1040
96/17
Kgsb den 28 Jan.
IV
p Ep
87.
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Mein alter Herzenslieber Gevatter, Landsmann und Freund. Ich wollte
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heute Petri Schifflei
n
zu Ehren in die Kirche
gehen,
die ich nur ein einzig
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mal in diesem Jahr und im vorbeygehen besucht. Die Kälte ist aber ein Löwe
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für mich, und ich fange diesen Sonntag mit einem Briefe an Sie an, aber
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auch unter einem Nothzwange, den ich mir selbst aufgelegt habe. Gott gebe,
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daß es in Ihrem Hause so wohl steht, wie in meinem eigenen, wo alles gesund
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ist, mich selbst nicht ausgenommen. Gute Nachricht von Ihrer Gesundheit und
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der Erholung meiner Frau Gevatterin, Pathchen und übrigen Genoßen Ihres
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Herzens und des meinigen hat mir Pr. Haße mitgebracht, den mir Kraus
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den 14 Nov.
p.
ins Haus führte. Er machte mir Hoffnung zu einem Briefe
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von Ihnen, auf den ich mit gutem Gewißen nicht fügl. Rechnung machen
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konnte. Sie haben sich um unsere alte Pflegmutter Albertine sehr verdient
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gemacht, uns diesen fähigen, thätigen, unermüdete
n
Mann zugestutzt zu
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haben, bey dem mein Joh. Michel das Syrische u Arabische mit seinen
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Freunden lernen kann. Ich habe ihn seit dem angeführten
Dato
nur 2 mal in
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meinem Hause gesehen, erwarte ihn aber diesen Mittag mit Kraus, meinem
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Nachbar und Artzt Miltz deßen Tochter und meiner
Lisette Reinette
zu einem
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Haselhüner Schmause, den ich unserm Hartknoch zu danken habe; welcher
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mich zugl. mit der Nachricht erfreut, daß Sie mit dem
III.
Theil Ihrer Ideen
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fertig sind. Er hatte mich aber gebeten Sie um die Fortsetzung dieser Arbeit
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flehentlich zu bitten und daran zu erinnern. Unsers George Heyrath wißen
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Sie und werden sich eben so wie ich darüber gefreut haben. Ich habe gleich
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bey dem ersten Besuch von
Hasse
mit ihm die Abrede genommen, daß ich ohne
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eine Einl. von ihm nicht schreiben würde. Ich habe sie endl. gestern fertig
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bey ihm gesehen und er versprach mir, sie heute mit seiner
Disp.
mitzubringen.
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Also
muß
ich
schreiben;
ohngeachtet ich Ihnen, liebster H. nichts melden
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kann, als immer daßelbige, was Sie schon lange wißen. Versicherungen von
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meiner alten Freundschaft haben Sie nicht nöthig; wegen der Ihrigen bin ich
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auch ruhig, und mehr durch
thätige Beweise
überzeugt, als ich es durch
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leere reine Wünsche zu thun im stande gewesen bin. Die Erfüllung erwarte
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von der Göttlichen Vorsehung, der ich durch
horrendas ambages Obscura
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rerum inuoluentes
wie ein Blinder nachtappen muß, ohne den Weg und
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Ausgang meines Schicksals absehen zu können.
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Meine lächerl. Autorschaft ist ins Stecken gerathen, zu meinem Glück und
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mit meinen Reiseentwürfen geht es eben so wenig vom Fleck. Ich bin wie
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angenagelt und gebunden, nicht im stande mich zu rühren, und muß stille halten,
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die Entbindung ruhig abwarten. Das Ding mag heißen, wie es wolle,
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Einbildung, Hypochondrie, Eigensinn, Ahndung –
De verbis simus faciles;
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nur daß ich die zureichenden Gründe und die wahren Ursachen mir selbst kaum
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recht klar und deutlich machen kann, die Wirkungen aber desto nachdrücklicher
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fühle. Reichardt hat noch vor seiner Abreise alles gethan, wie Sie vermuthl.
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selbst von ihm werden gehört haben, und ich soll blos reden oder schreiben.
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Das kann, mag, will und soll ich nicht. Hier liegt der Knoten, den ich nicht
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zerhauen noch zerschneiden will. Der ihn gemacht hat, wird ihn am besten
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aufzulösen wißen: so
werden wir seyn wie die Träumende
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Ψ
CXXVI.
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Meine Reise ist
Pflicht
, und damit scherze ich nicht. Meine ganze
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Autorschaft ist Thorheit, und meine Verwünschungen sind Thorheiten, aus
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denen ich mir eben kein
Gewißen
machen
würde
und noch weniger mich
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schämen
würde selbige eben so feyerlich zu widerruffen, als ich selbige
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ausgeschüttet habe. Aber es ist Etwas anderes, das mir im Herzen wehe thut,
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und mir in meinen Nieren sticht, und das ich nicht los werden kann, als durch
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Reden oder Schreiben, das mir dadurch eben so zur Pflicht wird, als die Reise
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selbst. Irre ich hierinn; so geschieht es auf meine Kosten, und ich denke, daß
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mir der Kitzel vergehen wird mit der Zeit von selbst, wie ich von selbigen
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angefochten worden
bin
.
Ich kann hievon nichts mehr sagen, als ich noch
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bisher selbst weiß, und da dies meine letzte Arbeit seyn soll, so kommt selbige
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zeitig gnug zum Feyerabende meines Lebens, vor oder nach der Reise. An
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diesem kleinen Umstande ich
ist
nichts gelegen.
Sat cito, si sat bene.
Ende
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gut, alles gut.
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Den 9
Xbr pr
kam mir früher wie gewöhnlich das Berl. Blättchen in
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die Hände und erfuhr daraus das Gerücht von Ihrem Ruffe nach Berlin.
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Ohngeachtet mir die Anmeldung eben nicht gantz gefiel noch die Bestimmung,
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war ich vor Freuden ganz ausgelaßen, lief zu
Haße
ihm auch Nachricht zu
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geben. Er speiste aber bey dem Minister von der Gröben; und ich war willens
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den Tag drauf an Sie zu schreiben; aber die Hitze verrauchte, und wenn ich
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die Hand an die Feder legen will, ziehen sich alle Lebensgeister zurück. Ich
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wünschte Sie wohl, lieber Gevatter, nach Berlin um mit mehr Lust als bisher
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an dies Jerusalem denken zu können, aber nicht gern als einen Hohenpriester
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noch
Cho
hen – lieber, Herr Abt!
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Die Mädchen sind schon alle da, und spucken um mich herum, daß ich
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werde aufhören müßen; es fehlt noch an den Junggesellen. Wenn sie meinen
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Magen hätten, sie wären schon längst hier –
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Ich habe in diesem Jahr weder nach Düßeld. noch M. geschrieben, und
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bin beiden Antwort schuldig. Muß aber erst mit diesem Briefe fertig seyn um
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einmal wider in Gang mit meiner verrosteten Feder zu kommen.
24
den 29 –
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Nun sitze ich wieder mit verdorbenem Magen, schäme und ärgere mich,
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daß so ein alter Knabe – Was bey den bevorstehenden Neuerungen aus mir
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werden wird, darum bekümmere ich mich nicht. Die Neuerungen bestehen
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darinn, daß alles auf den alten Fuß wider kommen soll. Wird wohl alles auf
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eine
Contradictio in adiecto
hinauslaufen, und mit dem besten Willen es
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beßer zu machen alles ärger werden, als es gewesen ist. Mit dem Ende des
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Mays soll alles klar und ins reine gebracht seyn. An Schreiben ist heute nicht
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zu denken, noch so lange ich
in suspenso
leben werde, und mehr zu fürchten
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als zu wünschen habe.
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Gott gebe, daß ich die neue Ausgabe Ihrer theol. Briefe selbst von Ihnen
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abholen kann. Ich habe sie noch nicht einmal zu sehen bekommen. Auf den
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dritten Theil Ihrer Ideen freue ich mich. Gott gebe Ihnen Gesundheit – Ruhe
S. 99
und Freude sey bey Ihnen zu Hause! Er sorget für uns, Er hütet und wacht,
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es steht alles in Seiner Macht. Ich bin nicht einmal im stande diesen
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Umschlag der Einl. voll zu machen. Die Reise müste Wunder an mir thun, wenn
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Sie sich, liebster H. nicht in einer einzigen Stunde satt an mir gesehen haben
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sollten. Auf so gutem Wege bin ich, ein vollkommener
Brutus
zu werden.
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Leben Sie desto glücklicher mit Ihrer würdigen Hälfte und Ihren lieben
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Kindern, an die ich tägl. denke. Beten Sie für mich u die meinigen. Gott wird
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helfen. Amen.
9
Adresse:
10
Des / HErrn GeneralSuperintendenten Herder / Hochwürden / in /
11
Weimar
.
Fr.
Halle
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 302–303.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 349–350.
ZH VII 96–99, Nr. 1040.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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96/17 |
IV |
Geändert nach der Handschrift; ZH: IV. |
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96/19 |
gehen, ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: gehen |
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97/7 |
Hasse |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Haße |
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97/10 |
schreiben; ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: schreiben, |
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98/3 |
bin . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: bin. |
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98/8 |
Xbr pr |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Xbr. pr. |
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98/11 |
Haße ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Haße, |
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99/11 |
Fr. Halle |
Hinzugefügt nach der Handschrift. |