1020
16/3
Herzenslieber Fritz Jonathan. Gestern den 27
Sept
tratt mein Michael in

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sein 18stes Jahr. Ich hatte mich den ganzen Monath lang auf diesen Tag

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gefreut, der aber nicht gefeyert ward, als daß ich den ganzen Tag zu Hause

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zubrachte. Zum Frühstück wurden wir mit unserm kleinen
Thomas Malleolus

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fertig. Ich ermannte mich zu einer Arbeit, vor der ich mich bisher gescheut

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hatte und an die ich nicht ohne Eckel und Verdruß denken konnte. Gegen

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Abend, wie ich im besten Schuße bin, komt ein Brief aus M. vom 7 d. wo

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alles dasjenige enthalten war, was Du mir unterm 4. vorläufig gemeldet

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hattest und worauf ich seit dem 16 gewartet.
Tot et tanta negotia
sind für

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mich allein wichtige Ursachen mich nicht in dem
Schritt
zu übereilen. Die

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geheime Schreiber haben gnug auf meine Landsleute geflucht, die den neuen

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Landesvater überfallen und belagert haben. In einem solchen Gewühl würde

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auch meine Bittschrift erdrückt und erstickt worden seyn. Eben die

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Bescheidenheit glaube ich der großmüthigen Fürstin und der noch höheren Mittelsperson

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schuldig zu seyn. Ich überlaße es Dir
mein
dies Gefühl
und
meiner

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Unwürdigkeit für eine so ausnehmende Huld und Gnade auszudrücken, weil

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ich es selbst nicht im stande bin, auch unser lieben B. zu danken. Gehorsam ist

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das angenehmste Opfer in den Augen desjenigen, der ins
Verborgene

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sieht und
öffentlich
vergilt. Das hab ich erfahren, und hoffe es noch

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augenscheinlicher zu erleben. Nichts von ohnegefähr; warum muste eben an

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einem so kritischen Tage, nach 9 verlornen Monathen –
nonum prematur

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in annum,
sagt Horatz – die Liebe zu meinem verlornen Briefe wieder

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aufwachen? Den 17
Xber pr.
setzte ich zu erst die Feder an. Ich bin gestern bis

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in den Bogen B gekommen, muß aber meine
Kräfte zu Rathe
halten,

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wenn ich nicht wieder verwildern soll. Ein Brief von meinem Freunde wird

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ein Labsal für mich seyn, aber die Antworten muß ich schuldig bleiben. Habe

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die Freundschaft, wie ich bereits gebeten, meine letzte Einlage mit dem was ich

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Dir geschrieben, an meinen B. zu ergänzen, dem es eben so geht wie mir,

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sobald es aufs Schreiben ankommt, fehlt es mir an Worten meine

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Gedanken auszudrücken, die unterdeßen verfliegen und verrauchen. Ich glaube auch,

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daß die elende Witterung eines so feuchten und kühlen Herbstes meine

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Lebensgeister
zu einer Reise gedämpft hat, und auch diese hängen von

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Ihm ab, der Wolken, Luft und Winden giebt Wege, Lauf und Bahn. Also

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manum de tabula!
und Bedenkzeit zum Schritt ins Heiligtum des
Cabinet
s.

S. 17
Dem
Tempelhern
de la Haye de Launoy
soll auch der Urlaub

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abgeschlagen worden seyn, um den er,
sagt man
, so dumm gewesen gleich beym

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Antritt der neuen Regierung anzuhalten. Sollte meine Autorschaft durch die

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jetzige Palingenesie eine neue Gestalt gewinnen: so bin ich meinen Freunden

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und Feinden, folglich auch mir selbst diesen letzten Versuch meiner Kräfte

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schuldig. Vaterland und Mutterkirche sind die beyde Angeln meines

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Patriotismus. Ich habe mehr zu beschneiden als zu flicken. Auch mein einziger mir

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übrig gebliebener Freund
Crispus
soll an meiner Arbeit keinen Theil mehr

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nehmen; ich will meine reine Haut zu Markt bringen. Gehts nicht; desto

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beßer, wenn man alles gethan hat, sich als einen unnützen Knecht zu erkennen.

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Hier liegt doch aller Weisheit Ende; wie dort ihr Anfang. – Ich muß mit

12
dem 90.sten
Lav.
zu Bette eilen und habe nun alles für heute gesagt, was ich

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zu sagen im stande bin. Hör nicht auf mich zu lieben, mit mir Gedult zu

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haben, mir so oft Du kannst zu schreiben, mir in Ansehung der Aufträge nach

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London Bescheid zu ertheilen, meine Unterlaßungssünden gegen
Diotime
und

16
Alc.
auf Deine Schultern zu nehmen, und für meine Entschlüßungen des

17
morgenden tages unbesorgt zu seyn, auch auf keine Antworten Dir Rechnung

18
zu machen, als wo Ausnahmen mir nöthig scheinen werden. Ich bin unter

19
1000
G
Küßen (leider in Gedanken) und eben so viel Grüßen an alle die

20
Deinigen – denen ich wie Dir selbst Gesundheit, Freude und Friede wünsche,

21
(
praenumerando
allenfalls bis zu dem bevorstehenden
A. S. R.
87.) von mir

22
und
meinen
lucubrirenden, schlafenden und spinnenden Gesindel   Dein

23
großer Heiliger mit dem Lindwurm.
J. G.


24
Adresse:

25
An / HErrn Geheimen Rath
Jacobi
/ zu /
Düßeldorf
/
F
o
Wesel


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Vermerk von Jacobi:

27
Koenigsberg den 28
ten
Sept 1786.

28
J. G. Hamann

29
empf. den 12
ten
Oct.

30
beantw / den 13
ten

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 286–288.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 396–398.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 5: 1786. Hg. von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2005, 355 f.

ZH VII 16 f., Nr. 1020.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
17/1
Tempelhern
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Tempelherrn
17/22
meinen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
meinem
17/25
F
o
Wesel
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.