805
343/21
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):

22
No
6.
Erh. den 16 Febr. 85 geantw.
eod.
nebst einem Exempl. der

23
Hirtenbriefe über das Schuldrama nach Münster.


24
Düßeldorf den 1
sten
Februar 1785.

25
Mein liebster Hamann,

26
Ich bin erst den 20
ten
Jänner von Vaels hierhin zurück gekommen. Den

27
folgenden Morgen erhielt ich Ihren Herz erfreuenden Brief vom 6
ten
, u

28
erwarte nun mit unaussprechlichem Verlangen die Gewißheit, daß ich Sie bald

29
mit diesen meinen Augen sehen, u mit diesen meinen Ohren hören werde.

30
Der Mann der so glücklich war Ihr Wohlthäter zu werden, ist, meinem

31
Vermuthen nach, der junge Buchholtz in Münster. Sie schrieben mir den 14
ten
Nov:

32
„Da Sie in Münster Freunde haben; so kennen Sie vielleicht dort auch Einen

33
von Herder, Lavater u mir – nach deßen persönlicher Bekanntschaft ich mich

34
auch sehne.“ Ich rieth gleich auf Buchholz, von dem ich kürzlich ungemein viel

35
Gutes gehört hatte. Gesehen u gesprochen habe ich ihn nur einmahl, vor

36
ohngefahr
drey Jahren, da er an einem Morgen sich ganz unvermuthet zu

S. 344
Pempelfort bey mir meldete. Sein Nahme war mir nicht unbekannt, weil der Minister

2
von Fürstenberg seiner verschiedene Mahle gegen mich, als eines der

3
Hoffnungsvollesten Zöglinge des Münsterischen
Gym
n
asii
gedacht, u mir auch einmahl

4
eine Ausarbeitung von ihm geschickt hatte. Nachher verlautete, es würde nichts

5
aus diesem Buchholtz, er ließe seinen Geist verwildern, flatterte u schwärmte

6
nach allerhand Gegenständen, ohne sich mit irgend etwas ernsthaft zu befaßen.

7
Ohngefähr so erschien er mir auch in der Unterredung
mit
die ich mit ihm

8
hatte; er ermüdete mich auf eine mir unerträgliche Weise, u ich ließ es ihn

9
bey’m Abschiede merken, daß ich keinen 2
ten
Besuch v ihm erwartete.

10
Ohngeachtet wir völlig v einander Abschied genommen, kam er den Nachmittag

11
doch wieder um mich noch einmahl zu sprechen; ich ließ ihn aber nicht vor. Ich

12
war auch würklich gar nicht wohl u lag zu Bette. Den Augenblick darauf

13
gereute mich meine Härte, aber es war zu spät. Von meinem damals über

14
Buchholtz gefällten Urtheil, bin ich erst diesen Sommer zu Hofgeismar
erst
zurück

15
gekommen. Die Prinzeßin v Gallitzin hatte ihn einige Mahl gesprochen, u ihm

16
Zeit gelaßen sich in etwa verständlich zu machen. Sie versicherte mich es sey ein

17
herrlicher Geist in ihm verborgen. Auch sein Freund Sprickmann, der mit der

18
Prinzeßinn zu Hofgeismar war, sagte mir viel Gutes von ihm, aber auch

19
manches das viel geschickter
war
und
meine
gefaßte Meynung zu bestättigen, als sie

20
zu verändern. Erst den Abend vor meiner Abreise gab mir eben dieser

21
Sprickmann einen Brief von Buchholtz an ihn, von dem er sagte, daß er verschiedenes

22
darin nicht verstünde. Ich fand gar nichts unverständliches in
diesem
12

23
Quartseiten langen Briefe, u wurde voll Liebe u Bewundrung gegen den Verfaßer,

24
welches ich Sprickmann auch auf das nachdrücklichste bezeugte, u ihn bat, wenn

25
er es Buchholtz sagen möchte, daß ich den Brief gelesen, ihn recht herzlich von

26
mir
zu
grüßen. Nun wißen Sie, wie ich mit dem Manne stehe.

27
Den 3
ten
Febr. –
Heute morgen fiel mir ein, daß ich an dem Tage wo ich

28
Ihren Brief v 14
ten
u 15
ten
Nov erhielt, den 28
ten
Nov, an Sprickman

29
schrieb, um ihm einen unerheblichen Auftrag zu geben, denn ich stehe sonst in

30
keinem Briefwechsel mit ihm.
Sein
Ich gedachte
ich
gegen ihn jener Worte

31
aus Ihrem Briefe, u fügte hinzu: „Das kann doch wohl niemand anders seyn,

32
als Ihr Freund Buchholtz.“ Da mein Schreiben keine Antwort forderte u auch

33
keine erhielt, so blieb ich ohne Auskunft über diesen Punkt. Nun aber scheint es

34
mir nicht unmöglich, daß meine Äußerung gegen Sprickmann, einigen Einfluß

35
auf die Erscheinung vom 15
ten
December gehabt haben kann. – In Ihrem

36
Briefe stand unmittelbar hinter jenen Worten:
Sein Rath ist

37
wunderbarlich u führt es herrlich hinaus
.

S. 345
Nun auch etwas von meiner Freundin Amalia v Gallitzinn. Es werden nun

2
5 Jahre daß ich mit ihr bekannt wurde, u in einem sehr engen Verhältniße mit

3
ihr stehe. Um Ihnen von diesem vortrefflichen ganz eigenen Weibe einen Begriff

4
zu geben, müßte ich Ihnen die Geschichte ihres Lebens erzählen, u den Einfluß,

5
den Umstände u Personen auf ihre Bildung gehabt, im Zusammenhange

6
darstellen. Die
Χ
stliche Religion war ihr, da ich sie kennen lernte, fremd.

7
Hemsterhuys, der viele Jahre lang beständig um sie
um sie
war, ist in Absicht dieser

8
Religion wie Leßing gesinnt, u geht noch weiter, denn die Bibel ist ihm ein ganz

9
unausstehliches Buch. Von diesem Buche hörte die gute Amalia nun ganz

10
anders reden, fieng an darin zu lesen, u gewann es almählich lieb. Amaliens

11
vertrautester Freund,
der
F
Minister
von Fürstenberg, glaubt an die Offenbahrung

12
steif
u fest. Er baut alles auf Mathematik u empirische Psychologie, letztere

13
rationalisiert in die Länge u Breite, Höhe u Tiefe, u schreibt diesen beyden

14
Dingen wunderbahre Kräfte zu. Dabey ein Mann von großem Charakter, u

15
ganz außerordentlichen Geistesfähigkeiten. – Einmahl da ich in Münster war u

16
Kleuker mich dort besuchte (
A
o
82 im Herbst) kam an einem Abend die Rede von

17
Ihnen. Die Prinzeßinn wurde sehr begierig etwas von Ihnen zu lesen. Ich rieth

18
es ihr ab. Kleuker meinte, die Sokratischen Denkwürdigkeiten könnten

19
allenfals
für sie noch genießbar seyn. Auch das wollte ich nicht zugeben; u die

20
Prinzeßinn ließ beynah ab v dem Manne, der sich unterstanden hatte Sokratische

21
Denkwürdigkeiten zu schreiben. Unterdeßen blieb ihr der Hamann doch im

22
Sinne, der so viel bey mir galt, u ihr ganz ungenießbar seyn sollte. Sie

23
verlangte, ich sollte ihr wenigstens einige von Ihren Schriften verschaffen. Es war

24
auch mein Vorsatz, ihr zu willfahren, aber ich versäumte es. So gieng es

25
jedesmahl daß sie mich daran erinnerte. Den vorigen Sommer zu Hofgeismar fand

26
ich einige Ihrer Hefte bey Ihr, die ihr Buchholtz geliehen hatte, u sie war von den

27
Sokratischen Denkwürdigkeiten
u manchem
andern sehr erbaut. Das übrige

28
begreifen Sie nun leicht. Am vergangenen Dienstag habe ich der Prinzeßinn

29
geschrieben, u ihr von dem sich auf sie beziehenden Inhalt Ihrer 2 letzten Briefe so

30
viel mitgetheilt als ich für gut fand. Ich zweifle daß sie Gelegenheit hat Ihnen

31
die Erlaubniß aus dem Cabinette zu verschaffen. In der Stelle Ihres Briefes

32
hierüber, habe ich die Bedeutung zweyer Anfangsbuchstaben nicht errathen

33
können. Sie sagen: „Bey aller meiner
poltronerie, lacheté
u
imbecillitate

34
hominis
fühl ich bisweilen eine
severitatem Dei
u einen
furorem uterinum
die

35
Weißagungen eines M v L wahr zu machen.“ Da unmittelbar hierauf die

36
Worte folgen: „Sie lesen das Innerste meiner Seele, wann u so gut ich es selbst

37
zu lesen vermag“ – so habe ich mir alle ersinnliche Mühe gegeben, was mit den

S. 346
Weißagungen eines M v L gemeint ist, heraus zu bringen, aber ist mir nicht

2
gelungen. Auch weiß ich nicht vollkommen u
gewiß
auf welche Carthago Ihr

3
Schwur des
Cato
gerichtet ist. Ich vermuthe daß Sie bey der General

4
Administration schlechterdings nichts suchen wollen.

5
Den 4
ten
Febr, Nachmittags.
Ich bin heute jämerlich um meine Zeit

6
gekommen, u muß zum Schluße eilen. – Sie fragen nach meinen Freunden in

7
Münster. Außer der Prinzeßinn weiß ich kaum noch jemand, als den HE

8
v
Fürstenberg
zu nennen, u hernach
den Rath Sprickmann, der mir ein

9
Herzguter Mann zu seyn scheint. Was ich sonst von Leuten dort gesehen habe,

10
kann ich kaum bekannte nennen. Ich vergaß den großen Arzt, den
Geheimenrath

11
Hoffmann.

12
Ihre Hand kann ich ohne große Mühe entziefern. Nur wo mir unbekannte

13
nom. propr
– u dergleichen vorkommen, wo ich blos u im eigentlichen

14
Verstande entziefern muß, kostet es mir Arbeit, zumahl wenn Buchstaben

15
ausgelaßen oder verschrieben
sind

16
Um das Buch v Schultz, u das andre aus dem Englischen habe ich gestern

17
schreiben laßen. Ich bekomme hier nichts zu sehen was ich nicht beschreibe. –

18
Ich habe mich unrecht ausgedrückt da ich sagte die
pr. ph. Cart
des
Sp
fänden

19
sich gewöhnlich bey den gesammelten Werken des
Cart.
Ich meinte in

20
Büchersammlungen u Auctionen.

21
Es war mir eine angenehme Nachricht daß Sie im Begriff sind den
Gibbon

22
zu lesen. Sagen Sie mir doch etwas über seine berühmte Darstellung der

23
Entstehung des
Χ
stenthums u seines Fortgangs. Die Lobrede der Göttinger auf den

24
Theil dieser Darstellung welcher die Epoche des Constantins enthält, hatte mich

25
begierig auf das Buch gemacht, u ich habe es den vergangenen Sommer

26
gelesen. Ich werde nun die römische Geschichte v meinem lieben
Ferguson

27
vornehmen.

28
Morgen hoffe ich an Herder zu schreiben, u werde Ihren Auftrag ausrichten. –

29
Die nächste Woche wieder an Sie selbst. Unterdeßen erhalte ich Antwort v der

30
Prinzeßinn, vielleicht auch v Ihnen auf meinen Brief aus
Vaels.
– Leben Sie

31
wohl, mein innigstgeliebter, ich umarme Sie mit Herz u Seele, als Ihr wahrer

32
Freund

33
F Jacobi.


34
Es freut mich daß Sie Lavatern so gut sind. Ich liebe ihn noch mehr seit ich

35
die 2
te
Hälfte seiner HerzensErleichterung gelesen habe. Ein pa
a
r Stellen an

36
seine
Unfr
Nichtfreunde, sind mir durch die Seele gegangen, u kaum hat mich

37
in meinem Leben etwas mehr erbaut, als einige seiner Grundsätze.

S. 347
Lieber Hamann, kommen Sie doch ja u kommen Sie bald! Wenn Hinderniße

2
da sind die ich
mitte
zu heben mittelbar oder unmittelbar im Stande bin, so

3
entdecken Sie mirs Brüderlich –

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 21–24.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 58–59.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 36–39.

ZH V 343–347, Nr. 805.

Zusätze fremder Hand

343/22
–23
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
343/22
No
6.
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
343/22
–23
Erh. […] Münster.]
Geändert nach der Handschrift; in ZH am Ende des Briefes vermerkt.

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
von H. vermerkt:
Erh. den 16 Febr. 85 geantw.
eod.
nebst einem Exempl. der Hirten Briefe über das Schuldrama nach Münster
343/36
ohngefahr
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ohngefähr
344/3
Gym
n
asii
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Gymnasii
344/19
war
und
meine
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
war meine

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): war
und
meine
344/22
diesem
12
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
diesem 12

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): diesem
?
12
345/11
der
F
Minister
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
der Minister

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): der
F
Minister
345/19
allenfals
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
allenfalls
345/27
u manchem
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u manchen

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): u manchem
346/10
Geheimenrath
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Geheimrath
346/15
sind
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
sind.
347/3
]
Geändert nach der Handschrift; in ZH folgt hier der Erhalten-Vermerk vom Kopf des Briefes.

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
vermerkt am Kopf des Briefes