1019
13/22
Kgsberg den 25 7. des Vielgeliebten Geburtstage.

23
Liebster Freund Hartknoch.

24
Ich bleibe diesen Winter zu Hause und will das 2te
Decennium
meines

25
öffentl. Lebens schließen. Vom May 67 wurde ich welscher
Charon
.
Mit 77

26
wurde ich Packhofverwalter. Dies
Decennium
geht auch mit 87 zu Ende.

27
Der König ist bald erdrückt u erstickt worden mit Bittschriften. In so einem

28
Gewühle wollte ich das Leben der meinigen nicht wagen. Alles redt von

29
Veränderungen, deren Wechsel ich auch für nöthig und klug finde abzuwarten.

30
Meine Unvermögenheit zu schreiben ist also ein Rath der Vorsehung, dem ich

31
folgen will und folgen muste.

32
Ihr ältester Brief vom 19
Aug
kam mit dem Päckchen erst den 21 d. mir

S. 14
zu Händen u löste mir das Rätzel des jüngsten vom 26
Aug.
auf, den ich den

2
14 erhalten hatte ohne einen deutl. Fingerzeig auf den ersten zu finden. Ihr

3
Stillschweigen wegen
Rossi
und der Schweitzer
Medicin
war mir daher

4
unerklärlich

5
Den 16 erhielt ich den dritten Brief aus Pempelfort, noch zärtlicher als die

6
beyden ersten. Er schreibt mir unter dem 4 d. „Mit dem Schwedenborg hoff

7
ich soll es mir glücken. Melde mir doch, wenn ich ihm dienen kann, um den

8
Verzug des ersten Auftrages dadurch gut zu machen.“ Ich habe eben jetzt

9
seine 3 Briefe beantwortet und ihm auch ihren letzten Auftrag mitgetheilt,

10
ob er Ihnen die 8 Bücher verschaffen kann. Hiemit habe zugl. meinen

11
Briefwechsel auf dies Jahr geschloßen und von meinen Freunden dort Abschied

12
genommen. Warten Sie also, bis ich Antwort erhalte, die ich Ihnen gleich

13
mittheilen werde. Den Nachtrag zu Schwedenborg wegen der
Expedition
p

14
habe gleichfalls ihm überschrieben.

15
Sie fragen mich wegen einer Stelle aus meinem Briefe, die Sie nicht

16
verstehen. Es geht mir selbst so, daß ich vergeße, was ich im Schreiben so wohl

17
als Lesen gedacht habe. Die Verbindung, in der ich die angeführten Worte

18
geschrieben, ist mir eben so dunkel. Daß
die Gaben unerkenntlich

19
machen gegen den Geber
ist eine
traurige Erfahrung
. In einem

20
alten Liede heist es: Ach Gott ist noch dein Geist in mir


21
Die Gaben, die von deiner Hand

22
ich dankbar sollt empfangen

23
die sinds, die mich von dir gewandt,

24
die sind nur mein Verlangen. p


25
Sagte nicht Adam schon: das
Weib, das Du mir zugesellt hast
.

26
Sind Vernunft u Freyheit nicht die edelsten Gaben der Menschheit – und

27
beyde zugl. die Qvelle alles moralischen Uebels? Ohne Misbrauch schöner

28
u großer Talente gab es weder Gecken
in superlatiuo
noch Bösewichter von

29
blendender Gestalt. Alle Geschenke werden leicht zu Feßeln und Bürden, die

30
man sich zu erleichtern sucht, weil man nicht gern unter
Verbindlichkeit

31
und im
Zwange
, sondern lieber avthentisch leben und sein eigner Herr

32
seyn mag. Die Natur, diese sparsame Mutter giebt Anlagen und Anläße –

33
und ihr Gesetz des
Minimi
ist eine alte Sage. Vermittelst des Gegensatzes hat

34
jede Kunst, vorzüglich die
mimischen
und
nachahmenden
das höchste

35
Ideal zum Gegenstande, ein intellectuelles
maximum
und Hirngespinst; daher

36
so viele Fehlschüße unter den Schützen. Wo die Natur das meiste gethan, muß

S. 15
der Mensch am enthaltsamsten seyn ihr Werk zu verderben und zu

2
überladen. Mit Furcht und Zittern, Ehrerbietung und Dank nachahmen, nicht

3
die Natur aus Eitelkeit und durch Eigendünkel
auszustechen
suchen.

4
Wenn ich nicht aus leidiger Erfahrung an mir selbst, dies

5
innigst gedacht; so läßt es sich wenigstens denken
. Haben Sie

6
selbst Wohlthaten genoßen: so werden ihnen ihre Gesinnungen gegen die

7
Wohlthäter und die ganze Genealogie derselben in ihrer Seele keine geheime

8
Geschichte seyn können. Undank ist die
baarste Bezahlung
, womit man

9
gegen sein eigen Gewißen und den Leumund der Welt qvit werden kann. Die

10
ganze Kunst beruht nur auf die Erfindung einiger Mittelbegriffe seinen

11
schwarzen Undank mit Feigeblättern zu decken oder anzustreichen mit weißer

12
und rother Schminke.
Probatum est.
Seelig sind die Armen an diesem Welt-

13
und Schulgeist!

14
Unser verdiente Kritiker ist vom Min. Herzberg ungemein gnädig u

15
unterscheidend aufgenommen worden, so auch vom König, der ihm, wie es heißt,

16
eine Stelle bey der Akademie zugedacht haben soll. Zollikofer ist an
Me.

17
Courtan
durch Hill abgegeben worden. Ich habe mich vorige ganze Woche

18
nicht aus dem Hause gerührt, und meinem Gesindel soviel wie mögl. erlaubt

19
an den
ludis circensibus
Antheil zu nehmen. Kein Brodt noch Wein noch

20
Geld noch Braten noch Muthwillen ist dem Volk gestattet worden. Es hat

21
also an Kurzweil so wohl als Mord und Todschlag gefehlt.
Unser Kgsb.

22
Unser Oberbürgermeister
hat auch
ist einen Geh. Rath
u Stadt

23
Praesident
en wie Berlin
geworden; und Ihr HE Schwager ist auf gute Wege

24
der
Necker
seines Vaterlandes zu werden. An meine Autorschaft ist nicht eher

25
zu denken als bis ich gesunder bin. Heute das 84
Lavement
u des Abends 85.

26
Mein
Appetit
ist unbändig. Bewegung fehlt dem Gemüthe u Leibe. Neue

27
Luft, Eindrücke, Triebfedern – kurzum, ein neuer Wein und ein neuer

28
Schlauch!
Comm.
R.
Wulff
u Hill danken und freuen sich nebst mir auf die

29
Ankunft der Schweitzermittel. Ihnen u den Ihrigen empfehle mich mit

30
meinem ganzen Hause als Ihr
treuer Altflicker und Kannengießer

31
Joh Ge.
Hamann.
  
Vale et faue


32
Adresse mit rotem Lacksiegelrest:

33
HErrn / HErrn
Hartknoch
, / Buchhändler in /
Riga
.


34
Vermerk von Hartknoch:

35
HE Hamann in Königsberg

36
Empf.
d.
20
Sept
1786

37
beantw
d
23 –

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 5.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 342 f.

ZH VII 13–15, Nr. 1019.

Zusätze fremder Hand

15/35
–37
Johann Friedrich Hartknoch

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
13/25
Charon
.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Charon.
14/4
unerklärlich
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
unerklärlich.
15/31
Hamann.
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
Hamann