1010
526/28
Pempelfort den 22
ten
August 1786.


29
Vermerk von Hamann mit roter Tinte:
N
o
50.


30
lieber Vater Hamann,

31
Seit der Zeit daß ich an Dich schreibe, hat es mir noch nicht einmahl so

32
leid gethan daß ich einen Posttag versäumen mußte, als den vergangenen.

33
Ich lag an meinem bösen Kopfweh zu Bette. Den Posttag zuvor war ich im

34
Gewirre des Aufräumens, welches mir herzlich sauer geworden ist. Ich sah

S. 527
mich gar nicht durch wie ich wieder in Ordnung u Schritt kommen wollte.

2
Der Tag meiner Abreise von hier war mir so schnell über den Hals

3
gekommen, daß ich nicht ganz reinen Tisch hatte machen können, sondern vieles

4
nur bey Seite legen müßen. Nun hatte sich, während meiner Abwesenheit so

5
viel neues
gehäufft:
u mit mir selbst kam ein Haufen von Durcheinander,

6
s
daß
daß ich an das Licht machen in dem allen ohne Schauder nicht denken

7
konnte, u mich oft in einer Art von Verzweiffelung in einer Ecke meines

8
Zimmers auf den St
h
uhl warf, die Arme über einander schlug, u,

9
anticipando
vor Ermüdung einschlief. Dann ärgerte ich mich über meine

10
Schwachheit, die mir jedes Auseinanderwirren u Schichten so unerträglich

11
lästig, so Todesbitter werden läßt, daß mir dabey ein Angstschweiß über den

12
andern ausbricht, u ich laut aufschreien möchte. So griff ich von neuem

13
wieder an, u bin, nach öffterem die Hände sinken laßen u davon laufen, nun,

14
Gott lob, so weit, daß ich mir den Angstschweiß abtrocknen kann.

15
Der Brief an Schenk vom zweyten August ist angekommen, aber an mich

16
noch nicht an mich. Dem Verfaßer der Resultate hat die ihn betreffende

17
Stelle in diesem Briefe sehr wohl gethan. Er ist sehr herunter, der gute

18
Man
Mann, doch giebt sein Arzt noch immer guten Muth. – Ich sehne

19
mich, lieber Vater, nach Deinen verheißenen Briefen. Mir ist als wären die

20
andern nicht von Deiner Hand. Am Sonntag war ich ein wenig mürrisch,

21
da die Post wieder nichts von Dir gebracht hatte.

22
Die
Arcana coelestia
sind bestellt, u ich bin gewiß daß
er
Schönborn

23
sie auftreibt. Es wird gar nicht lange anstehn daß Du Nachricht davon

24
erhältst. Du mußt mir die Geschichte der Versäumniß Deines Auftrags

25
schenken, sie ist zu lang. Die Schuld kommt am Ende allein auf mich; Schenk hat

26
mich überführt. Ich habe mich genug darüber gegrämt, darauf kanst Du

27
Dich verlaßen.

28
Die Prinzeßinn hat betreffend Deines Urlaubs noch keine Antwort.

29
Buchholtz ist mit seiner Frau u einem Freunde, Nahmens
Rosier
nach Welbergen.

30
Wir wißen hier nichts zuverläßiges von D Stark. Der grimmige Prozeß

31
den ihm die Berliner M. Schrift an den Hals geworfen hat, scheint mir,

32
was seinen Hauptgegenstand betrifft, ganz leer an Beweisstücken. Ich bin

33
bereit mein ganzes Vermögen darauf zu verwetten daß die Geheimen

34
Gesellschafften keine
n
politische Quelle haben; am wenigsten eine Papistisch

35
politische. Daß man in unsern Zeiten nach durchlöcherten Brunnen
sucht

36
geht die kein Waßer haben, u sich von Keller auf den Boden, u vom Boden

37
in den Keller schicken, komt mir sehr natürlich vor, u läßt sich ohne

S. 528
Cryptojesuitismus begreiffen. Mendelssohn hat einmahl hierüber sehr vernünftige

2
Gedanken in der MonathSchrift geäußert, glaubt aber am Ende, dem

3
Unglück würde bald abgeholfen seyn, wenn man nur wieder anfangen wollte

4
die Wolfische Philosophie mit Ernst zu treiben.

5
Die neue Ausgabe meiner Briefe über Spinoza kommt diese Meße nicht

6
zu Stande. Es ist mir blos um meines Verlegers willen leid, der, wegen der

7
starken Nachfrage, vor einem Nachdruck bange ist. Vielleicht bringt diese

8
Meße die Rezensionen der allgemeinen Bibliothek und noch andre Dinge.

9
Am neugierigsten bin ich gegenwärtig auf den Aufsatz v Kant, u voll Furcht

10
daß ihn der Sept der Monatschrift noch nicht enthalten werde. –

11
Uebermorgen komt wieder die Weseler Post u mit Ihr vielleicht die Nachricht, wie der

12
neue Sturm den Du mit
Dom VIII
wagen wolltest abgelaufen ist. Die 4

13
fertigen Bogen des fliegenden Briefes werde ich nun in der ersten heitern

14
Stunde, wieder durchlesen. Mir fehlt der Bogen A, den ich morgen v

15
Duisburg
Mühlheim erhalten werde.

16
Gott erhalte Dich, Du lieber Herzensvater! Ich küße Dir die Hände, u

17
drücke sie fest fest an meine Brust –

18
Dein Fritz –


19
Der junge Spalding den ich zu Richmont
traf
, u der ein sehr

20
liebenswürdiger junger Mann ist, u voll glücklicher Anlagen u guter Kentniße hat mir

21
eine meine Vorstellung weit übertreffende Schilderung von dem Haß u der

22
Verachtung gegen das
Χ
stenthums
der unter den Berlinischen Philosophen

23
herrscht gemacht. Er hat z. B. Biestern sagen hören, man dürfe jetzt nur

24
nicht nachlaßen, u in zwanzig
Jahren
werde u müße der Nahme Jesus im

25
religiösen Sinne nicht mehr genannt werden. – Der historische Glaube an die

26
Schrift, ist auch dem alten Spalding ein Gräuel.


27
Adresse:

28
An den Herrn / Johann Georg Hamann / zu / Koenigsberg /
franco


29
Vermerk von Hamann:

30
d 6
Sept.
86

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 378.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 328–330.

ZH VI 526–528, Nr. 1010.

Zusätze fremder Hand

526/29
Johann Georg Hamann
528/30
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
526/29
N
o
50.
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
527/5
gehäufft:
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gehäufft;
528/22
Χ
stenthums
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Χ
stenthum
528/28
franco
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.