523
3/24
Dom II. p. Epiph.
2. Sonntag nach Epiphanias
Königsberg
Dom II. p. Epiph.
oder
25
Geburtstage
Das Krönugsfest erinnerte an die Krönung Friedrichs I. im Königsberger Schloss am 18. Januar 1701.
am Geburtstage der preussischen Krone, 1778.
26
Innigstgeliebter Freund Lavater, Sie beten um Muth, nicht unter der Last
27
der Geschäfte zu sinken – und mir vergeht aller Muth, unter der Last
langer
28
Weile
. Gleichwohl dient selbige mir zum Schlüssel der heiligen Laune im
29
Predigerbuche; mehr Ahndung als Nachwehen.
30
Es ist ungefähr ein Jahr, daß ich den einzigen Dienst im Lande, den ich
31
mir gewünscht, und auf eine sehr eindrückliche und recht ausgesuchte Art,
32
erhalten; aber seitdem bin ich von dem Genusse meines Glücks mehr als
33
Josua
Hebr 4,8
jemals entfernt gewesen. So ging es den Juden, die Josua zur Ruhe brachte,
34
ohne zu wissen,
daß noch eine Ruhe vorhanden ist dem Volke Gottes
.
S. 4
Ich begreife selbst nicht, wie meine Gesundheit bey der sitzenden Lebensart,
2
bey
dem starken Appetit zu essen und zu trinken und zu schlafen, bestehen kann.
3
Bey aller dieser Unthätigkeit eines sehr sympathetischen Zuschauers thun mir
4
manchen Abend die Knochen so wehe, als irgend einem Ihrer olympischen
5
circensischen Klopffechter
Schaufechter auf dem Zirkus
Kämpfer oder unserer circensischen Klopffechter, daß ich manchmal kaum die
6
Nachtwächter-Stunde abwarten kann, sondern mich mit vollem Halse in die
7
O wie gut …
aus dem Kirchenlied Christian Friedrich Richters „Es kostet viel ein Christ zu sein“ (Str. 8,
Quandt,
Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder
, S. 214)
Federn werfe mit einem: O wie gut wird sich’s nach der Arbeit ruhn! wie
8
wohl wird’s thun!
9
Auch mir ist es bald wie ein Traum, bald ein Geheimniß oder
trait de
10
génie,
wodurch ich Ihnen, liebster Lavater,
so offenbar
geworden – und so
11
tief verborgen meinen
συμψύχοις
bleibe.
12
Beylage oder Denkmal
Hamann meint wohl die Zitate-Sammlung aus seinen Werken unter dem Titel „Vermischte Gedanken über Genie, Geniesprache, Menschengestalt“ in den
Physiognomischen Fragmente
, Bd. 4 (Textband), S. 96–99, vgl.
HKB 520 ( III 395/34 ). – Mglw. meint er aber auch, weiter zurückreichend, sein Porträt samt Beschreibung im
Tafelband
der
Physiognomischen Fragmente
, Bd. 2, vgl.
HKB 467 ( III 240/34 ); zu Hamanns vorheriger Irritation bzgl. der „Eselsohren“ vgl.
HKB 452 ( III 196/12 ).
stätig … Sporn
vgl.
Adelung, Bd. 4, Sp. 222, s.v. Sporn
: „Ein Pferd heißt spornstätig, wenn es stätig wird, d. i. nicht von der Stelle will, so bald es die Spornen fühlet.“
Ihre
Beylage
oder Denkmal hat mich
stätig
gemacht, weil der
Sporn
13
eben so stark als das
Gebiß
gewirkt;
Sporn
, Ihre gute Meynung oder
14
Ahndung von mir zu erfüllen;
Furcht
, als ein Sünder gerichtet zu werden,
15
Wahrheit Gottes …
Röm 3,7
gesetzt auch, daß die Wahrheit Gottes dadurch herrlicher würde zu seinem Preise.
16
Mir Ignoranten …
Vgl.
HKB 520 ( III 396/36 ); Lavater verarbeitete diese Formulierung aus Hamanns Brief in seiner Schrift
Pontius Pilatus
, Bd. 1 (1782), S. 11f.
Prediger des alten Bundes
Meint im zeitgenössichen Sprachgebrauch Mose (vgl. etwa
Basedow: Lehren der christlichen Weisheit und Zufriedenheit (1780), S. 487)
)
Mir Ignoranten ist, nächst dem Prediger des alten Bundes, der
weiseste
17
Schriftsteller und dunkelste Prophet
, der Executor des neuen Testaments,
18
vox populi vox Dei
dt. Die Stimme des Volkes ist Gottes Stimme (antike Sentenz), vgl.
Hamann,
Kleeblatt
, N II,171/18.
Träume seiner Gemahlin
Mt 27,19
Pontius Pilatus. Ihm war
vox populi vox Dei,
ohne sich an die Träume
19
Quod scripsi, scripsi
Joh 19,22
seiner Gemahlin zu kehren. Sein güldenes:
Quod scripsi, scripsi
ist das
20
Mysterium magnum
1 Tim 3,16
was ich geschrieben … regiere du!
Kombination des „Quod scripsi, scripsi“ mit der 10. Strophe des Kirchenlieds „Der du bist A und O“: „was ich gelebet hab, das decke zu; was ich noch leben soll, regiere du“ (
Quandt,
Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder
, S. 564).
Mysterium magnum
meiner epigrammatischen Autorschaft: was ich geschrieben
21
habe, das decke zu; was ich noch schreiben soll, regiere du!
22
Moses Mephiboseth
Moses Mendelssohn
; Mephiboseth ist eine Namensvariante von Merib-Baal, dem Sohn Jonatans, vgl.
2 Sam 21,7
; zu Mendelssohns Besuch in Königsberg vgl.
HKB 509a ( III 470/3 ).
Auf unsern lieben Moses Mephiboseth zu kommen, so ist sein Besuch die
23
einzige Freude dieses letzten Sommers für mich gewesen. Ich hatte mir ein
24
Gesetz gemacht, ihn alle Tage zu besuchen, und habe mehr als
eine
süße
25
philosophischen Schriften
Mendelssohn,
Philosophische Schriften
Stunde mit ihm zugebracht; auch seine philosophischen Schriften bin ich
26
während seines Hierseyns durchgegangen, und mit erneuertem Vergnügen Ihren
27
beiderseitigen platonischen Briefwechsel. Es war meiner Neugierde daran
28
gelegen, seine Denkungsart gegen Sie auszuholen. Er lobte mir sehr, daß Sie
29
Heimat
Mendelssohn bat 1775 Lavater um Hilfe für die bedrängten jüdischen Gemeinden in Lengly und Endingen, vgl.
Moses Mendelssohn’s gesammelte Schriften, Bd. 3 (Leipzig 1843),
S. 106.
sich um ihn durch Ihre Vermittlung für seine Brüderschaft in Ihrer Heimat
30
leichtsinniger Einfall … Gerücht
Vmtl. im Zusammenhang von Mendelssohns 1775 verfasstem und unpubliziert gebliebenem Essay, der Lavaters
Physiognomische Fragmente
kritisch behandelt.
Nicolai
zitierte daraus in seiner kritischen Rezension der
Physiognomischen Fragmente
in der
Allgemeinen deutschen Bibliothek
, Bd. 29/2, S. 386f („Ein trefflicher Mann urtheilet schriftlich von diesem Werke […]“). – 1778 steht Mendelssohns Essay im Zentrum der Lavater-Lichtenberg-Kontroverse: Im März 1778 erscheint eine Kurzfassung des Essays im
Deutschen Museum
, S. 193–198, angekündigt von
Zimmermann
als Widerlegung von Lichtenbergs Angriffen gegen Lavater in
Ueber Physiognomik; wider die Physiognomen
, vgl.
Altmann:
Moses Mendelssohn
, S. 317–322.
verdient gemacht hätten, vermuthete aber, daß ein leichtsinniger
Einfall
,
31
womit er ein gewißes
Gerücht
beantwortet hätte, und der Ihnen vielleicht wieder
32
hinterbracht worden, Sie kaltsinnig gemacht haben möchte.
33
Da Ihnen meine Bestrafungen nicht unangenehm sind, liebster Lavater, so
34
Mosen und die Propheten
Lk 16,29
hat der Erfolg gezeigt, daß ein Mann, der Mosen und die Propheten hatte,
35
Bonnet
Im Vorwort von Lavaters
Bonnet-Übersetzung
forderte er
Mendelssohn
1770 dazu auf, zu Bonnets Schrift Stellung zu beziehen und sie zu widerlegen oder andernfalls zum Christentum überzutreten; Mendelssohns taktvolle Antwort und Zurückweisung dieser Forderung in seinem offenen Brief an Lavater verschaffte ihm weitverbreitetes Ansehen und brachte Lavater dazu, öffentlich um Entschuldigung zu bitten.
Ihrem Bonnet überlegen seyn mußte; und es war daher ziemlich abzusehen,
36
daß Sie aus dem ganzen Handel
nicht so rein abkommen konnten
, als Ihr
37
Widersacher.
S. 5
Aber hievon ist nicht die Rede mehr; sondern nur davon, daß dieser Mann
2
Salz und Licht
Mt 5,13f.
wirklich ein Salz und Licht unter seinem Geschlecht ist, und all sein Verdienst
3
unser einer
1 Mo 3,22
und Würdigkeit verloren haben würde, wenn er
unser einer
geworden wäre
4
wie Adam.
5
Ihr
Durst
ist heute abermals mein Frühstück gewesen.
Erfahrungen
,
6
wie
Einsichten
, sind neue
Prüfungen
, geben zu neuen
Zweifeln Anlaß
.
7
Passibilität … neuesten Theorie
Eine ‚neueste Theorie‘ zu dem Thema um Aktivität und Passivität nicht ermittelt; vgl. aber die Aufnahme dieses Themas im vierten Band der
Physiognomischen Fragmente
, S. 117 und 228, an dem Lavater gerade arbeitete (siehe
HKB 524 ( IV 9/33 )).
Unsere
Passibilität
steht immer im Verhältniß mit unserer
Actibilität
8
Εμαθεν ἀφ’ ὧν ἔμαθε
ἔμαϑεν ἀφ'ὧν ἔπαϑε, dt. er lernte aus dem, was er erlitt,
Hebr 5,8
; „ἔμαθε“ mit μ anstatt π wohl ein Druckfehler bei Roth oder eine Verschreibung Hamanns.
nach der neuesten Theorie über den Menschen –
Εμαθεν ἀφ’ ὧν
ἔμαθε
, Hebr.
V.
9
4
. gehört zur Nachfolge, die Kinder von Bastarden unterscheidet. Wenn dem
10
Satan
Mt 13,25
Satan daran gelegen ist, unsern Glauben zu sichten, wie den Weizen, so ist es
11
unseres Hohenpriesters Sache, für uns zu bitten, und durch unsere
12
Vollendung die
Brüder
zu stärken.
13
Der Unglaub’ …
Aus der 6. Strophe des Kirchenlieds „Mein Geist, o Herr, nach dir sich sehnet“, vgl.
Quandt,
Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder
, S. 679
Der Unglaub’ ist nur nicht zufrieden,
14
Der Eigenwill’ sieht sauer aus,
15
Gott halte, wie er wolle, Haus –
16
„Bis zur Lästerung, Bedürfniß –
Etwas
, das alle
Zweifelwelten
aufwiegt.“
17
Iß dein Brod … mit deinem Weibe
Pred 9,7–9
Iß dein Brod mit Freuden, trink deinen Wein mit gutem Muth, denn dein
18
Werk gefällt Gott. Brauche des Lebens mit deinem Weibe, das du lieb hast,
19
so lange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat,
20
so lange dein eitel Leben währt.
21
Alle Ihre
Zweifelwelten
sind eben so vergängliche Phänomene, wie
22
unser System von Himmel und Erde, alle leidige Copir- und Rechnungs-
23
Maschinen mit eingeschlossen.
Sein Wort
währt. Sie haben Recht, liebster
24
Lavater, es für ein
festes,
prophetisches
Wort zu bekennen, und thun wohl
25
daran, auf dieses scheinende Licht in der Dunkelheit zu achten, bis der Tag
26
anbreche. Eher ist an keine Gewißheit oder Autopsie zu denken; und Gewißheit
27
hebt den Glauben, wie Gesetz Gnade auf.
28
Sie
wissen
, was die
Erfahrung
, nach der Sie schmachten,
hindert
. Haben
29
Sie das Herz oder Vertrauen, mir mitzutheilen, was Sie wissen. Gesetzt, daß
30
diese Hindernisse wirkliche Berge währen, so halte ich diese Berge für den
31
rechten Ort
des wunderthätigen Glaubens, den jeder an sich selbst zu
32
erfahren im Stande ist. Denn das Himmelreich, gleich Ihrem
innern
33
Menschen
, verabscheut alles, was
Aufsehen
macht, was nicht
hilft
; ist nichts als
34
Geist und Wahrheit
Joh 4,23
Geist und Wahrheit
–
35
brennenden Busch
2 Mo 3,2
Was Moses am brennenden Busche sah, der brannte ohne zu verbrennen,
36
das ist für uns das
Judenthum
und
Christenthum
, und der Stifter beider
37
Gott der Todten …
Mt 22,32
ist nicht ein Gott der Todten, sondern der Lebendigen.
S. 6
Wenn Sie in Ihrem Glauben
gegründet
worden, warum sollte es Ihnen
2
Wird die Welt …
Anspielung auf die letzte Strophe des Kirchenlieds von J. Burkhard „Mache dich mein Geist bereit“; vgl.
Quandt,
Neue Sammlung Alter und Neuer Lieder
, S. 293f.
leid thun,
geredet
oder
geschrieben
zu haben? Wird die Welt mich gleich
3
vernichten, will mich auch selbst Zion richten, – singen alle unsere Glaubensbrüder.
4
Ihnen von Grund meiner Seele zu sagen, ist mein ganzes Christenthum,
5
fetten oder magern
1 Mo 41
(ich mag zu den fetten oder magern Kühen Pharaons gehören) ein Geschmack
6
an
Zeichen
, und an den Elementen des Wassers, des Brods, des Weins.
7
Hier ist Fülle für Hunger und Durst – eine Fülle, die nicht bloß, wie das
8
Gesetz, einen Schatten der
zukünftigen
Güter hat, sondern
αὐτὴν τὴν εἰκόνα
9
Spiegel im Räthsel
1 Kor 13,12
τῶν πραγμάτων,
in so fern selbige, durch einen Spiegel im Räthsel dargestellt,
10
gegenwärtig und anschaulich gemacht werden können; denn das
τέλειον
11
liegt jenseits. Unsere Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer,
12
τότε δὲ πρόσωπον …
dt. […] dann aber [erkenne ich] von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin;
1 Kor 13,12
. – „πρότωπον“ und „ἐπιγνώσθην“ wohl Druckfehler bei Roth oder Verschreibungen Hamanns
Stück- und Flickwerk –
τότε δὲ πρόσωπον προς
πρότωπον
, τότε δὲ
13
ἐπιγνώσομαι καθὼς καὶ
ἐπιγνώσθην
.
14
Sehen Sie meine Luftstreiche, die ich thue, für ein Selbstgespräch an.
15
Ungeachtet ich aus Haß und Liebe zusammengesetzt bin, sind doch Freunde und
16
Feinde in meinen Augen nichts als
ein
Kuchen; denn kein Mensch kennt
17
weder die Liebe noch den Haß irgend eines, den er vor sich hat.
18
Verzeihen Sie es mir, liebster Lavater, wenn es mir vorkommt, daß Sie
19
Ihren Freunden sowohl als Feinden zu viel Ehre erweisen, und dadurch gegen
20
sich selbst ungerecht werden. Selbsterkenntniß und Selbstliebe ist das wahre
21
Maß unserer Menschenkenntniß und Menschenliebe. Aber Gott ist größer denn
22
unser Herz, und erkennt alle Dinge, auch die Gedanken, die sich unter einander
23
verklagen oder entschuldigen.
24
Tauben-Einfalt … Schlangenlist
Mt 10,16
; zugleich Anspielung auf
Hamann,
Versuch einer Sibylle über die Ehe
, N III, 201/21
Was Sie in
Tauben-Einfalt
gethan, sey immer Schlangenlist für ihren
25
wir sind Gott … des Lebens zum Leben
2 Kor 2,15f.
Samen – wir sind Gott ein guter Geruch Christi; ein Geruch des Todes zum
26
Tode, und ein Geruch des Lebens zum Leben. Er ist nicht
ungerecht
, daß er
27
vergesse unseres Werks und Arbeit der Liebe für seinen Namen, und den
28
Dienst der Heiligen. Dieser sichere und feste Anker unserer Seele geht hinein
29
in das Inwendige des Vorhangs.
30
Fingerzeiges
Hahn,
Fingerzeig
Ihr Wink vom Inhalte des
Fingerzeiges
ist genug für mich, um alles
31
anzuwenden, daß ich ein Exemplar auftreibe. Bücherglück hat mir selten
32
gefehlt.
33
Herder
Johann Gottfried Herder
Meinem Gevatter Herder habe ich, unter vielen, auch die Empfehlung
34
Ihrer ersten Autorschaft zu verdanken. Die beiden ersten Theile Ihrer
35
neueste Ausgabe … dritte Theil
Aussichten in die Ewigkeit
, 2. Aufl. (1770) und Bd. 3 (1773)
Aussichten
las ich gleich bey der ersten Erscheinung. Die neueste Ausgabe und der
36
dritte Theil ist mir nie meines Wissens vor Augen gekommen, und ich warte
37
Ende des Werks
1778 erschien ein vierter Band der
Aussichten in die Ewigkeit
mit Anmerkungen, Zusätzen, Berichtigungen
gern das Ende des Werks ab, weil ich gern das Ganze übersehen mag. So ein
S. 7
großer Bücherwurm ich auch bin, so hängt doch meine Lesesucht von Umständen
2
ab, und seit langer Zeit genieße ich einen Schriftsteller bloß, so lange ich das
3
Buch in der Hand habe. Sobald ich es zumache, fließt alles in meiner Seele
4
zusammen, als wenn mein Gedächtnis Löschpapier wäre. Ungeachtet ich von
5
Jugend auf nicht habe Wörter behalten können, so habe ich mich doch ziemlich
6
Jordan …
Hi 40,23
spät auf todte Sprachen gelegt, und ließ mich dünken, den Jordan mit meinem
7
Collectaneen-Mann
jemand, der Auszüge und Notizen aus Schriften macht
Munde auszuschöpfen. Ein Collectaneen-Mann bin ich auch nicht. Ich liebe
8
mir die Titel von Büchern, die ich gelesen habe, oder noch zu lesen wünsche,
9
aufzuschreiben, und mehrentheils auf verlornen Blättern. Was Montagne
10
vir beatae memoriae
dt. ein Mann seliger Erinnerung (bzw. Angedenkens)
als ein
vir beatae memoriae
von sich selbst sagt, ist in meinen Augen kein
11
Widerspruch, sondern beynahe mein eigener Fall. Ihre
Volkslieder
habe ich
12
Hirtenbrief … Pfenningers Apologie
Lavater,
Schreiben an seine Freunde
und Pfenninger, Appellation an den Menschenverstand
auch gelesen, auch manche Ihrer
vermischten Aufsätze
. Ihr
Hirtenbrief
13
an Freunde, nebst Pfenningers Apologie hat mir innig gefallen, und ersterer
14
Predigten
mglw.
Lavater,
Zwo Predigten bey Anlaß der Vergiftung des Nachtmahlweins
, vgl.
HKB 520 ( III 396/16 ) ganz. Von Ihren Predigten noch keine Sylbe, so lüstern ich selbst durch die
15
Recensionen
Mglw. ist
Nicolais
Schrift
Einige Zweifel über die Geschichte der Vergiftung des Nachtmahlweins
(Berlin 1778)
gemeint.
Recensionen Ihrer Widersacher darnach geworden bin. Ich warte bloß auf
16
das Ende über meinen Leib-Propheten Jonas. Weder Ihr
Drama
noch die
17
Parodie
Bodmer,
Der Vater der Gläubigen
Parodie
desselben habe ich zu sehen bekommen können, ungeachtet ich
18
jedermann seit einem Vierteljahre und länger darum gegeilt habe.
19
Wenn Sie mich also, liebster Lavater, mit einer Autorgabe erfreuen wollen,
20
so sey es nichts Großes, nichts Edles, nichts Gesuchtes, nichts Kostbares,
21
damit Sie weder meine Eifersucht als Schriftsteller, noch meine
22
Unvermögenheit, erkenntlich zu seyn, oder, deutscher zu reden, meinen Bettlerstolz
23
beunruhigen. Ich freue mich auf den letzten Theil Ihrer Physiognomik. Jeder
24
14te Julius 1776
Zu Hamanns Reaktion auf sein Porträt in den
Physiognomischen Fragmenten
, Bd. 2 am
14. Juli 1776
vgl.
HKB 467 ( III 240/34 ); sie fiel in die Zeit seiner schmerzhaften Arbeit am
Biga bibliothecarum
.
Band ist ein Fest für mich gewesen, und der 14te Julius 1776 einer der
25
merkwürdigsten meines Lebens, weil ich mich den Tag vorher für einen
26
verlornen
Menschen hielt, der keines gesunden Begriffes mehr fähig wäre – ein
27
Wurm und kein Mensch
Ps 22,7
Wurm und kein Mensch.
28
Stilling’s Jugend
Jung-Stilling,
Henrich Stillings Jugend
Stilling’s Jugend habe ich zum zweitenmale gelesen, mit mehr Rührung
29
als das erste mal; ich sehe aber, daß es wenigen schmeckt; zum Glück sind diese
30
wenigen meine Allerliebsten hier; für mich ist er ein
Ecce homo!
Die Welt
31
mag sich ärgern und bersten und platzen! Bey aller Ihrer
Angst
seyen Sie
32
Mohr Ebedmelech
Jer 38,7–12
getrost, liebster Lavater! Wie der ehrliche Mohr Ebedmelech unter den alten
33
Lumpen wühlte, hätte ich meine Hausbibel zerreißen mögen, um Ihnen ein
34
Seil des Trostes zuzuwerfen.
35
Eselskinnbacken
Ri 15,19
Gott, der einen Backenzahn in jenem Eselskinnbacken spaltete, daß Wasser
36
Bedürfnisse
1 Mo 21,19
herausging für den
Durst
seines Verlobten, wird alle unsere Bedürfnisse
37
Lüsternheit
2 Sam 23,15
(Genes.
XXI.
19.) und Lüsternheit (2. Sam.
XXIII.
15.) stillen.
S. 8
Frau
Anna Lavater
Grüßen Sie Ihre liebe, würdige Frau und Kinder. Mehr Diät in der
2
Arbeit, mehr Umgang mit Fressern und Weinsäufern – und noch ein Kuß auf
3
Mund und Stirn von Ihrem Freund und Bruder
4
J. G. Hamann.
5
Ein für allemal keine Gesetze für unseren Briefwechsel – Jeder nach seines
6
à la fortune du pot
dt. nach dem, was der Topf hergibt
Herzens Lust, und
à la fortune du pot.
Provenienz
Druck ZH nach Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 273–282. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort unbekannt.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, V 273–282.
ZH IV 3–8, Nr. 523.
Digitalisat
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
4/2 |
bey ]
|
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: bei |
|
5/7 |
Passibilität |
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: Passibilit ät |
|
5/7 |
Actibilität |
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: Actibilit ät |
|
5/8 |
ἔμαθε ]
|
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: ἔπαθε |
|
5/9 |
4 ]
|
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: 8 |
|
5/24 |
festes, |
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: festes |
|
6/12 |
πρότωπον ]
|
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: πρόσωπον |
|
6/13 |
ἐπιγνώσθην ]
|
Geändert nach dem Druck bei Roth; ZH: ἐπεγνώσθην |