1004
510/25
Kgsberg den 3 Aug. 86.

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Herzlich geliebtester Landsmann, Gevatter und Freund,

27
Den 8
pr.
Ihr
Monitorium
richtig erhalten und durch Hartknoch die

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zweyte Sammlung nebst den Palmblättern und dem
Chef d’œuvre.
Die

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Dichtungen des Andreä ersetzte er selbst. Gott gebe Ihnen neue Kräfte im

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Bade, und fahren Sie fort sie
aliis inferiendo
zur Fortsetzung der Ideen

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und hebräische Poesie anzuwenden. Ich kann nichts schreiben, weil ich nichts

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habe, und an dem was ich zu schreiben leider! habe, nicht gern denken noch

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andere damit unterhalten mag.

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Sie können für mich so ruhig seyn in Karlsbade, wie unser J. in

S. 511
Richmont,
der vielleicht schon unterwegens ist. Ich habe nicht
ein einzig
mal an ihn

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in Engl. schreiben können, aber desto mehr an Engl. gedacht an Sonntage

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vom Fischzuge Petri. Daß aus meiner diesjährigen Reise nichts geworden ist,

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wißen Sie. Eine abschlägige runde
g
Antwort wäre mir nicht so

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unerwartet gewesen als der Einmonathl. Urlaub mit der Bedrohung, wenn ich

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länger ausbliebe, meine Stelle sogl durch einen
Surnumeraire
auf meine

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Kosten vertreten zu laßen. Daß es mit meiner Autorschaft nicht beßer geht,

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werden Sie leicht erachten können, und selbst die
Musa indignatio
versagt

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mir ihre Begeisterung.

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Den 5
Jul.
meldete mir B. seine Freude über einen kleinen Jose
p
f und

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den 9 war auch diese vorbey. Einl aus Riga sollte schon vorgestern abgehen.

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Ich kann aber weder lesen noch
schreiben.
mehr.
Mit dem Kämpfschen

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modo procedendi
wollte es auch nicht fort, so viele Proselite ich auch dazu

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gemacht. Ich brauch den Kräuter- und Wurzel
Extract à priori
und saufe

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alle Morgen und Abend wenigstens ein paar Biergläser voll aus.

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In Münster wird noch an meinem Urlaube gearbeitet, und ein wenig

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Artzeney ist eine unumgängl. Zurüstung auf den Fall einer Herbst-

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Excursion,
von der ich nicht abgeneigt bin. Ich reise also seit 2 Jahren ohne vom

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Fleck zu kommen, und hoffe daß es zum dritten mal Ernst werden wird. Das

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Pro
und
contra
in meiner Seelen können Sie sich leicht vorstellen. Ich glaube

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in diesem ganzen Zickzack ein Spiel der Vorsehung zu finden, und eine

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Herunterlaßung zu meinem Fleisch und Blut – Der Ausgang wird alles

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rechtfertigen und zu unserm Besten ausschlagen laßen.

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Ist es erlaubt zu wißen, wer die Dichtungen des Andreä und die

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Palmblätter gemustert – Ist Djengistan von Wieland? Der Verf. vom Ursprung

26
p
einer heil. Wißenschaft scheint auch ein Freund von uns beyden zu seyn,

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wie der Resultatenmacher, die man Ihnen in Berl. und Deßau zuschreibt.

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Ich wünschte Ihnen bald Zeit und Lust den
Spinozismum
in Erwägung zu

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ziehen, aus deßen bisherigen Vorstellungen ich nicht recht klug werden kann.

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Heute hab des
Penzels Dion Caßius
erhalten und Wunder in der

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Vorrede gelesen, die mich auf die Noten und den Appendix neugierig machen.

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Es ist immer Schade um die Talente dieses lüderl.
Menschen

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Sie haben, liebster Freund, 3 Bogen erhalten u ich am Sonntage den

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vierten aus der Preße. Ich bin ganz aus dem Concept gekommen ohne zu wißen

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wie? und ob ich auf den rechten Weg kommen werde. Ich und mein Gaul

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haben im Finstern getappt, und das letztere scheint dem blinden Instinct sich

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überlaßen zu haben – Die 3 Bogen müßen schon bleiben, ob es im vierten

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zum Bruch des Gewölks kommen und ein wenig heiterer werden wird, trau

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ich meinem gelähmten Kopf kaum zu. Noch eine Probe will ich machen

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künftige Woche mit den
Visceral-
Clistiren so wohl als mit dem noch eckleren

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Organo
meiner Autorschaft. Mein Ideal erschien wie ein Regenbogen, den

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ich mit Händen und Füßen zu erhaschen glaubte; noch kann ich nicht alles

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für optische Täuschung ansehen. Das Irrlicht soll mich nicht länger in

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Sümpfe locken, die grundlos sind. Jetzt komt keine Fortsetzung weiter ohne

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Ende, und es thut mir nur leid um die Mühe, die ich meinem Jacobi gemacht,

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deßen Gedult und Vertrauen die stärksten Proben ausgehalten.

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Was sagen Sie zu dem nicolaitischen Unfuge gegen Garve und selbst

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gegen Stark. Wißen Sie nichts von letzterem? Er hat sich freylich die Ruthe

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selbst gebunden und verdient damit gezüchtigt zu werden. Was geht die

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Berliner aber ein fremder Knecht an? und Bahrdt mit Schultz machen

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größere Misthaufen vor ihrer Nase, ohne daß ihre eigenmächtige Policey sich

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darin legt, wenn von Wahrheit und Christentum bey diesen Kunstrichtern

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die Rede wäre.

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Das Thema meines fliegenden Briefes ist freylich ein
aleae opus
und so

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kitzlich, daß es meinem Pegasus nicht gantz zu verdenken, wenn er ein wenig

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scheu wurde, und Winkelzüge machte, statt den geraden Weg zu gehen, und

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es erforderte einen gesunderen, stärkeren, festeren und gewandteren Kopf,

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und nicht einen von Alter, Krankheit, Hypochondrie und Grillen wackelnden,

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der Gedächtnis, Gehör und Gesicht verloren. Sie können sich nicht vorstellen,

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wie erschöpft diese drey Seelenkräfte in mir sind. Ich bin im eigentlichsten

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Verstande meiner Sinne nicht mehr mächtig, und die
momenta lucida
sind

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so selten und mislich, daß sie vorbey sind, so bald ich Gebrauch davon machen

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will. Mit meinem Unvermögen nimt mein Mistrauen gegen mich selbst

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noch stärker zu, und alles ist mir so unausstehlich, wie ich mir selbst bin.

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Ταλαιπωρος εγω ανθρωπος τις με ρυσεται εκ του Σωματος του

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Θανατου
τουτου
;
In diesem Nachhall finde ich meinen einzigen, höchsten und

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letzten Trost. Kahl und blind soll ich spielen, eine
Gigue
und
Bardus
nach

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dem Geschmack der Philister u ihres
Saeculi
pavonum?
.
Wenn ich
Eins

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im Kopf habe, vergeht mir die Lust zu
Allem
. Das ist mein
Ἑν
και παν
.

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Nichts ist reif. Äußere Umstände müßen noch meine innere Ahndungen beßer

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entwickeln. Ich traue eben so wenig den
deutlichen
als
dunkeln

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Begriffen; man kann sich durch beyde hinters Licht führen laßen; denn

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Finsternis ist wie das Licht, wie der Psalmist sagt. Ich suche nach dem Faden, der

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mich in das Labyrinth geführt, um wider herauszufinden.

S. 513
Also die Hoffnung uns einander zu sehen bleibt noch immer feste und

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unverrückt. Bewegung vornemlich Ausspannung des Gemüths ist das

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einzige Hülfsmittel meine Gesundheit zu retten und mein Leben zu erhalten. Ich

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überlies unserm
Jacobi
Ihnen wegen meiner zurückgegangenen Reise alles

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zu melden. Ich habe alles anwenden müßen ihn dazu zu überreden, und das

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Gewiße dem Ungewißen vorzuziehen. Jedermann dachte, daß mir der Urlaub

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nicht abgeschlagen werden könnte. Reichardt hat aus eigener Bewegung vor

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seiner Abreise daran gearbeitet. Ich glaubte daher mehr aus Gefälligkeit, als

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Überzeugung daran. Ohne
Plerophorie meines eignen Gewißens

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eine solche Reise zu thun, wäre mir in keinerley Absicht heilsam gewesen;

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mich aus dem Lande zu stehlen, und den Feind im Rücken und auf dem

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Nacken zu haben – – Mein liebster Gevatter, Landsmann und Freund, ein

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Paßah, keine Henkersmahlzeit soll mein Abendbrot seyn. Nicht durch meine

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Schuld wenigstens verlange ich einen solchen
Noel,
sondern einen ehrlichen

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saluum conductum
zum Valetschmause. Asmus mag schmollen; Sie

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werden mir Recht geben und alles verstehen, was ich sagen will –

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Gott schenke Ihnen nur und meiner verehrungswürdigen Frau Gevatterin,

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Pathgen und Ihr ganzes mir immer gegenwärtiges Haus Gesundheit, Leben

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und Seegen. Hier steht alles gut, und empfiehlt sich Ihnen und den Ihrigen

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zum voraus. Das Lesen wird Ihnen noch saurer werden, wie mir das

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Schreiben. Also
punctum
bis aufs Widersehen. Gott wird alle unsere

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Wünsche erfüllen, reichlicher und beßer, als wir selbige mahlen und dichten

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können. Ich umarme Sie und ersterbe

24
Ihr

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alter treuer Johann Georg Hamann.


26
Um Einl
a
ge zu befördern, muste ich schreiben. Ich sage die
Wahrheit

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und sie wird mir das Wort in Ihrem Herzen reden. Gott seegne Sie und

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laße die Cur wohl gedeyen! Amen.

29
Nach den heutigen Zeitungen ist Lavater auch
bey
in
Ih
Weimar

30
gewesen. Ich habe seit langer, undenkl. Zeit nicht an ihn schreiben geschweige

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Abrede zu einer Zusammenkunft nehmen können; so wie ich hier niemanden

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sehe noch besuche ohne ein Geschäfte oder Ruff zu haben – Selbst nach

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Münster nur geantwortet, wenn ich müßen. Nach D. habe allein schreiben

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müßen und leider! in den Angelegenheiten, die jenen u mir sauer gnug

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geworden sind, wenn nur nicht fruchtlos. Noch einmal Gott empfohlen und Ihrem

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treuen Andenken –


S. 514
Adresse:

2
Des / HErrn GeneralSuperintendenten Herder / Hochwürden / in /

3
Weimar
. /
frey Halle

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 300–301.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 331–334.

ZH VI 510–514, Nr. 1004.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
511/1
Richmont,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Richmont,
511/1
ein einzig
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
einzig
511/12
schreiben.
mehr.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
schreiben
mehr.
.
511/26
p
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
p.
511/28
Spinozismum
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Spinozismus
511/32
Menschen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Menschen.
512/32
Ἑν
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Εν