1001
495/15
Königsberg den 28
Julii
86.
16
Mein auserwählter, mein erwünschter Sohn! Gestern Abend erhielt Ihre
17
traurige Anzeige vom 9ten d. wodurch die Freude, die Sie mir den 5
18
mitgetheilt hatten, auf einmal niedergeschlagen ward. Das erste, womit ich mich
19
wider aufrichten konnte und wie ein Wort der Eingebung auf mich wirkte
20
war der Ausspruch: denn solcher ist das Himmelreich. Ich war allein und
21
sagte es laut zu mir selbst mit dem Wunsch, daß es auf Ihr und
Mariannens
22
Gemüth einen eben so starken und lebhaften Eindruck machen möchte, wie
23
damals und bis jetzt auf mich.
24
Laßen Sie den Schmerz sanft verbluten; das ist natürlicher und
25
wohlthätiger, als die Gewalt stillender Mittel. Danken Sie Gott, daß
Marianne
26
eine fröhliche Kindermutter
gewesen ist
, hoffen Sie mit eben so gewißer
27
Zuversicht, daß Sie es wider
seyn wird
, und zweifeln Sie nicht an dem
28
Leben, das man nicht sieht
: so ist die Arbeit Ihrer
Marianne
nicht
29
vergebens gewesen, die Erstlinge Ihrer Liebe sind nicht nur gut aufgehoben,
30
sondern auch gekrönt mit vollem Lohn. Der treue Schöpfer in guten Werken
31
versteht sich beßer auf ächte, wahre Vater- und Mutterliebe, als wir
32
Sterblichen. Sollte es dem kleinsten Waßertropfen nicht beßer gefallen, ein
33
Element des großen Weltmeers zu seyn, als im Triebsande der Erde zu
S. 496
versiegen? oder sollte es ein wirklicher Verlust und Schade für Eltern seyn, ihr
2
Fleisch und Blut in eine höhere Natur als ihre sinnliche und sichtbare ist,
3
erhöht zu wißen? Besteht nicht hierin die höchste Seeligkeit einer fröhlichen
4
Kindermutter, so sie bleibt im Glauben und in der Liebe und in der Heiligung
5
samt der Zucht? Gotte Frucht zu bringen –
6
Das natürliche Misverhältnis in den Bevölkerungstabellen mag vielleicht
7
seinen geheimen Grund in der arithmetischen Politik des Himmelreichs haben,
8
das sich in dieser Claße der Unschuld gleichsam recrutiren muß. Alles was
9
hervorragt und Fortschritte in Jahren, Größe, Ansehen p macht, hat den
10
menschenfeindlichen Stab des
Tarquinius Superbus
und Fürsten dieser Welt
11
zu fürchten. „Laßt die Kindlein zu mir kommen, und wehrt ihnen nicht
“
–
12
sagte der Stifter des Taufbundes, der Lebendigen Gott; denn sie
leben
13
ihm alle, im Geist
, die nach dem Buchstaben unserer Sprache und
14
Sinne
todt
heißen und scheinen, ohne es darum in der That und Wahrheit
15
zu seyn.
16
Der kleine
Joseph
lebt, nicht nur im
s
Sinn und Herzen derer die Ihn
17
geliebt und gesehen haben, sondern sein Leben droben wird auch wie ein
18
Magnet wirken auf uns, zu trachten nach dem Ort und Zustande, worinn er ist,
19
und wohin er unser Vorläufer geworden, um die Pflichten des Erstgebornen
20
vielleicht wie ein Schutzgeist und guter Engel seines künftigen Geschwisters
21
beßer zu erfüllen, als Fleisch und Blut zu dichten und zu leisten vermögend
22
ist. Wer von uns weiß, wozu seine
animula
vagula,
blandula
vom Vater
23
der Geister beruffen war? Wärs auch um einige göttliche Gesinnungen in
24
uns hervorzubringen, uns von dem
sinnlichen Genuß
zu entwöhnen,
25
der doch nur vergängliche Speise ist und nicht bleibt in ein beßeres Leben,
26
noch zu einem höheren Genuß fördert. Der Gegenstand meiner jetzigen
27
leidigen Autorschaft machte mir diese Ideen so weit und breit, und alles was
28
jetzt die Philosophie über Gott und Natur schwatzt, komt mir so abgeschmackt
29
vor u. ist mir so eckel als das Gewäsche des Gesindes über ihre Herrschaft
30
auf dem Fisch- oder Fleischmarkt.
31
Verzeihen Sie, mein auserwählter und erwünschter! das Gewäsche eines
32
alten Mannes, der aufs Gerathewohl hin schreibt, um zum Theil sich selbst
33
zu zerstreuen und aufzumuntern. Der mütterliche Schmerz wird Ihrem
34
Vaterherzen Festigkeit und Stärke zum Gleichgewicht geben. Das Wort
35
Sprühl war mir unbekannt; ich vermuthete, daß es eben die Krankheit im
36
Halse ist, welche man hier Schwämme oder Bräune nennt. Das Uebel war
37
damals im Abzuge, und ich hielte es nicht für nöthig um einen fliehenden
S. 497
Feind mich zu bekümmern; hab es nachher im Adelung unter dem Namen
2
Sprau gefunden.
3
Die beste Hoffnung muß mit
Resignation
verbunden seyn, und die Furcht
4
zu verlieren macht mich unruhiger, als der Verlust selbst. Davids Verhalten
5
bey einem kranken und todten Kinde ist gantz natürlich nach meinem Gefühl.
6
Sympathie ist nagender und wirkt stärker auf die Einbildungskraft –
7
Wie oft bin ich wegen Ihrer eigenen Gesundheit und während der
8
Schwangerschaft Ihrer lieben Marianne und nach der glücklichen Entbindung wegen
9
schlimmer Brüste in Angsten und Unruhe gewesen – Was haben mir Zähne,
10
Blattern, Masern p für Sorgen gemacht; weil ich mir immer das Ärgste
11
vorstelle, und mich immer auf jedes äußerste gefaßt halte. Was in den
12
gemeinsten Fällen Einbildung ist, sieht in den seltensten der Ueberlegung
13
ähnlich und hält mich schadlos. Ich führe Ihnen lauter Beyspiele häuslicher
14
Erfahrung an, und ich schäme mich gnug, daß ich dies kindische Wesen nicht
15
ablegen kann, worüber ich von meinem Gottlob! gesunden und erwachsenen
16
Gesinde oft ausgelacht werde, daß ich
nil humani
a me alienum puto.
17
Ich fand in meiner Jugend in einem alten Tröster einen Beweis von der
18
Unsterblichkeit der Seele aus dem A. T., den ich nirgends widerholt noch
19
aufgewärmt wider gefunden habe noch die Qvelle deßelben habe finden können.
20
Hiob bekam alles doppelt wieder, aber aus der einfachen Zahl seiner Kinder
21
ließe sich nicht anders schließen, als daß die Todten für lebendige
22
mitgerechnet werden müßten, und er also von seinem Geschichtschreiber als ein
23
wirklicher Vater von 14 Söhnen und 6 Töchtern, von denen aber nur die eine
24
Hälfte gegenwärtig und die andere abwesend war, geschätzt und angesehen
25
wurde.
26
Vorgestern muste den ganzen Tag im Bette zubringen, hatte aber eine so
27
gute Nacht, wie ich in vielen Zeiten mich nicht besinnen kann, und meine alte
28
gute Hausmutter feyerte ihren Geburtstag zum ersten mal in ihrem Leben,
29
weil ein Landprediger des
Kirchspiels,
wo sie zu Hause gehört, und seit
30
kurzem in der Stadt eine Stelle bekommen, mir aus den Kirchenbüchern ihren
31
Taufschein mitgebracht. Sie hatte ohne mein Wißen und Willen
Lisette
32
Reinette
zu Mittag bestellt, und zwo ihrer
Freundinnen,
meines Nachbars
33
u Artzts Miltz einzige Tochter und eines hiesigen Organisten
Podbielski
34
auch einzige, die ein außerordentl. gutes Kind in der Music u Malerey ist.
35
Gegen Abend kam der Briefträger außer Ihrer Hiobspost mit 2 andern
36
Briefen, einer weitläuftigen Antwort von Hartknoch, der auf seinen guten
37
Willen besteht, den ich nach der reinen Vernunft auch erkenne, aber eben so
S. 498
wenig annehmen als erwiedern kann – und einem Briefe von meinem Pr.
2
Kraus, der sich bey einem unserer gemeinschaftl. Freunde auf dem Lande
3
aufhält und eine Einl. an seinen kranken Liebling Steudel mir anvertraut,
4
auf deren Empfang u Bestellung ich schon
meines
unsers J.
Tiro
5
zubereitet. Sie werden aber
ebensogern
einem Kranken damit wohl thun. Ich
6
schreibe nicht eher nach Düßeldorf, als bis ich den vierten Probebogen
7
erhalte, der den Fortgang oder das Ende meiner leidigen Autorschaft
8
entscheiden wird. Ich bin gantz aus meinem
Concept
herausgekommen, und als
9
wenn eine höhere Hand in dem Spiele ist, weiß weder aus noch ein.
10
Es stürmt und regnet, daß Gärten und die umliegenden Wiesen
11
überschwemmt sind – –
12
den 29 –
13
Gottlob! das Wetter ist wider heiter; aber die reitende Post hat mir nichts
14
mitgebracht. Vielleicht ersetzt die fahrende diesen Mangel mit dem vierten
15
Bogen, und ich hoffe morgen auszugehen. Ich werde mich scheuen, wie
16
Hiskias sagt, all mein Lebtage vor solcher Betrübnis meiner Seelen. So ist mir
17
der Kitzel zu schreiben versaltzen und vereckelt worden. Vielleicht hängt von
18
diesem Geschwüre die Reinigung meiner Natur
und
von ihrer
materia
19
peccans
ab. Was andern
nugae
sind, werden
seria mala
für mich. Vater
20
und Autor zu seyn ist kein Kinderspiel.
Timent, fugiunt, qui sapiunt:
21
agitant
pueri,
incautique
sequuntur
22
Es geht mir mit dem Schreiben, wie St. Paulo mit dem Thun. Ich
23
schreibe, was ich nicht will, sondern das ich
haße
schreibe ich. Der Leib dieses
24
Todes macht uns zu elenden Menschen. Ich weiß selbst nicht, was ich bey der
25
Entkleidung auf dem Titel meines fliegenden Briefes, den ich
post factum
26
Zach.
V.
gefunden habe, eigentl. gedacht und im Sinn gehabt. Zeit und
27
Erfahrung werden michs lehren. Vernunft und Geschmack gehören zu den
28
Arcanis
der Zeit; sie macht das bittere und herbe, mild und reif. Mögen
29
Sies auch bald erleben.
30
Mit dem Gebrauche der Kämpfschen Kräuter und Wurzel fahre von oben
31
fort, werde zum dritten mal nächstens den rechten Weg wider versuchen. Alle
32
Morgen und Abend 2 bis 3 Biergläser, die einen angenehmen Nachschmack
33
für mich haben – ab und zu, aber nicht alle Tage ein Spitzgläschen
Aqua
34
distill.
der Pfeffermünze; weil ich vor der Hand mehr auflösende als
35
stärkende Mittel nöthig zu haben scheine. Diese Vorbereitungsmittel zu einer
36
Reise scheinen mir unentbehrlich zu seyn, und ich hoffe, daß die gnädige
37
Fürstin mehr ausrichten wird. Erhalte ich Ja (nicht im babylonischen Dialect
S. 499
auf einen Monath, sondern für den Winter, wo ich entbehrlich bin) so bin ich
2
wie ein Bräutigam reisefertig und den Herbst lieber als das Frühjahr,
3
welches ich mir eher zur Heimfahrt wünschte. Bewegung des Leibes und des
4
Gemüths werden die rechte Cur seyn, die einzige Arzneymittel meine mehr
5
unterdrückte als erschöpften Kräfte wider in Gang zu bringen. Ohne einige
6
seltene
momenta lucida
würde ich gantz an meinem Kopf
verzweifeln
Gott
7
gebe nur, daß ich Sie und Ihre
Marianne
gesund antreffe, denn ich bin ein
8
schlechter
Patienten
und Kinderwärter, als ein von Natur unbeholfener
9
Mensch brauch ich selbst Wartung und habe sicht- und dienstbare Geister
10
nöthig, dergl. verdorbene vornehme Herren es leider! zu viel auf der Erde
11
giebt. Ich hoffe, daß uns der Winter nicht zu lang werden wird – –
12
Ihren langen Brief hielte für den, welchen Sie fast den ganzen August
13
über auf Ihrer Reise schrieben. Darf ich Sie darum bitten nebst Ihrem
14
Tagbuch. Vielleicht gehören selbige auch zum Vorspann und Ausrüstungen
15
zu meiner Reise. Vielleicht find ich in Ihren Vertraulichkeiten, was ich suche
16
und woran es mir auch fehlt, um meines Daseyns vollständiger zu genießen.
17
Es giebt keine größere
faineantise
als Schreiben und Lesen, die gleichwol
18
jetzt mein einziger Beruff und Geschäfte zu seyn scheinen, ohngeachtet ich
19
selbige wie mein eigen Leben haße und verachte.
20
Sie werden, mein auserwählter und gewünschter B. der beste Paraclet
21
Ihrer
Marianne
seyn; Gott erhalte Ihnen nur die treue Gesellin Seines
22
Bundes und Seegens, laße ihn reichlich und fruchtbar seyn. Seine
23
Gerechtigkeit bleibt in Ewigkeit! 2 Cor.
IX.
9. Ich kann weder reden noch schreiben,
24
was ich durch einander empfinde.
25
Gottlob! daß es unserm J. in
Richmont
u Engl. wohl geht und dort
26
gefällt. Ich werde nicht eher an ihn schreiben bis er zu Hause ist. Vermuthlich
27
kennen Sie den Verf. der Resultate. Er hat das Vertrauen gehabt, sich mir
28
zu entdecken. Ein nach Curl. durchreisender Freund brachte mir einen Gruß
29
von Häfeli mit nebst einigen Schriften des dortigen Oberhofprediger
de
30
Marées.
Man hält auch dort Herder für den Verf.
31
den 31 –
32
Heute vor 8 Tagen brachte ich eine vergnügte Stunde bey meinem
33
ältesten und letzten akademischen Freunde, Kriegsrath Hennings zu. Den Tag
34
drauf rührte ihn der Schlag. Ich habe ihn gestern u heute besucht. Sprache
35
u Gehör haben sich Gottlob! wider gefunden, und er scheint außer Gefahr zu
36
seyn –
37
Gestern kam der zurückgebliebene Brief mit der fahrenden Post an, und
S. 500
der vierte Bogen auch. Habe das gedruckte noch gar nicht ansehen können,
2
werde
auch vielleicht weder heute noch morgen dazu kommen.
3
Muß wegen eines erhaltenen Einschlußes auch, (wo mögl.) nach Weimar
4
einmal antworten, und auf
Crispi
Aufträge noch mit dieser Post Bescheid
5
thun.
6
Gott laße Ihnen und Marianne sein Antlitz leuchten – Grüßen Sie
7
Freund
Druffzel
und das junge Paar, dem Sie als ein älteres ein gutes
8
Beyspiel zu geben schuldig sind. Zaudern Sie nicht mit der letzten Oelung zur
9
Reise für Ihren alten eilfertigen, immer harrenden, fast ungedultigen aber
10
noch nicht verzagenden, sondern bis zum Sieg mitduldenden und
11
mithoffenden Wintergesellen und Busenfreund
12
Johann Georg Hamann.
13
Ihr
langer Brief
und
Tagbuch
auf jeden Fall des Lesens oder
14
Nicht-schreibens soll mir der beste Zeitvertreib und Gegengift der langen
15
Weile seyn – Sporn und Peitsche für meine
vim intertiae,
wenn selbige noch
16
durch irgend etwas überwindlich ist. Gott sey zwischen, mit und bey Ihnen!
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841 r.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 326–330.
Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 100–107.
ZH VI 495–500, Nr. 1001.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
496/22 |
vagula, |
Geändert nach der Handschrift; ZH: vagula |
|
497/29 |
Kirchspiels, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Kirchspiels |
|
497/32 |
Freundinnen, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Freundinnen: |
|
498/5 |
ebensogern ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: ebenso gern |
|
498/21 |
sequuntur |
Geändert nach der Handschrift; ZH: sequuntur. |
|
498/21 |
pueri, |
Geändert nach der Handschrift; ZH: pueri |
|
498/23 |
haße ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: haße, |
|
499/6 |
verzweifeln ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: verzweifeln. |
|
499/8 |
Patienten ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Patienten - |
|
499/17 |
faineantise |
Geändert nach der Handschrift; ZH: fainéantise |