, wie ich schon mehr
8
als einmal gewünscht. Seine Tochter feyerte eben Ihren 13 oder 14
9
Geburtstag. Es war also ein guter Tag aber bey mir nicht recht heiter. Morgen
10
erwarte ihn und schreibe daher heute
provisorie,
weil ich nicht zu lesen im
11
stande bin.
12
Die neul. mir anvertrauten Beylagen kommen bestellter maaßen mit dem
13
herzlichsten Dank zurück. Ich habe sie mit gestärktem Vergnügen zum zweiten
14
mal durch gelesen. Bringt mir Hans Deinen
letzten Brief mit Einl. zurück
15
so lege alles zusammen.
16
Deine Antwort hat mir beßer und beßer gefallen als Rehbergs Zuschrift,
17
auf deßen
Duplick
ich neugierig warte. Ich kann mich auch nicht besinnen
18
sein Verhältnis u das Lichtenbergsche Magazin gelesen zu haben, welches
19
hier bey der Fürstin oder sonst aufzutreiben hoffe. Hab ich vergeßen den
20
Inhalt; so wird er mir jetzt mehr einleuchten wegen der Scrupel, die mir sein
21
Briefwechsel gegen ihn veranlaßt hat. Ein sehr blinder aber viel mehr zu
22
eitler Handleiter des
Fl
Publici,
das ich mir nicht so unmündig u kindisch
23
vorstelle, sondern wie jede
εξουσιαν
τεταμενην,
und jedes
velamen
der
24
Vorsehung und
περιβολαιον, δια τους αγγελους,
der unsichtbaren Kräfte und
25
ihres unmerkl. Einflußes
physici
oder vorherbestimten Harmonie wegen.
26
Das Christentum nimmt mit einem Plätzchen
entre deux larrons,
wie der
27
Stifter deßelben gern fürlieb. Sie wird nicht gejagt, sondern es werden ihr
28
2 Flügel eines großen Adlers gegeben, und es fehlt ihr nicht an Nahrung in
29
der Wüste, so wenig
sans comparaison
wie
der kleine
Görgel in den
30
abscheuligen
W
Sümpfen die Du Dir in Welb. einbildetest. Es freut mich
31
in der Seele, daß ein so liebenswürdiger gutgesinnter vortrefl. Man an meine
32
Projecten alles mögl auf meiner Heimfahrt zu
genießen
, wie ich während
33
meines beynahe volljährigen
exilii peripatetici
in M. P. und W. mehr
34
utiliter
als
honeste
gethan habe, Antheil nimmt. Auch Hollstein wird
35
heimgesucht werden von dem alten
Oedipo,
und ich werde so viel
dona impressa
36
und
gute Werke
mitnehmen als ich in meinen
Coffresforts
beherbergen
37
und in meinen Winkeltaschen mitschleppen kann um meine alte Muse der
38
langen Weile unterwegs den Mund zu stopfen.
S. 475
Verzeih mir, daß ich Dir wegen des menschl. Fehlers, den ein Satyr
2
unserm Geschlecht vorwarf, auch das kalte und warme Deines Othems zur
3
Last lege
.
Wie kann ein
wütender
zugl. ein
verständiger
und
4
schlauer
Man in Deinen Augen seyn, mit den 2 beyden Augen Deines
5
Urtheils so angeschielt werden.
Deine Philosophie und Gnosis aus Geschichte
6
u Erfahrung nicht auf den Zehen zu treten komt mir 1. die alte Geschichte des
7
nur in neuem Balge erscheinenden Catholicismus nicht als ein Idealismus
8
sondern leider! unsterblicher und unwiderleglicher
Realismus
vor.
2.
9
Unrecht zu bekommen
u zu haben ist keine Unmöglichkeit, sondern eine
10
Wirkung unser Humanität, die ich niemals zu verleugnen oder abzulegen
11
despotisch und
positiv
gnug seyn werde.
Du kannst das Uebel freylich nicht
12
sehen, weil Du selbst mit einem geheimen Katholicismus leider!
infici
rt bist,
13
und wie es allen Gesetzgebern geht, nicht Herz gnug hast den Stab über
14
Deinen eignen Kopf zu brechen.
Ein Mann der
unschuldig
für einen
15
Bösewicht und Lotterbuben gehalten wird.
Ich finde keinen so großen Heroismum
16
drinnen, Schwachheiten zu bekennen, die nackte Wahrheit offen zu legen,
17
geheime Schaden, die jedermann in und an und um sich fühlt aufzudecken,
18
Sokrates und Plato zu verleugnen u zu verrathen dem alten Weibe zu
19
Gefallen, oder der
Dulcinée
unserer irrenden Ritter. Krokodillenthränen sind
20
leichter als Werke de
s
r Sinnesänderung.
Des besten, edelsten
21
rechtschaffnen Menschen göttl. Verhängnis war es ein
pendard
zu seyn.
Die ächtesten
22
Urkunden u Zeugniße, alle
Enargie
und
Energie
von Zeichen u Wundern.
23
Du scheust Dich nicht,
Gamaliel factice,
meinen ehmaligen Beichtvater dem
24
ich die Absolution der lächerlichsten Autorsünden und witzigsten
25
Verleumdungen zu verdanken habe als einen harten, ehrgeitzigen planvollen, dem Geist
26
nach geschornen Maul und Bauchpfaffen zu lästern. Ach Deine politische
27
Freundschaft übertrifft alle
pias fraudes,
die Du so nachdrückl. an andern
28
rügst und mit Deiner spitzen Feder
in petto
ärger als das babelsche
29
Otterngezüchte treibst und selbst ausübst. Wie kannst Du einen sich selbst über
30
Hals u Kopf herunterstürzenden
Wie willst Du einen solchen
31
wütenden Menschen
aufhalten
– Lege die Feder nieder, schöpfe eine frische
32
freye Luft, und weine über Deine eigene
Visionen
nicht wie ein altes Weib
33
sondern wie eine würdige Tochter – nicht des Mendelssohnschen sondern
34
paulinischen Jerusalems die unser aller Mutter ist über das traurige
35
Schicksal aller 9 Musen mit dicken Bäuchen und vollen Eutern für die Oster und
36
Michaelis meße, des gähnenden und wiehernden Publici. Babel hat seinen
37
Geist der Offenbarung oder vielmehr
Ueberlieferung
verdächtig gnug gemacht.
S. 476
Lieber ein Zöllner und Sünder, als der Beyfall mit den Füßen, den Du
2
vielleicht unter Pedantismum verstehst.
3
Verschleudere nicht all Dein philosophisches Mitleiden zum besten der
4
Starken, die keinen Artzt nöthig haben, behalte noch ein wenig für die
5
unglückl. Feinde übrig, die bey aller ihrer guten Meinung und guten Willen
6
Namen
auszurotten und heterogene Elemente
in Eins zu werfen
,
7
tief gefallen sind und immer tiefer fallen in die Grube, die sie andern gegraben
8
haben.
Spiele die Rolle eines Acteurs,
Courtisan
nach den Winken des
9
paradoxen
Diderot.
Wenn Du nöthig findest Dich vor den feindseel.
10
Berlinern zu hüten, so hast Du eben so viel und vielmehr noch mehr Ursache vor
11
ihren orthodoxen und zelotypischen Gegnern auf Deiner Hut zu seyn. Man
12
kommt mit leichter Mühe so weit, daß man
thun muß
, was man nicht
13
laßen kann oder will. Zum letzten mal liebster Jonathan u Gamaliel Fritz,
14
laß Dich nicht von den literarischen Renommisten hinreißen, und mische Dich
15
nicht als
Laye
in die Händel und Amtsgeschäfte der Schriftgelehrten. Sey
16
weder ihr
Pendant,
noch Pedant – weder ihr
Patron
noch Sykophant.
17
Ob die Demuth eine Kostgängerin der Eitelkeit, oder diese bey jener freye
18
Kost genießt. Die Anonymität und Pseudonymität können beyde eben so
19
unschuldig als zweydeutig seyn. Was es mit Gevatter
Asmus
Anstellung bey
20
der Bank für ein Bewandnis hatte, möchte ich gern genauer wißen.
Nexus
21
rerum
und
idearum
ist nicht einerley;
bürgerl. u moralische
22
Rechtmäßigkeit eben so verschieden.
23
Der liebe gute
Pericles
war mit
Seuthes
sehr zufrieden, auch mit des
24
des Marées
politischen Urtheilen. Ich halte es mit dem heil.
Confucius
–
25
Que celui qui est
empereur
, n’entreprenne de changer rien dans
26
les
Rites
et dans la
Musique
s’il n’a pas la vertu des Sages; et que
27
celui qui est
sage
se garde bien de
vouloir
changer rien dans les
28
Rites ou dans la Musique, s’il n’est Empereur, ni
Juste milieu
ou
29
Milieu immuable
.
30
Vergiß nicht für das mir zugedachte Exemplar des Seuthes Sorge zu
31
tragen. Ich habe es nicht recht lesen können und nur mit dem allgemeinen
32
Eindruck für lieb nehmen müßen, und halte es nicht immer mit denen ich
33
sympathisire, weil ich Freunden nicht zu viel traue so wenig als mir selbst
et ab
34
hoste consilium
–
35
Ich erwarte mit Hans Zimmermanns Schrift die eben in Angelmodde
36
gelesen wurde.
Dem Fragment des Alexis
II
habe ich den meisten Aufschluß
37
zum Character des Haagschen Sokrates zu danken, dem der hyperborëische
S. 477
so entgegen gesetzt ist als die beyde Pole des Magneten und unserer
2
Erdkugel
– Ich machte aus unsern
Differentia specifica
der
Diotime
kein
3
Geheimnis. Die vierte Art des Ruhms
d’amuser le peuple
wäre mehr nach
4
meinem Geschmack und überlaße gern
la gloire la plus solide d’eclairer les
5
hommes, la plus douce des les faire du bien et la plus riche et la plus
6
feconde de les defendre des maux – aux etres
actifs qui veulent
,
7
et a leur essence
active et voulante
. Les petites tetes, les nonante
8
et
9 statt 20 × 4 + 19
les 1000 vertus et proprietes dans 2 gouttes, qui se
9
confondent sans autre changement que la
duplication
de leur
10
energie,
ohne die übrigen Idiotismen zu überzählen. Der
Schein
hängt nicht
11
von uns, sondern von andern ab;
mais il faut que nous donnions l’etre.
12
Die Natur ist allerdings
un ouvrage de Penelope;
und ohne
Principes
13
destructeurs
giebt es wenige
generatio
nen.
Vnius corruptio, alterius
14
generatio.
Die Gerechtigkeit ist bey Fürsten wie die Wahrheit bey Philosophen.
15
Ohne Gerechtigkeit giebt es keine Existenz – ist allerdings wahr, aber nur in
16
einem Sinn, der dem Verfaßer nicht eingefallen ist. Die
Themis
eine Tochter
17
des Himmels u der Erde welche von dem stupiden Böotien geglaubt und
18
angebetet wird scheint mir
evidenter
als die Tochter des Jupiters und der Liebe.
19
Wenn Cupido darunter verstanden wird, so weiß ich wie eine Tochter des
20
Ganymedes
und Donnerers und diese neue Knabenschänderey fruchtbar
21
geworden,
le sentiment
d’in
di
vidualité
de l’ame avec
l’étendue
22
figurée et determinée
du corps – mais il est fait naturel que
23
ceux qui sont les plus capables des sensations sublimes sont rarement
24
les mêmes
qui y
reflechissent le plus.
–
25
Ich habe mich umsonst über einige Anmerkungen über
l’homme et ses
26
rapports
gefreut, werde kaum im stande seyn, weder den Text noch die
27
Randgloßen auszustehen und auszuhalten. Wie wahr heißt es
p.
24 des gedruckten
28
corporis delicti: Ce qu’on a devoué souvent du nom de Philosophie n’est
29
proprement que la lie, qui demeure après l’effervescence de
30
l’imagination.
31
Kantens Kritik der practischen Vernunft habe angesehen u das Exemplar
32
der Fürstin, ein paar Stunden drauf zum Buchbinder befördert, weil ich
33
weder den Elementen noch der Methode gewachsen bin, die neue Ausgabe noch
34
nicht habe lesen können und die alte gänzl. vergeßen habe. Die Noten des
35
seel. Witzenmann habe gelesen. Du hättest es nicht zugeben sollen daß er Dich
36
zum Stifter einer Secte und besondern Philosophie gemacht, die er nach
37
Deinem Namen getauft und wie die Vorhaut der Beschneidung entgegen gesetzt
S. 478
hat. Als
paterfamilias
hattest Du
Censor
desjenigen seyn sollen, was
sub
2
vmbra alarum
und auf Deinen Gränzen geschrieben, wenigstens nicht selbst
3
Gevatters Stelle oder Pflegvater des Kindes seyn sollen und es mit einem
4
Attestat
dem
Publico
ankündigen. Der Spatzierweg mit Franz hat mir
5
wohl gethan, so viel Ueberwindung ich auch nothig hatte mich dazu zu
6
entschließen, weil mein
famulus
zum Anziehen fehlte. Ich warte mit Schmerzen
7
auf die Widerkehr der Fußgänger und das, was sie mir mitbringen werden.
8
Ich lese jetzt die
Histoire des Atlantes
oder
Histoire des hommes
.
In
9
der Fürstin Bibl. fehlt der erste Theil den ich zum Glück bey Sprickmann
10
gefunden. Kannst Du mir den Namen des Verf. nennen, so wäre es mir lieb,
11
aber mit Zuverläßigkeit. In
Court de Gebelin
habe ich
notre
Histoire
12
ancienne
angeführt gefunden – Sollte es daßelbe Buch seyn und ist es ein
13
gemeinschaftl. Werk wie
Buffons Histoire dela Nature
mit
Aubenton?
Er
14
redt von einem
Peuple primitif
wie jener von einer
Langue primitive
–
15
den 17 des Morgens.
16
Eben erhalte die 2 Exempl. der Sw. Uebersetzung und danke in meinem
17
und der Theilnehmerin Namen, die mir
gestern Deine Briefe nicht
18
zurück
geschickt und sich über eine schlaflose Nacht beklagt haben soll. Ich
19
zweifele
daß ich morgen wider hinfahren werde, weil sie übermorgen selbst
20
hereinkommen wird, und ich nicht weiß wo ich die Augenblicke hernehmen soll diesen
21
Monath aus meinem Wust heraus zu kommen, mit dem ich mich
ab extra
u
22
intra
überlade und überladen werde.
Cura vt valeas,
laß Deine Hauptsorge
23
seyn. Ich predige und bin leider! taub.
Das Leben ist mehr denn die Nahrung,
24
und doch freß und sauf ich zum Nachtheil meiner Gesundheit, die immer mehr
25
unterdrückt als befördert wird. Es ist ein wahres Kreutz, zu thun was man
26
haßt und haßen zu müßen, was man selbst thut, und diesen Widerspruch mit
27
sich herum zu schleppen.
Ich suche wie ein Narr nach den Abschriften des
28
Circularbriefwechsels und weiß nicht wo selbige geblieben sind. Mein letzter
29
Trost ist, daß
Frantz
sie haben wird.
C’est un gouffre
– Er soll mir heute
30
suchen, es mag
wie
ihm so sauer werden als es mir wird. Ich habe Dir
31
doch nicht diese Abschriften mitgegeben – lieber Jonathan. Vielleicht werde
32
ich von dieser Angst und Unruhe durch
mein treues Ebenbild de
s
r
33
Unordnung, Scrupulosität und Leichtsinnigkeit befreyt.
In der Aergernis hast Du
34
das
alberne
und
tückische
Ding gelesen. Ich hoffe darüber zu lachen
35
so sehr ich den
Einfluß
alberner und tückischer Dinger fürchte, die den
36
Schein für sich haben, und im Grunde nichts sind, oder den Schein wider sich
S. 479
haben und für nichts geachtet werden. Die Berliner werden sich die
2
Galgenfrist zu Nutz machen und selbige zu Verbeßerung Ihres Plans anwenden
3
können. Wenn Dein
Correspondent
stutzig gemacht worden, wird es
4
dem großen Haufe nicht ärger gehen – und sind die Demagogen oder
5
Ochlogogen nicht gleicher Meinung.
Nil admirari – nil aspernari:
sondern mit
6
Galgenvögeln verständig und schlau umgehen nicht wie ein wütender Steine
7
und Prügel gegen sie brauchen,
sondern
die Lockpfeife um sie zu
amusi
ren
8
und sicher zu machen. An ihrer Aufklärung, Bekehrung,
p
ist nicht zu denken, und
9
sie verdienen diese unerkannte Wohlthat nicht. Dadurch geben wir Ihnen
10
neue Waffen, mit denen sie dem Himmel sey Dank! nicht umzugehen wißen.
11
Uebereilung
und
Leidenschaft
war die Qvelle des
12
Misverständnißes von der einen Seite und wird es wahrscheinlich auch von der andern
13
seyn. Was Du
dort
abscheulich nennst, komt mir gantz natürl. und beynahe
14
rechtmäßig vor. Es ist
abscheulich
, wenn Wahrheit u Unschuld von ihren
15
Bekennern mishandelt wird. Kurz, wir sind alle Sünder und mangeln des
16
Ruhms, den wir uns anmaaßen und zu besitzen einbilden, und ich finde hier
17
keinen Unterscheid, welcher der Rede werth ist.
Urbanität und Rusticität
18
sind lange keine Humanität, an deren gerechten und unwandelbaren
19
MittelPunct mich halte. Das
Suum cuique
ist die Grundlage aller Existenz – und
20
aller Pflicht, aber das
Suum cuique
zu bestimmen nicht unsere Sache, aber
21
leider! ein allgemeiner u herrschender
Misbrauch
22
Je weniger u seltener ich schreibe, desto eher kannst Du mich Herzenslieber
23
Fritz Jonathan! in Person erwarten. Gott gebe nur, daß wir uns gesund
24
und zufrieden einander widersehn. Ich habe Deinen Rath und Beyhülfe
25
höchst nöthig um
reisefertig
zu werden. Die Haare stehen mir zu Berge,
26
wenn ich daran denke, wie ich es anfangen soll. Wäre ich nur erst wider
27
unterwegs
nur!
so müste ich
nolens volens plus vltra
– davon mündl.
28
mehr! Ursache hast Du wohl nicht meine Ankunft zu wünschen, aber desto
29
mehr wird es kosten die Abreise zu befördern und meiner los zu werden. So
30
geht es mit allen unsern Wünschen – wie uns selbst. Staub, Erde und Asche!
31
Was ist der Mensch, daß Du sein gedenkst und des Menschen Kind, daß Du
32
Dich seiner annimmst – Engel und Freunde zu unseren dienstbaren Geistern
33
macht.
Ist unsere Eitelkeit oder unsere Demuth Blendwerk? Wer nährt
34
beyde – wozu sind beyde nöthig und nützlich, wie Himmel und Erde, zu
35
unserm Daseyn?
Der Manichäismus und Atheismus liegt in unserer Natur
36
und in unsern Misverständnißen derselben – das Gegengift ist der Geist
37
unsichtbarer und unerkannter Wahrheit, die durch das Christentum erhöht
S. 480
worden, wie die eherne Schlange vom Gesetzgeber Moses. Wem um den Geist
2
zu thun ist, der kehrt sich weder an die
Materie
,
noch
Form
der
3
Wahrheit;
die Kräfte und Wirkungen derselben, nicht die Elemente und
vehicula
4
sind die Gegenstände der Erfahrung und Mittheilung oder Fortpflanzung.
5
Mein Kopf schwärmt und schwindelt ärger wie Deiner. Ich muß aufhören
6
unter den herzlichsten Seegenswünschen Dich bald wieder hergestellt zu sehen
7
und im vollen Genuß Deiner lieben Schwester Kinder u Freunde. Lebe wohl
8
und verzeih mein abscheuliches Geschmier. Ich weiß selbst nicht
wie
mir zu
9
Muth ist. Alles befindt sich hier wohl und denkt fast tägl. an Pempelfort.
10
Erfreu uns
nächstens
mit guten Nachrichten von Deiner Erholung und Ruhe!
11
Dein alter erschöpfter Johann Georg
12
Ich kann nicht begreifen, wo Deine Abschriften der Circular Briefe
13
hingekommen sind. Franz hat gesucht und findet nichts unter seinen Sachen.
Du
14
hast sie doch wohl nicht mitgenommen
. Die Fürstin hat selbige
15
erwartet ohne sie erhalten zu haben.
Pericles
hat sie gehabt aber den Tag
16
drauf gleich nach Hause geschickt. Auf diesen Umstand besinne mich, weil er
17
Eindruck auf mich machte. Der einzige Ausweg ist noch, daß Du selbige
18
vielleicht der Fürstin hast geben wollen, und sie unter Deinen Sachen zurück
19
gekommen sind. Ich kann heute unmögl. schreiben. Du wirst mir verzeihen,
20
daß ich versprochen habe und nicht beßer erfüllen kann. Gott sey mit uns
21
allen!
22
den 18
Dom. Trinit.
23
Ich habe mich an Zimmermann über Fr.
gesund
und
wider wacker
24
gelesen, und eine Suppe zum Frühstück verschlungen die Franz für sich
25
bestellt hatte und den Appetit dazu verloren.
Sic vos non vobis
– Mein
26
gestriger
Paroxysmus
kam vielleicht von einer Arbeit her die ich über einige
27
von uns. christl. Aspasia in den Sokr. Denkw. angestrichene Stellen – an
28
denen ich gestern einen großen Bogen verdorben immer von neuem anfieng
29
ohne von der Stelle zu kommen. Zimmerm. Anhang uber seine eigene
30
Krankheit u ersten Unterredung ist mir eben so wichtig als die Nachrichten vom
31
Könige. Man muß den Verf. der
Einsamkeit
kennen und seinen Held
32
studirt haben um alles
cum grano salis
zu verstehen mit einem breiten Rande
33
zu Gloßen. Dein
von Leßing gesagtes Wort
kommt auch vor; aber
34
das Gemälde des Geheimniskrämers übertrift die Carricatur des armen
35
Oberreit, der ihm noch immer wie ein Stein auf dem Herzen liegt. Nur
36
wünschte ich den Eindruck
wo
der Elise mit Deinem Urtheil vergleichen zu
S. 481
können. Meister Thomas der Schuster in Berlin hat mich an seinen
2
Zunftgenoßen einem Herzens freunde des
Crispus
erinnert, bey dem ich mir ein
3
Paar Stiefel zur Reise machen lies und
Camper
zu
r
m lesen gab. Wenn
4
Sack ein
Naturkundiger
ist, so mag es mit dem Glauben an Gott den
5
Vater nicht – der zweite soll ehmals ein Socinianer gewesen seyn – aber in
6
Ansehung Tellers bin ich mit dem Meister Thomas vollig einstimmig.
Des
7
Salomons in Norden
Seele
war sein
Name
. Er irrte also nicht im
8
Begriff sondern nur im Worte
.
Er liebte das Christentum wie die Medicin
9
und wünschte sich einen
Artzt
deßen Mittel auf der Stelle wirkten wie ein
10
Blitz und in einem
guten Wort
bestanden, das aus seinem Munde gieng.
11
War wieder ein
Nahme
schuld, daß er die
Sache
nicht verstand. Ich bin
12
heute nicht nach Angelmodde gegangen und will die Fürstin lieber morgen hier
13
sehen, wenn Sie Wort halten kann. Nun kann ich unsers Reich. Nachricht
14
von dem Verdruß der Berl. beßer verstehen aber
des Marees
von einem
15
agyptischen
Namensvetter schreibt vom Kayser deines Melodrama B. F.
16
Köhler Döbel und G H. Lückenwald sind lauter Hieroglyphen für mich aus
17
denen ich nicht
rime
noch
raison
heraus bringen kann.
18
Ich lege also die letzten Beyl. mit an nebst den 2
Briefen des Lav
.
19
und der
Corresp
des
Necker
um alles
in saluo
zu bringen. Beynahe
20
besorge ich daß alle meine Unruhe wegen der verlornen Abschriften des
21
episto
la
rischen
Cycli
auf einer Täuschung meiner Erinnerungskraft beruht.
22
Gott gebe es zu meiner Zufriedenheit; denn wenn ich was suche ohne es
23
finden zu können, fühle ich eine Gahrung in meinen Lebensgeistern, die mich
24
beynahe zur Verzweifelung bringt. Habe ich die Abschriften wirkl. zum
25
Behalten bekommen oder hast Du
selbige
mir blos zum
Lesen geliehen
26
und selbige zurück erhalten oder selbst zurückgenommen. Beruhige und
27
besänftige mich drüber; denn mein Kopf ist eine
Laterna magica.
28
Wenn Du gute Maasregeln, lieber Jonathan Fritz zu meiner Heimfahrt
29
nimmst,
so werde ich meinen alten Freund Häfeli, den alten Elias
facie ad
30
faciem
kennen lernen, und vielleicht seinen Bruder im Calvin den Vater des
31
lüderl.
Renegat
en und Apostaten Penzel; auch möchte ich gern Pleßing
32
Vater u Sohn in Wernigerode sehen. Die Marschroute ist eine wahre
33
Qvadratur des Cirkels, die ich mir von Dir verspreche.
Bringst Du die ins
34
reine,
eris mihi magnus Apollo
und die
Phyllis
der Metaphysik soll
35
Dich krönen zu ihrem Statthalter und
vicarius
mit einem Schleier u einer
36
Nachthaube, wie die nordischen Magi gemahlt werden.
Souvenez vous,
37
mon cher Jonathan d’un mechant Vieillard et de sa famille comme je
S. 482
me ressouvien
s
de Vous, de vos dignes soeurs et de vos chers enfans et
2
de tous nos amis communs.
Ich habe ein
P. S.
aus der
Vulgata
zu den
3
4
Motti
im Stambuch der Prinzeßin zusammen geflickt, das ich selbst nicht
4
verstehe und daher auch nicht auszulegen im stande bin. Ich wills Dir
5
abschreiben. Es macht und vertreibt die Kopfschmerzen wie der heil. Matthias
6
das Eis giebt und bricht, nimmt oder bringt.
7
Si q. Sages de ce monde sont parvenus par leurs Etudes dela Nature
8
(speculum in aenigmate) à la vision d’un Etre des Etres de raison,
9
d’un Maximum personifie: Dieu a revelé (facie ad faciem) l’humanité
10
de Sa vertu et de sa Sagesse dans les Origines etymologiques de
11
l’Evangile Judaeis Scandalum; Graecis Stultitiam 1 Cor I. 23. 24. XIII. – –
12
Vetera transierunt ecce facta sunt omnia noua 2 Cor
V.
17 per Eum qui
13
dixit: Ego sum
Α
et
Ω
Apoc. XXI. 6. Prophetiae euacuabuntur, Linguae
14
cessabunt, Scientia destruetur, euacuabitur quod ex part
e
est – Non
15
est
Judaeus
neque
Graecus
: non est servus neque liber: non est masculus
16
neque femina.
OMNES-UNUS
Gal. III. 28.
17
Auf besonderem schmalen Zettel:
18
DEVS erat verbum – et
vita erat lux
hominum, quam tenebrae
19
non comprehenderunt et mundus per IPSUM factus non cognovit.
20
Vnigenitus in sinu Patris, Ipse enarrauit contubernalibus terrae
filiis –
21
Ip
s
e
didicit
ex iis quae
passus
est Ebr. V. 8.
Παθηματα,
vera
22
μαθηματα
et
Magna Moralia
Sicuti aliquando – ita et
nunc –
Rom.
23
XI. 30, 31.
24
L’hypocrite renversé, le Sophiste arctique Philologus seminiverbius
25
Act. XVII. 18.
Π
et
Ψ. λοσοφος
farcicruci
/
farci
fer Metacriticus bonae spei et
26
voluntatis
, Pierre à deux poles – et parfois frayeur vice
cotis,
exsors
27
ipse secandi
– – – –
à Munster ce
17 May
la veille du Dimanche de
28
la S. Trinité 88.
29
Fehlte noch des
Sancho Pancha
Sprichwort u 1
Cor
9. 10. doch was fehlt
30
nicht alles auf der Welt.
Ergo abeat cum ceteris erroribus!
31
Arger
hab ich es nicht machen können um die neue französische Schnitzer
32
aus den
Etudes de la nature
gut
zu machen.
Vale et faue Democrito
33
et Heraclito Tuo.
34
Adresse:
35
HErrn / Geheimen Rath
Jacobi
/ zu /
Düßeldorf
.
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 416–424.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 651–663.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 7: November 1787 bis Juni 1788. Hg. von Jürgen Weyenschops, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2012, 219–227.
ZH VII 474–482, Nr. 1162.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
474/7 |
nah ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nahe |
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474/12 –14
|
Die […] Deinen] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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474/17 |
Duplick ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Duplik |
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474/23 |
τεταμενην, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: τεταμενην |
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474/26 –38
|
Das […] stopfen.] |
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert. |
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474/29 |
der kleine ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: dem kleinen |
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475/5 –8
|
Deine […] vor.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen; „alte Geschichte“ und „neuem Balge“ doppelt unterstrichen. |
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475/11 –14
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Du […] brechen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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475/15 –476/2
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Ich […] verstehst.] |
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert. |
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475/20 –21
|
Des […] seyn.] |
In der Handschrift zusätzlich von Jacobi unterstrichen. |
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475/37 |
Ueberlieferung ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Überlieferung |
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476/3 –8
|
Verschleudere […] gegraben haben.] |
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi teilweise unterstrichen, teilweise am Rand markiert. |
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476/36 –477/2
|
Dem […] unserer Erdkugel] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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477/21 |
d’in di vidualité |
Geändert nach der Handschrift; ZH: d’individualité |
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477/24 |
qui y ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: qu’y |
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478/1 |
Censor |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Censor |
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478/23 –27
|
Das […] schleppen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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478/32 –33
|
mein […] befreyt.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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479/5 –10
|
Nil […] wißen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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479/7 |
sondern ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: son. dern |
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479/17 –21
|
Urbanität […] Misbrauch] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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479/21 |
Misbrauch ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Misbrauch. |
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479/33 –35
|
Ist […] Daseyn?] |
In der Handschrift zusätzlich von Jacobi unterstrichen. |
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479/33 –480/11
|
Ist […] Georg] |
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert. |
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480/2 |
Materie , ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Materie |
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480/3 –4
|
die […] Fortpflanzung.] |
In der Handschrift zusätzlich von Jacobi unterstrichen. |
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480/8 |
wie |
Geändert nach der Handschrift; ZH: wie |
|
480/10 |
nächstens ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nächsten s |
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481/6 –10
|
Des Salomons […] gieng.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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481/15 |
agyptischen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ägyptischen |
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481/21 |
episto la rischen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: epistol ar ischen |
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481/29 |
nimmst, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nimmst |
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481/33 –36
|
Bringst […] werden.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
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482/3 |
Motti |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Motti |
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482/12 |
V. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: V |
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482/15 |
Graecus |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Graecus |
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482/15 |
Judaeus |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Judaeus |
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482/16 |
OMNES-UNUS ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: OMNESUNUS |
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482/18 |
vita erat lux ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: verbum erat lux |
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482/20 |
filiis – ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: filiis |
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482/22 |
nunc – ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nunc |
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482/25 |
farcicruci / farci |
Geändert nach der Handschrift; ZH: farci / cruci |
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482/25 |
Π ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: II |
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482/26 |
cotis, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: cotis |
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482/27 |
– – – – ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: – – – – – |
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482/35 |
HErrn […] Düßeldorf.] |
Hinzugefügt nach der Handschrift. |