1015
1/2
Pempelfort den 4
ten
Sept. 1786.


3
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):

4
Erhalten den 16 – 
No
51


5
Ich habe Deinen Brief, lieber HerzensVater, und kann es nicht

6
aussprechen wie ich Dich habe u halte. Du sagst in dem nach London bestimmten

7
Briefe vom 22
ten
Juni: es hätte Dich befremdet, daß ich nicht gegen Dich

8
eben die Freymüthigkeit ausübte, die ich Lavatern
bewiese.
Lieber, ich bin

9
immer freymüthig gegen Dich; nur daß ich, im Entgegengesetzten des Tadels

10
den Ausdruck meiner Empfindungen in Absicht Deiner immer schwäche, u das

11
mehrste ganz verschweige. Du bist mir ein gewaltiges Zeichen, u Du sollst mir

12
die Rede Deines u meines Gottes nicht schmähen, wenn es auch nur Rede zu

13
mir allein wäre. Seine Erscheinungen sind nicht, wie Kant
behauptet,
alle nur

14
Erscheinungen
von Nichts
, u er hat sich öfter auch in Träumen offenbart.

15
Sey Du wer Du willst: der Hamann, den ich mehr als liebe; der mir Andacht

16
einflößt, u mein Herz zum Glauben stimmt –
Der
ist kein Hirngespinst, u

17
ich kein Thor der nur eine Wolke umfaßt.

18
Wenn Du mir auch nicht der unverletzliche wärest der Du mir bist, so

19
hättest Du dennoch wegen Deines Entschlußes den fliegenden Brief unvollendet

20
zu laßen, kein
qu’en dira-t-on
von mir zu befürchten gehabt. Dein Glaube u

21
Dein Gewißen sind mir so heilig, daß ich in mir selbst nichts habe was mir

22
in eben dem Grade heilig u ehrwürdig wäre. Aber so viel hätte ich doch auch

23
verdient, daß Du Dir in Absicht meiner wegen dieser Sache keine Gedanken u

24
Sorgen gemacht hättest. In dem Briefe an Schenk sprichst Du gar v Ersatz

25
der
Kosten
*
;
ein Angesinnen das schnurstraks gegen unseren Vertrag läuft, u

26
Dich Brüchtenfällig macht.

S. 2
Was Deinen fliegenden Brief, nach seinem Werth als Schrift betrachtet,

2
angeht, so finde ich bisher nichts an ihm warum er unterdrückt werden müßte.

3
Du weißt was ich Dir besonders über die letzten Fortsetzungen geschrieben

4
habe; derselbigen Meynung bin ich noch.


5
den 5
ten

6
Ich wurde gestern durch einen sehr unangenehmen Besuch gestört. Heinse

7
kam in mein Zimmer u sagte, Großmann (der Schauspieler) u seine Frau

8
hätten v ihm verlangt, er solle sie zu mir heraus bringen u.s.w. Es war noch

9
ein Schauspieler oder
entrepreneur
bey ihnen, u ein Buchhändler aus Cölln.

10
Ich hatte Großmann schon öfter gesehen, da er noch bey Sailer war u seit dem.

11
Der Mensch ist mir fatal. Mir wurde ganz ohnmächtig unter diesen

12
postischen Menschen, die ich gar nicht wieder los werden konnte. Wie viel ich heute

13
werde schreiben können steht dahin. Ich habe seit einigen Tagen einen Fluß im

14
Kopfe
der mich periodisch peinigt. Die Schmerzen fangen Morgens gegen

15
4 Uhr an, u laßen erst im Nachmittage nach. Gestern war es etwas beßer

16
damit; heute ist es wieder schlimmer. Ich kenne dieses Uebel unter allerley

17
Gestalten schon lange. Die Aerzte wißen ihm keinen rechten Nahmen; u es

18
scheint außer dem Würkungskreise aller ihrer Mittel zu liegen.

19
Daß Du am 24
ten
meinen Brief vom 11
ten
noch nicht hattest, nimt mich

20
Wunder. Du mußt nun auch einen 2
ten
schon erhalten haben. Der Deinige

21
eh er ankam hat mir die Zeit recht lang werden laßen, aber ich bin nun auch

22
recht wohl mit ihm dran. Ich wüßte kaum einen v Dir erhalten zu haben, den

23
Du so (das nach London bestimmte Blatt mit gerechnet) mit Liebe, Geist u

24
Segen getränkt hättest. Wahrlich, Lieber, Du bist nicht allein gut zu Fuß, wie

25
Du mit dem Gange nach Trotenau bewiesen hast, sondern es steht überhaupt

26
mit Dir noch ganz wohl. Jedes Wort das Du über den verstorbenen König

27
sagst, zeugt v LebensFülle u Abrahamitischer Samenenergie. Eben so jedes

28
Wort des Commentars über die Sätze: „Der Grund aller Ueberspannung ist

29
Leidenschaft, Schwäche“. u. „Instinkt v Leidenschaft zu unterscheiden ist das

30
Meisterstück des Verstandes.“ – Laß mich hier Dir noch ein Wort über

31
Deinen fliegenden Brief sagen. Wenn Du ihn auch dem Publico nicht geben

32
willst, was hindert Dich, wenn Dir wieder gute Stunden kommen, ihn blos

33
für Deine Freunde u in Gottes Nahmen zu vollenden? Es ist Wißbegierde

34
von einer guten Art, u
sonst nichts
, die mich so herzlich wünschen
läßt

35
den Plan, den Du in einem Briefe an Schenk v 12
ten
Juli vorgelegt hast,

36
ausgeführt zu sehen.

37
Mit Witzenmanns Gesundheit geht es, Gott lob, wieder alle Tage beßer.

S. 3
Ich mußte lachen wie er stutzte u erschrack, u so auch Schenk, da ich ihnen

2
verkündigte, Du wolltest Deinen fliegenden Brief unvollendet laßen. – Daß

3
ich Dir von Witzenmann vorher nicht geschrieben haben soll, wie Du mir

4
vorwirfst, ist ein Irrthum; ich habe seiner mehr als einmahl gedacht, unter

5
andern bey Gelegenheit der Vorlesungen v Pfenninger. Seitdem ist er in engeren

6
Beziehungen in meinen Briefen an Dich vorgekomen, ich weiß aber nicht mehr

7
genau, wie oder wann. Er grüßt Dich auf das kindlichste u herzlichste, u hätte

8
gar zu gern daß ich mit Dir von dem fliegenden Briefe spräche, wie ich mit

9
ihm davon spreche, weil er meynt das könnte helfen daß wir ihn vielleicht

10
kriegten. Aber ich wünsche Dir vor allen Dingen Ruhe; u was helfen kann

11
Dir diese zu verschaffen, möchte ich am liebsten thun.

12
Buchholtz wird Dir geschrieben haben, daß sich die Prinzeßinn v Oranien

13
wegen Deines Urlaubs an den jetzigen König gewandt hat, der aber damahls

14
noch Kronprinz war. Die Fürstinn v Gallitzinn meynt, wenn die Sache

15
während den Unruhen der Trohnbesteigung in Vergeßenheit gerathen wäre, so

16
dürftest Du nur daran erinnern, u Dich als den Mann nennen, für den die

17
Stadthalterinn geschrieben hätte. – Gott gebe daß Du noch kommst. Ich

18
hoffe alles für Deine Gesundheit v dieser Reise. Daß ich Dir nicht mehr

19
darüber sage, wird Dir viel gesagt seyn, wenn Du mein innerstes siehst, wie ich

20
hoffe. Ich bin so uneigennützig u so intereßiert dabey, u in einer so

21
mannigfaltigen Wechselwürkung, daß es mich stumm macht.

22
Daß die neue Ausgabe meines SpinozaBüchleins erst, ich weiß selbst noch

23
nicht wann erscheinen wird, habe ich Dir gewiß schon in meinem jüngsten

24
Briefe gemeldet. Die Jenaer Litteratur Bengel sind gar zu schlimme Vögel,

25
daß sie mich zwischen dem Blinden u dem Kantischen Glauben, wie Buridans

26
Esel, in die Mitte stellen,
u
in Hoffnung daß ich da regieren werde. – Den

27
Kantischen Glauben kann ich unmöglich auf mir sitzen laßen. Ich möchte eben

28
so lieb den Verdacht ich weiß nicht welcher unnatürlichen Sünde auf mir

29
haben. Wenn ich mich aber dagegen erkläre, so wird Kant böse werden, denn

30
man kann an sein System nicht rühren, ohne es zu zerbrechen. Sein Weltey

31
ist hohl, u kein Vogel hat je eins
v
mit so dünner Schale gelegt. Für den

32
decidierten
Idealismus ist
sie
die Schale hart genug, u dann ists ein

33
großes, schönes, herrliches Ey. Aber von der bloßen Heucheley irgend eines

34
andern Inhalts, platzt das Ding wie eine
Waßer- oder
Seifenblase. Mein

35
Verlangen nach der Abhandlung über das Mendelssohnsche Orientieren ist

36
fast sehr gros, u ich bereite mich so viel ich kann, es mit Geduld anzunehmen,

37
wenn ich sie in dem nächsten Stück der
Monatschrift
nicht finde.

S. 4
Ich begreiffe wie die Geschichte mit Hartknoch Dich geschoren haben muß.

2
Mit dem Schwedenborg, hoff’ ich, solls ihm beßer glücken. Melde mir doch

3
seine übrigen Aufträge, denn es schiert mich noch immer daß der erste nicht so

4
schnell ist ausgerichtet worden ist, als er hätte ausgerichtet werden sollen.

5
Ich höre nichts v Lavater, u will es nicht länger als morgen verschieben an

6
ihn zu schreiben. Ach, Lieber, ich habe versäumt Dir v Leipzig aus den

7
Pontius Pilatus, die Predigten über den Brief an Philemon, den Salomo, u ich

8
glaube noch ein Buch unseres Johannes schicken zu laßen. Doch bin ich nicht

9
gewiß, ob es durch mich oder durch Goeschen versäumt worden ist. Dieser

10
Goeschen ist lange nicht was er mir schien. Daß Du Lavaters Rechenschaft an

11
seine Freunde nicht hättest, wäre mir nicht eingefallen, da
s
Du sonst alles

12
ehe als ich zu sehen bekommst. Die vertrauten Briefe die Religion betreffend

13
vom alten Spalding,
h
wovon schon die 2
te
Auflage heraus ist, hast Du

14
doch gesehen. Der junge Spalding las mir zu Richmont die Stelle daraus

15
vor, über das Angesinnen denen Deisten eine Kirche in Berlin zu gestatten

16
(S. 276), u diese Stelle gefiel mir sehr. – Hier ein Brieflein v Schenk. –

17
Da bringt man mir Licht zum Siegeln. – Lebe wohl, Du Trauter, Lieber!

18
Ich drücke Dich an mein Herz – Gott mit uns!

19
Dein Fritz Jonathan.


20
Vermerk von Hamann:

21
Geantw auf 49. 50, 51 den 23
Sept.
– 25 auf dem Fragment vom 27
Aug.

22
nebst Einl. nach Münster auf dem Fragment vom 6. 7 den 22
Sept.

23
Wider geschrieben den 28
Sept.


*
am linken Rande:
heute, den 5
ten
, da ich Deinen Brief an Schenk noch einmahl lese, finde ich daß ich Dir unrecht gethan habe; also verzeih!

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 277 f.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 395 f.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 346–349.

ZH VII 1–4, Nr. 1015.

Zusätze fremder Hand

1/4
Johann Georg Hamann
4/21
–23
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
1/8
bewiese.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
bewiese,
1/13
behauptet,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
behauptet
1/25
Kosten
*
;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Kosten*,
2/14
Kopfe
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Kopfe,
2/34
läßt
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
läßt,
3/37
Monatschrift
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Monatsschrift