960
365/17
Kgsberg den 26 April 86.
18
B
Bravo! Bravo!
mein lieber Fritz-Ariel-Jonathan! Nach 3 Tagen,
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die ich im ängstlichen
nisu
zugebracht, ohne die geringste Wirkung, bin ich
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heute gleich beym Aufstehen ein wenig wider zu mir selbst gekommen, und
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habe das Liegen und Sitzen dadurch eingeholt, daß ich mich den ganzen Tag
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herumgekräuselt, und mich
hinsetze
um Ihnen meine Mitfreude zu dem
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guten Anfange mitzutheilen. Geschichte ist die beste und einzige Philosophie, und
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daran ist dem Publico allerdings gelegen, und die hat es Recht von Ihnen
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zu erwarten; mehr brauchen Sie zu Ihrer Rechtfertigung nicht. Ihrem alten
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Görgel gieng es
sans comparaison
wie dem kindischen Swift vor dem
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Spiegel, der über den alten Mann im Spiegel die Achseln zucken konnte. Ich
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konnte mich kaum besinnen, daß ich so was geschrieben hatte – der
29
Commentarius
über ihren
νομον οντος
ist doch von dem alten Mann, den ich
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meyne. Die
Fortsetzung
und das
Ende Ihrer Bogen erwarte
31
ich mit
Ungedult über Post
. Aber ein
ganzes
Exemplar, weil ich,
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wie ich Ihnen gemeldet dem
Major Tiemann
das gebundene zum
viatico
S. 366
mitgegeben, also wünschte ich selbiges mit dem gegenwärtigen
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zusammengebunden zu erhalten. Dies nebst den übrigen an meine Freunde kann mit dem
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Meßgut an
Hartknoch
befördert werden; denn Sie verschwenden schon
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zu viel an Porto; aber auf die Ergänzung der heute erhaltenen ersten Bogen
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bin ungedultig und etwas mehr als neugierig.
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Da kam Diakonus Kraft, und hernach Kraus – Werden Sie etwa die
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zweite Ausgabe des ersten Buchs ändern oder verbeßern. Ich wollte erst mit
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nächster Post oder nach Erhaltung der übrigen Bogen schreiben;
aber ich
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habe lieber mit umlaufender Post Ihnen meinen Dank und herzliches
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Gefallen bezeigen wollen.
Die Fabel mit den Masken haben Sie gut genützt;
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ich hoffe mich aber noch mehr damit lustig zu machen. Dieses kleinen
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Umstandes wegen bin ich mit meinem Landsmann R. recht sehr zufrieden; ich
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hätte vor Freuden einen # an die Armen gegeben; denn in gewißen Fällen
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gehet es mir wie unserm lieben Alcibiades, daß ich ins Gelag hinein
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grosmüthig, und wo ich das nicht seyn kann, zehn mal lieber ein filtziger Knauser
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seyn mag.
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Ja liebster Jonathan Sie sind sich und der Welt diese
Aufklärung
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schuldig gewesen und haben keine andere Rechtfertigung nöthig. Eben
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brechen die Bogen bey einer Krisi ab – die, ich wünsche, nicht Sie zu tief in das
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theoretische und speculative Feld verleiten wird, das ich gern in
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gegenwärtiger Sache abgesondert sehen möchte, aus Gründen, die ich nicht zu
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entwickeln im stande bin.
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Ihre Verlegenheit über meine
cunctationem
wird durch den Empfang
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meiner Antwort aufgehört haben. Die Schuld hat freylich an mir gelegen,
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aber nicht an meinem guten Willen; sondern an Umständen und
Pflichten
,
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die ich Ihnen und mir selbst schuldig zu seyn glaubte und noch immer glaube.
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Ich hoffe, daß Sie an den Berlinern werden gerochen seyn und noch mehr
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werden.
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Hartknoch ist als mein Freund zurück gekommen und mit seiner Frau sehr
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vergnügt ihre Tochter
bey
der würdigen Baroneße neben der meinigen in
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Pension gebracht zu haben. Sie können sicher durch
ihren
Verleger alles an
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ihn
für mich mit dem Meßgut
addressi
ren. Ihr Handel war die
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Veranlaßung die ich vom Zaum nahm, um mit ihm zu brechen. Dies muß Ihnen
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rätzelhaft vorkommen, ohne daß ich es Ihnen erklären kann. Er hat durch
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ein Misverständnis Ihren ersten Bogen zu sehen bekommen – aber nicht
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mehr als von außen zu sehen bekommen, weil ich Ihren Brief bey ihm
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erbrach; sonst kein Mensch, als mein
Johann Michel
. Wenn ich aber das
S. 367
Ganze
complet
erhalte; so werd ich es wenigstens
b
meinen
beyden
intimis
es
2
zeigen können – doch nach Ihrem Gutbefinden, weil ich gern meine
3
Vergnügen nicht nur
mittheilen
, sondern auch
berichtigen
mag.
Das ist
4
Crispus
und der Mann mit der Hippe; wiewohl ich beyder Urtheil
cum
5
grano salis
anwenden muß, weil der eine Weltmann u der andere ein
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Schulmann, ich aber keines von beyden, sondern am liebsten Nichts.
7
Ich will Sie in Ihren
gaudiis domesticis
nicht stören, an denen ich hoffe
8
George Antheil nehmen wird, wenn die Vetter
n
nicht den
Actum
seiner
9
Wiedererkennung und Aufnahme gehindert
haben
10
den 27 –
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Ich habe gestern meinen beyden Nachbarn gemeldt daß ich nach Berl.
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schreiben würde, und Sie waren damit sehr zufrieden. Diesen Morgen
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besuche Hippel, u auf seinen Rath auch Hofr. Metzger, der ein Gutachten über
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meine Gesundheit u Cur nicht versagen wird. Mit dem 1 May schreib ich
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gewiß – und so bald ich
Resolution
erhalte, überschicke ich selbige. Ich bin
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auf
alles
vorbereitet, so viel nur menschmöglich ist. Sonderbar ist es, daß
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der eine nach P. u der andere nach L. gehen muß. Laßen Sie sich aber in
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Ihrem Plan nicht irre machen.
Die Vorsehung wird alles für uns
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gemeinschaftlich entwickeln, wenn wir ihr gemeinschaftl. folgen, keiner in
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Rücksicht auf den andern, sondern jeder für sich auf ihren Wink.
Komme ich, so
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werden wir uns einander nicht verfehlen. Unter dieser Bedingung wird
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keiner von beyden irre gehen. Für meine Gesundheit muß ich diesen Sommer
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gewiß sorgen; denn mein Zustand ist ein wahres Fegfeuer. So bald ich eben
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im Begriff bin alles wegzuwerfen und aufzugeben; denn bekomm ich wider
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Luft u Muth fortzufahren. Mein fliegender Brief ist eine wahre Epistel an
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die Galater, eine Angstgeburt, die aber doch zur Welt kommen wird, ohne
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daß ich absehen
kann
unter welcher Gestalt. – –
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Von unserm Stadt
Physico
Hofr. Metzger habe diesen Morgen mein
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medicinisches
Consilium abeundi
abgeholt, das ich beylegen werde. Hippel
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war schon um 7 Uhr ausgegangen. Hartknoch geht heute mit der Post ab.
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Ich bin den ganzen Vormittag herum gelaufen, bin aber wider wo ich
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vorgestern war, und zu nichts nutze. So bald ich Antwort bekomme, schreibt
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Crispus
auch an den Minister von Zedlitz. Lieb wär es mir, wenn Sie
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mir ungefehr den
Termin
Ihrer Reise u Aufenthalts in London melden
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könnten, damit ich ungefehr mich darnach richten kann. Das verbitte ich aber
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schlechterdings, sich an meine
molimina
gar nicht zu kehren. Erhalt ich Nein;
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so würden Sie gantz umsonst und vergeblich sich nach meinem Wind gerichtet
S. 368
haben. Erhalt ich Ja, so bin ich schlechterdings mein eigener Herr, und kann
2
mich gemächlich nach Ihrem
Termin
beqvemen, weil es auch Herdern
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lieber ist, wenn ich ein wenig später komme. Sollte der Zufall so spielen, daß
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ich eben vor Ihrer Abreise hinkomme, so mag Sie mein Michel als Geißel
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nach Engl. begleiten, daß Ihnen der Vater nicht entwischen wird. Kraus
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geht zu seinem Schwaben, und will mich zu Münster gesund pflegen laßen.
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So bald ich was
habe
oder
weiß
,
ertheil
schreib ich, nicht eher. Heute
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bin ich keines Gedankens mächtig. Metzger sagte mir, daß mein Uebel mit
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Fractur in meinem Gesicht zu lesen wäre. Er hat untersucht und gefunden,
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daß meine
Verdauung geschwächt
,
die
Circulation der Säfte
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im Unterleibe durch
Infarctus
gehemmt sey
,
daher
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hypochondrische u Nervenzufälle entstehen
,
u daß
diese
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kränklichen Umstände eine Zerstreuung von Geschäften und eine
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stärkere Leibesbewegung erfordern, welche nur durch eine
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Reise nach dem Bade bewirkt werden
möchten
. –
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Ich bin mit meiner Vorstellung mit Zurathziehung H. fertig geworden,
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und Hartknoch nimmt sie diesen Abend mit, der für richtige Abgabe sorgen
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wird. Mehr schreiben kann ich heute nicht. Erfreuen Sie mich bald mit
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guten Nachrichten von Widerherstellung Ihrer liebsten Schwester, und
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genießen Sie viel Ruhe und Freude von der gegenwärtigen Gesellschaft, die
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Sie um sich haben. Vorgestern war hier das erste Gewitter u. ziemlich stark.
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Ich sehe mit Verlangen und Sehnsucht dem Ende und Anfang Ihres
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Büchleins entgegen. Mein Freund und Reisegefährten empfehlen sich. So bald
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ich Antwort erhalte, und etwas schreiben kann, bin ich da. Jetzt wird alles
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Maculatur
unter meinen Händen. Leben Sie wohl, und haben Sie Gedult
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mit meiner
Schwachheit
.
27
Noch eines, das mir Hippel erzählte, und ich Ihnen zu melden versprach.
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Kant hat einen Juden Theodor unter seinen
liebsten
Zuhörern, wie
29
D
Herz damals war und ein Elkana, der aber gestört wurde. Theodor hat
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ihm mit viel Umständen das Misvergnügen vorgehalten daß die hiesige
31
Judenschaft darüber bezeigte, weil er sich über die Berlinsche
Collecte
zum
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Monument aufgehalten hätte. Kant ist darüber ungemein empfindlich
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geworden, und hat der Judenschaft sagen laßen, daß sie von Rechts wegen die Kosten
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allein
tragen sollte für die Ehre die man einem jüdischen
φφ
en anthäte
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ihm unter solchen Männern einen Platz einzuräumen. Was unser Alter
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decreti
rt sowohl in dieser Sache, als in der gegenwärtigen zu Berlin
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herrschenden Schwärmerey alle Bediente durch
Livrée
zu unterscheiden, hat mir
S. 369
sehr gefallen.
Man sollte ihn mit dergl. Narrenspoßen
2
ungeschoren laßen
.
3
Nochmals Gott empfohlen bis auf baldiges gesunderes Widersehen!
4
Gantz der Ihrige Johann Georg.
5
Adresse:
6
An / HErrn / Geheimen Rath
Jacobi
/ zu /
Pempelfort
/
bey
7
Düßeldorf
. /
Fco Wesell
.
8
Vermerk von Jacobi:
9
Koenigsberg den 26
ten
Apr. 1786.
10
J. G.
Hamann.
11
empf den 7
ten
May
12
beantw den 12
ten
–
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 210–213.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 298–302.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 165–169.
ZH VI 365–369, Nr. 960.
Zusätze fremder Hand
|
369/9 –12
|
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
365/17 |
Kgsberg […] 86.] |
Neben dem Datum von Jacobi vermerkt: Ueber die Rechtfertigung gegen Mendelssohn. |
|
365/22 |
hinsetze ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: hinsetze, |
|
366/8 –10
|
aber […] wollen.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
366/30 |
bey ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bei |
|
366/31 |
ihren ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ihren |
|
367/1 |
b meinen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: meinen |
|
367/3 –6
|
Das […] Nichts.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
367/9 |
haben ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: haben. |
|
367/18 –20
|
Die […] Wink.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
367/27 |
kann ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: kann, |
|
368/10 |
die ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: die |
|
368/11 |
daher ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: daher |
|
368/12 |
u daß ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u daß |
|
368/15 |
möchten |
Geändert nach der Handschrift; ZH: möchte |
|
368/25 |
Maculatur ]
|
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
368/26 |
Schwachheit ]
|
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
368/27 –369/4
|
Noch […] Georg.] |
Teils von Jacobi unterstrichen, teils von Jacobi am Rand markiert. |
|
368/29 |
D |
Geändert nach der Handschrift; ZH: D. |
|
369/10 |
Hamann. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Hamann |