797
319/15
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):

16
No
5


17
Vaels bey
Aachen
den 11
ten
Jan. 1785.

18
lieber Verehrungswürdiger Freund

19
Mein Brief vom 31
t.
December ist nun vermuthlich schon in Ihren Händen.

20
Ich bin seitdem beständig krank gewesen; reiste krank hierhin,
u
wurde noch

21
kränker. Dabey lag es mir schwer auf, daß ich Ihnen mein Wort nicht
ha
l
tte

22
halten können. Ich will es nun am 3
ten
Posttage zu erfüllen suchen so gut ich

23
kann, u ohne Vorbereitung u Einkleidung – leider auch ziemlich ohne Plan, nur

24
hinwerfen, was ich Ihnen zu sagen
vor hatte
.

25
In Ihrem Golgatha hat vor andern eine Stelle mich getroffen, S 63, wo

26
Sie sagen: „Bey dem
unendlichen Mißverhältniße
des Menschen zu

27
Gott…um es zu heben u aus dem Wege zu räumen…muß der Mensch

28
entweder einer
göttlichen Natur
theilhaftig werden, oder auch die Gottheit

29
Fleisch
u
Blut
an sich nehmen.“

30
In diesem Knoten liegt alles theologische u philosophische Dichten u Trachten

31
meines armen Geistes
seit geraumer Zeit – soll ich sagen, wie auf der Folter?

32
Verwandlung, oder wie man das Aehnliche nennen will, ist also nöthig.

33
Johannes sagt: wer den Sohn läugnet, läugnet auch den Vater. Petrus

34
bekannte ihn, u da er ihn bekannte, sagt Jesus zu ihm: Selig bist du, Simon Jona

S. 320
Sohn,
denn das hat dir nicht Fleisch u Blut
geofenbahret
, sondern

2
mein Vater
, der in den Himmeln.

3
Zu Nikodemo sagte Jesus: wahrlich, wahrlich, ich sage Dir: es sey denn daß

4
jemand von neuem gebohren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.

5
Thue, werde, sey
heißt es überall in der Schrift. Und: der natürliche

6
Mensch vernimt nichts vom Geiste Gottes, es ist ihm eine Thorheit u er kann es

7
nicht verstehen.

8
Muß also nicht im Menschen eine Kraft liegen, schon im natürlichen

9
Menschen – deren Richtung ihn fähig macht den Geist zu
empfangen
, von dem

10
wir nicht
wißen
v wannen er kommt noch wohin er fährt, der aber die

11
Wahrheit
selbst ist.

12
Wie denn widerlegte ich mich selbst indem ich sagte: Giebt es eine
gewiße

13
GottesErkenntniß für den Menschen? so muß in seiner Seele ein Vermögen

14
liegen ihn dahinauf zu organisieren!

15
Wahrheit ist Würklichkeit, ist seyn; u Gewißheit ist Gefühl der Wahrheit.

16
Daß wir selbst sind u andre Dinge außer uns, wißen wir nicht durch Beweise,

17
nicht durch Kunst, sondern wir erfahren es durch Seyn u Mitseyn.

18
Daß alles was geschieht, jede Veränderung u Bewegung, aus einem
Willen

19
hervorgehe, ist eine allgemeine Offenbahrung – oder Lüge der Natur.
Vox

20
populi, vox Dei.
Mir deucht, der rohe Wilde, wie oft er auch äußerliches mit

21
innerlichem verwechseln u Schein für Wesen halten mag, irret doch nicht in der

22
Sache selbst
; dahingegen der Weltweise, der nur äußerliches annimt, den

23
Schein für das Wesen, u das Wesen für den Schein hält, der irret
in der Sache

24
selbst
.

25
Ich kenne die Natur des Willens, einer sich selbst bestimmenden u lenkenden

26
Kraft, ihre innere Möglichkeit und deren Gesetze nicht – denn ich bin nicht durch

27
mich selbst. Aber ich fühle eine solche Kraft als das innerste Leben meines

28
Daseyns; ahnde durch sie meinen Ursprung, u lerne im Gebrauch derselben, was

29
mir Fleisch u Blut allein nicht offenbahren konnten. Auf diesen Gebrauch finde

30
ich alles bezogen in der Natur u in der Schrift; alle Verheißungen u Drohungen

31
sind an ihn – an die Reinigung u Verunreinigung des Herzens geknüpft. –

32
Daneben lehren mich Erfahrung u Geschichte, daß des Menschen Thun viel

33
weniger v seinem Denken, als sein Denken von seinem Thun abhängt; daß seine

34
Gedanken sich nach seinen Handlungen richten u sie gewißermaßen nur

35
abbilden; daß also der Weg zur würklichen Erkenntniß ein
geheimnißvoller
Weg

36
ist – kein syllogistischer – aber noch weit minder ein
mechanischer
.

37
Von dieser Erkenntniß glaube ich nicht
daß sie um das Leben bringe
. Ich

S. 321
wüßte auch eins vom andern nicht zu trennen, u es scheint mir, daß zu höherem

2
Leben nie anders als durch höhere Erkenntniß hinauf gestiegen wird. Wandle

3
vor mir u sey
ganz
! Das heißt, pflege, warte deiner Einheit, deines
το Ον
, säe

4
auf den Geist; welches nur
im
Willen,
mittels
des Verstandes geschehen kann.

5
Ich las vor einigen Wochen wieder Herders
Theolo
Briefe über das

6
Studium der Theologie, u fand bey einer Materie Jerusalems Betrachtungen zu

7
wiederholten mahlen angeführt. Ich hatte diese Betrachtungen nie gelesen,

8
sondern nur hie u da angesehen. Bey einer gewißen Stelle wollte ich

9
nachschlagen, ergriff den unrechten Band, u mein Irrthum führte mich auf folgende

10
Worte: „Gott sprach – u es ward – u es war alles gut – – – – wahrer u

11
faßlicher konnte diese Handlung unserer Vernunft nicht gemacht werden. Denn

12
dieß ist der einzige Grund, worin die Vernunft ihre Beruhigung findet:
Der

13
Allmächtige wollte, u es ward
. Zugleich ist dies die Gränze aller

14
Philosophie, die Gränze, wo auch Newton ehrerbietig stehen blieb; u der Philosoph,

15
dem es zu klein deucht, bey diesem göttlichen Willen stehen zu bleiben, sondern

16
hierüber hinaus v Ursachen zu Ursachen ins unendliche fortzugehen, u selber

17
Welten zu bauen sich vermißt, der wird sich in ewigen Finsternißen verirren,

18
wo er endlich den Schöpfer selbst verlieren wird.“

19
Mich freuten diese Worte, weil es mir unmöglich ist den Schöpfer nicht zu

20
verlieren, wenn ich mir nicht den Willen vor der That u als das erste u oberste

21
in seiner Natur gedenke. Wille ohne Verstand aber ist ein Unding.

22
Am Seyn ohne Bewußtseyn, ohne Personalität ist mir nichts gelegen, u ich

23
will lieber die dürftigste unter den
naturis naturatis
seyn, als eine Spinozistische

24
Natura naturans,
die man, wenn man mit Worten spielen will, die

25
vollkommenste Liebe nennen mag, weil sie alles nur im andern ist:
ουδεν και παντα
!

26
Dieses
ουδεν και παντα
ist wohl nicht das Ihrige. Sie verwiesen mich bey

27
diesen Worten auf die Kreutzüge. Wenn Sie aber nicht die Stelle S. 184 (in der

28
Rhapsodie in Kabbalistischer Prose) meynen, auf die ich selbst, in meinem Briefe

29
vom October, schon gedeutet hatte, so ist mir die gemeynte
unbekannt
nicht

30
erinnerlich, u ich habe auch bey’m Nachschlagen sie nicht finden können.

31
Niemand kann Grübeley mehr als ich verachten, wenn sie nicht blos

32
Anstrengung des innersten ursprünglichsten Sinnes ist u seyn will. Daß aber eine solche

33
Anstrengung Genuß befördern könne, scheint mir außer Zweifel, u ich habe so

34
gar den Argwohn gegen Hamann, daß er ein gewaltiger Grübler dieser Art sey.

35
Ich bin nicht
a priori,
kann nichts
a priori
wißen, nichts
a priori
für mich

36
sicher stellen: aus Gnaden bin ich was ich bin, u meine einzige Tugend ist

37
Gehorsam, sein Lohn wachsender Glaube. Mit Ihnen behaupte ich, u glaube in

S. 322
meinem ersten Briefe an Sie mich schon dahin geäußert zu haben, daß
sensus

2
das
principium
alles
intellectus
sei. Aber meine so mannigfaltige

3
Sinnlichkeit, der ich mich blindlings u aufs ohngefähr, weder überlaßen darf, noch soll,

4
noch kann, muß doch auf etwas gepfropft seyn, das nicht schlechter u etwas

5
mehr als ein bloßes mathematisches
Centrum
ist. Ich vermuthe hier ein

6
distinktes
το Ον
, wenn schon kein ganz heterogenes, u daß es der Geist sey, auf den

7
ich angewiesen bin zu säen.

8
Δος μοι που
στω
. –
„Ohne Wort, (schrieben Sie mir vor einem Jahr) keine

9
Vernunft – keine Welt. Hier ist die Qvelle der
Schöpfung u Regierung
.“

10
Ich spreche Ihnen dieses nach von ganzem Herzen nach. Aber ich sehne mich zu

11
wißen, in wie fern unsre Ideen würklich
mit einander
übereinstimmen, oder

12
wenigstens verträglich

13
Ich werde einmahl über das andre erinnert meinen Brief zu schließen, weil er

14
sonst nicht mehr weg käme. So sey es dann! – Leben Sie wohl, mein Theuerster,

15
u schreiben Sie mir bald wieder, wenn es auch nur wenige Zeilen sind. Ich reise

16
am Ende dieser Woche nach Düßeldorf zurück – Von ganzem Herzen

17
Ihr Freund

18
F. H. Jacobi


19
Vermerk von Hamann:

20
Erhalten den 22 Jänner

21
Geantw den 22, 23 –

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, I 400–404.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 42–45.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 14–17.

ZH V 319–322, Nr. 797.

Zusätze fremder Hand

319/16
Johann Georg Hamann
322/20
–21
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
319/16
No
5
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
319/17
Aachen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Aachen,
319/20
u
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u.
319/21
ha
l
tte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hatte

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): ha
l
tte
319/24
vor hatte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
vorhatte
319/31
meines […] Geistes]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
auch meines Geistes

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): meines armen Geistes
320/1
geofenbahret
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
geoffenbahret
320/10
wißen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
wißen,
322/8
στω
. –
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
στω
322/11
mit einander
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
miteinander