1003
S. 507
Kgsb den 2
Aug.
86.

2
Mein liebwerthester Freund Ariel-Schenk, ich bin recht beschämt und

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ärgerlich über die Mühe und Arbeit, die ich Ihnen mache, ohne daß ich weiß,

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wie ich Ihnen dafür danken soll.

5
Heute vor 8 Tagen den 26
pr.
erhielte Ihren Brief auf dem Bette. Sie

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bezogen sich darinn auf einen vorigen, den ich noch nicht erhalten hatte.

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Meine Unruhe darüber legte sich bald, nachdem mir ein wenig Zeit zu

8
überlegen genommen hatte. Der dicke Brief kam auch wirklich mit der fahrenden

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Post an. Diesen Morgen habe erst einen Augenblick gehabt, das gedruckte

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anzusehen, wenigstens zu untersuchen, ob nichts zwischen dem gedruckten

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Bogen und dem bereits erhaltnen
Mst
fehle – Es ist alles im Zusammenhange

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hier, und nun werden Sie, mein guter, treuer, zu sorgfältiger Freund Ruhe

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auf eine Zeit lang haben. Diese Woche werde ich kaum dazu kommen

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können, das gedruckte und geschriebene anzusehen. Gott gebe mir Lust und Muth

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auf die künftige Woche.

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Mein Sohn bringt mir diesen Morgen unerwartet den dritten Brief mit

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2 Bogen
C.
Ich habe nun Alles – und es fehlt an nichts als meinem eigenen

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Selbst
, das ich Ihrem thätigen, lebhaften
Ich
gewachsen zu seyn

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wünschte. Die Freude in Münster ist verwelkt, wie eine Blume. Den 27.

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erhielt ich in einer Zeile diese traurige Nachricht, die mich in ein Labyrinth von

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Betrachtungen führte, aus dem ich nicht wider herausfinden konnte. Mit

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genauer Noth habe ich mit der gestrigen Post geantwortet, weil man von dort

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aus an meinem Urlaub arbeitet und die Hoffnung einer diesjährigen Reise

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noch nicht gantz vereitelt ist. Ist es nicht gut, daß ich Jonathans kranke

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Augen mit meinen Fliegenfüßen und Mückenschrift verschont habe? Wenn

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wird der Mensch glauben, daß sich die Vorsehung bis auf unsere
Haare

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erstreckt und kein Wort weder unserm Munde noch ein Buchstab unserer

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Feder entfährt, ohne daß es der HErr nicht wüste.
Incredibile sed verum
– und

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dem ohngeachtet kommt es uns vor, daß unsere Kinder u Gedanken weniger

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werth sind als die Sperlinge, sondern fruchtlos und von ungefehr fallen.

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Unglaube ist das erste Element unserer Vernunft und verkehrten Denkungsart.

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Ich bitte Sie auf das inständigste sich nicht mehr wegen der Druckfehler

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die geringste Bedenklichkeit zu machen. Alles bisher von mir gedruckte,

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wimmelt von so vielen
Drucksünden
, daß diese letzte Schrift
engelrein
dagegen

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ist in Vergleichung aller übrigen. Die Eitelkeit wegen des Abdrucks ist leider!

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vergangen. Mein Ideal ist verhunzt, verdunkelt – ich verzweifele beynahe

S. 508
es erträglich herausbringen zu können – Der Himmel weiß, was für eine

2
Misgeburt herauskommen wird. Verlieren Sie darüber kein
Wort
mehr,

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noch machen Sie sich die geringsten Scrupel. Ihr schwarzes Lack hat mich

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beunruhigt. Gott lob daß sich mein Namensgenoße wider erholt vom

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Faulfieber, das ich auch aus Erfahrung kenne, wie
analoge
Gebrechen seiner

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Natur, die mehr Mitleiden verdienen und durch das gegenwärtige

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Verhalten des Vaters und seiner Freunde – Empfehlen Sie wenigstens unserm J.

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so viel Nachsicht für seinen Johann Georg, als er für mich hat. Dort wird

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sie beßer angewandt seyn, als hier; denn junge Leute sind noch
corrigible,

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aber an solchen verjährten Patienten –

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Mit meinen
moliminibus
der güldnen Ader geht es wie mit denen meiner

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Reise. Die zweite Probe, mir selbst zu
applici
ren ist auch nicht von Statten

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gegangen. Vielleicht gelingt der dritte Versuch zur Reise und Zurüstungen

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der Gesundheit beßer.

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Hätte ich die geringste
reelle
Kleinigkeit zu schreiben gehabt: so würde

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meine philosophische
Taciturnität
sogl. aufgeopfert haben. Die mir

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mitgetheilte Nachrichten sind für mich ein wahres Labsal gewesen; aber mit der

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Eilfertigkeit der Rückreise bin ich nicht recht zufrieden. Aber es heist auch

19
hier: nicht
quamdiu,
sondern
quam
bene.
und das Auge der Vernunft

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sieht sich satt
und erspart sich dadurch den Eckel der Eitelkeit – Wegen

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seiner Augen bin ich besorgt, und erwarte von Ihrer Freundschaft Dauer,

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bis Sie mir die gewiße Nachricht glücklicher Heimkunft gewähren können.

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Mit
Domin. VIII.
hoffe und wünsche ich meine Arbeit anzusehen, und

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einen neuen Sturm zu wagen. Nehme also von Ihnen Abschied, um mich

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völlig unterzutauchen – Ich bin auf
eine Höhe
gerathen, in der ich kaum

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auf einen Fischzug ohne ein neues evangelisches Wunder Rechnung machen

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kann. Muß meine Seegel einziehen, flicken, so gut ich kann, das zerrißene, und

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das Ufer zu erreichen mich bemühen – wenn ich nicht Schiffbruch leiden oder

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auf Sandbänken scheitern soll.

30
Heut vor 8 Tagen bekam ich auf dem Bette
Appetit,
die Resultate zu

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lesen. Es wurde mir beynahe Angst dabey von den ersten 100 Seiten sehr

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wenig zu verstehen. Aehnliches besinn ich mich bey dem ersten Anblick

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empfunden zu haben. Meine Verlegenheit wurde durch die Folge bis ans Ende

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desto reichlicher mit Zufriedenheit ersetzt. Andern ist es umgekehrt gegangen.

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Sie sehen daß ich widerholte Erfahrungen nöthig habe mein eigen Urtheil

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zu berichtigen. Einige Tage drauf brachte mir ein hiesiger Geistlicher mit

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desto lebhaftern Antheil das Buch zurück.

S. 509
Am Tage
Jacobi
wurde ich von einem aus Deutschl. nach Curl.

2
zurückgehenden Freunde überrascht, der mir gleichfalls meldete in
Deßau

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alles mögl. Gute von den Resultaten als einer Schrift des Herders gehört

4
zu haben, und sie selbst dafür gelesen hatte. Grüßen Sie herzl. von mir Ihren

5
lieben Nachbar
W.
an den ich gnug denke und mich auf seine
Bekantschaft

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freue. Ich habe nöthig seine Res. beßer zu studiren und zu verstehen, und sie

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gehören als ein Hauptstück zum Plan meiner Arbeit, deren Schicksal mir

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selbst noch ein Geheimnis ist. Der
Aposteltag
ist halb von mir in Engl.

9
u
Richmont
gefeyert worden, und ich bekam einen Besuch nach dem andern,

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von denen ich des Abends müde und den Tag drauf krank ward, aber mich

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bald wider erholte, daß ich der kleinen stillen Feyer des ersten Geburtstags

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meiner Hausmutter, den ich erst in diesem Jahr aus den Taufbüchern

13
herausgebracht, beywohnen konnte. Des Morgens am 27
pr.
wurde ich aber

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durch die Nachricht eines apoplectischen Zufalls zieml.
alteri
rt, der meinem

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einzigen u letzten akademischen Freunde begegnet, und mit dem ich noch

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dieselbe Woche einen vergnügten Montag mir gemacht hatte in der

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Abendstunde. Seit vorigem Sonntag, wo ich zum ersten mal ausgieng, besuche ich

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ihn alle Tage. Sprache und Gehör haben sich Gottlob fast gänzl.

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widerhergestellt, und ich hoffe in einer Stunde gute Nachricht von dem Fortgange

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seiner Beßerung einzuholen.

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Ich begreife nicht, warum man nicht von Berlinern so reden soll, wie man

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dort von Katholiken u Jesuiten redt, in allgemeiner und abstracter

23
Mundart? Es kam mir auch nicht wahrscheinl. vor, daß
Nicolai
Verf
des

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Sinngedichts seyn sollte. Die abgeschmackte
impertinente pointe
verdiente aber

25
eine
öffentl
Rüge.

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Kriegsrath Hennings, mein alter Freund, befand sich heute munterer, und

27
ich habe gute Hoffnung ihn noch zu behalten. – Ich habe eben guten Muth,

28
daß der genesene Patient seinem Vater noch Freude machen wird. Gott gebe

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Ihm Beßerung und Gesundheit! Wünschte noch alles mögl. diese Woche

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aufzuräumen, und reinen Tisch zu machen, um mit der neuen vollen Woche wider

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von neuen ansetzen zu können. Ist mit der neuen Auflage von den Briefen

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über Spinoza schon der Anfang gemacht? Ich wollte schon mit der gestrigen

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Post eine Einl. aus Riga nach Weimar, wohin ich schon seit dem 8
pr.
eine

34
Antwort schuldig bin
, schicken
. Mit Einlagen bin aber gewißenhafter

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selbige sogl. zu befördern, und habe auch diesmal ungern und wider Willen

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eine Ausnahme gemacht.

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Nunmehr hört es also mit der Preße auf, und es erfolgt ein Stillstand.

S. 510
Ob es mit der Correctur des vierten Bogens so lange währen kann, wie mit

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dem ersten, weiß ich nicht. Mein fester Vorsatz ist jetzt nichts weiter zu liefern,

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als bis ich gantz fertig bin. Von Ihrer Seite ist alles erfüllt und aufs beste

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gethan worden – und ich wünschte von der meinigen eben so glücklich und

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endelich zu seyn. Ich hoffe, daß keiner mehr
in puncto
der

6
Unmöglichkeit
an des andern Willen den geringsten Verdacht und Zweifel haben wird,

7
den ich nicht mit der That nicht zu widerlegen hoffe. Ich möchte nicht gern,

8
daß unser Freund und Jon. sich mit schlimmen Augen auf den Weg machte.

9
Gott laße seine Rückreise so glücklich seyn, daß er alles nach Herzenswunsch

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in seinem Hause finden möge, und erfülle noch vielleicht dies Jahr unsere

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Wünsche nach Seinem gnädigen guten Willen. Ich umarme Sie mit dem

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herzlichsten innigsten Dank, und bitte meinen Mangel freundschaftlich zu

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ersetzen. Die zurückgebliebene Briefe wollte beylegen; sie kommen aber Zeit

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gnug, und enthalten nichts als Jeremiaden. Vergeßen Sie nicht
  Ihren nach

15
Luft schmachtenden Freund Joh. Ge. H.


16
In einem Briefe aus Riga, den ich auch den 27
pr
erhielt steht: „Man

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will unsere Kinder zwingen den Normalkatechismus, den der Jesuit

18
Jannowitz
geschrieben anzunehmen, und unsere Kinder nach den übrigen Büchern

19
der Normalschule unterrichten zu laßen, weil man sich eine Vereinigung

20
aller
christl.
Religionen träumte und diese als die letzte Ehrensäule des

21
Ruhms denkt.“ – Wißen Sie dort nichts zuverläßiges von
D.
Stark?


22
Adresse mit rotem Lacksiegelrest:

23
HErrn / HErrn Geheimen Rath
Jacobi
/ zu /
Düßeldorf
.

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 65.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 263 f.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 321–325.

ZH VI 507–510, Nr. 1003.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
507/34
Drucksünden
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Druckfehlern
508/19
bene.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
bene,
509/5
Bekantschaft
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Bekanntschaft
509/23
Verf
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Verf.
509/25
öffentl
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
öffentl.
510/20
christl.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
christl