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Vermerk von Hamann:
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Erhalten d 15 Febr. 87.
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Wohin bin ich gekommen, lieber alter Gevatter u. Freund, daß ich Ihnen
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in so langer Zeit nicht geschrieben habe? Ich fand Ihren Brief, als ich aus
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dem Karlsbade zurückkam; aber zugleich empfing mich ein solcher Strom u.
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Wirbel aufgeschobner Geschäfte, daß ich an kein Schreiben denken konnte.
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Ich mußte nachher an die Ideen gehen u. es war als ob alle Geister sich
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dagegen
ge
verschworen
hätten: Monate strichen hin, ehe ich mit Ernst daran
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denken konnte: nun empfing mich diese Arbeit so ganz: ich habe Monate lang
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mit so innigem Fleiß daran gearbeitet, daß mir abermals jede andre Richtung
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der Gedanken unmöglich ward. Als das 4te Buch geschloßen hatte, kam
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Reichard, der 8. Tage lang hier blieb u. deßen Gegenwart, so angenehm sie
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mir übrigens seyn mochte, einen gewaltigen Halt in meiner Gedankenreihe
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machte, so daß ich nachher bei dem 5. B.
wie
in eine neue Welt kam. Ich sehe,
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daß
ichs
jetzt nochmals umarbeiten muß, um nur
ei
den
Faden zu verfolgen, den
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ich verlaßen hatte u. da alle übrige Geschäfte, Zerstreuungen,
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Verhinderungen ihres Weges gehen: so habe ich mich diesen Winter mehr als jemals, wie
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ein geplagtes Lastthier
gefühlet
. Biegsamkeit der Gedanken ist, glaub ich, das
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Erste das sich mit den Jahren verliert, wenn sie nicht durch Freundschaft und
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jenen lebendigen frohen Umgang erhalten wird, der mir hier völlig
fehlet
.
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Meine einzige Gesellschaft, Göthe, ist seit dem October in Rom u. ich sitze
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jetzt
vnus solus totus
allein hinter der Kirche. Eine Reihe andrer Menschen
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erscheinen mir wie abgetragene Kleider und ich danke Gott, wenn sie mir nicht
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auf den Weg kommen, um mir Tage zu verderben. Also bin ich so in mich
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zurück gesunken, daß mir das Leichteste schwer wird
und
ich mein Tagewerk
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vollendet glaube, wenn ich, oft auch ohne Lust u. Liebe, deren Zug mir
of
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beinah ganz fehlet, dem ehernen Joch der Nothwendigkeit blind u. stumm
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folge. In dieser Lage des Gemüths war ich auch gegen sie stumm:
necessitati
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ignosces.
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An
Haus†
hat es uns auch nicht gefehlt: denn ob wir gleich aus dem
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Karlsbade sehr gereinigt, gestärkt u. gesund wiedergekommen sind, worüber
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ich insonderheit meiner Frauen wegen, Gott danke: so hat doch der ganze
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Winter sie diese Gesundheit wenig in Freude genießen laßen.
Seit
dem
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November u. December ist das Haus ein Lazareth gewesen, zuerst mit einer
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tödtlichen Krankheit der Nichte meiner Frauen, die sich jetzt kaum wieder
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erholt hat: sodann mit einem äußerst beschwerlichen u. gefährlichen
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Keuchhusten der Kinder, an welchem noch die zwei jüngsten elend leiden. Er ist diesen
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Winter so epidemisch gewesen, daß in der Stadt viele Kinder daran gestorben
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sind: es ist ein Jammer, die armen Geschöpfe quicksen zu hören, so daß ihnen
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eine Reihe von Minuten hin die Luft fehlet. Abend u. Nacht ist das Uebel
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stärker: meine Frau hat also des Schlafs solange entbehren
müßen,
u. daß
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Freude u. Munterkeit bei solchem Getön entweiche, darf ich nicht noch sagen.
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So ist der Winter hingegangen, ein trauriger Freudenloser Winter. Wir
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hoffen auf Frühling, Trost, Aufmunterung u. neues Leben. Aber trotz meines
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Stillschweigens hätten Sie doch schreiben können, lieber Alter u. ich habe oft
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einen Brief von Ihnen mir wie eine Taube mit dem Oelblatt gewünschet.
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Ich dachte, die Veränderung Ihrer Regierung, Ihres Departements u. f.
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würde Ihnen ein Wort in den Mund geben; ich hoffte aber vergebens. Das
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Uebel hat Sie doch nicht auch getroffen u. stumm gemacht? Ich hoffe nicht
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u. warte sehnlich auf ein Wort Nachricht von Ihnen, was Sie mit Ihrem
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Hauswesen machen? wie Sie leben? wiefern die Veränderung der Regie
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Einfluß auf Ihre Lage hat u. Ihnen Ihre politische oder ökonomische
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Exsistenz erleichtert? u. f. Von meiner Bestimmung nach Berlin werden Sie
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auch gelesen oder gehört haben. Gottlob, daß es ein Grundloses Gerücht
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kam
war, das auf
gar
keine andere Art wie zu jedem an mich gelangte.
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Reichard
erzählte
daß der König selbst durch Erwähnung meiner dazu
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Gelegenheit gegeben habe, fügte aber auch zugleich hinzu, was für Tumult u.
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Unruhe diese Erwähnung unter den großen u. schönen Geistern Berlins
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angerichtet habe, wie sie sich alle dagegen vereinigt
etc.
welches mir herzlich
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lieb ist. Dahin gehöre ich nun einmal nicht, in die Zeit u. in eine so
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erzwungene, aufgedrungene Lage. Ich habe, dünkt mich, Lehrgeld gnug darüber
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gegeben, was aus solchen Situationen herauskomt u. stecke meinen Kopf in
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ein solches Netz nicht.
Nil mihi cum istis; nil istis mecum.
Also Gott mein
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Schicksal empfohlen! u. ihm Dank gesagt, daß meine Gegner in Berlin für
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mich so heilsam wirken. Mir wird ja noch ein Plätzchen aufbehalten seyn, wo
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ich niemand zur Last u. zum Gräuel bin.
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O mein lieber alter Freund, wie schaal u. eckel wird einem das Getränk
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des Lebens mit andern Menschen, wenn man hie, dort u. da auf nichts als
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die trüben Hefen stößt. Meine Autorschaft als das
principium mali
ist mir
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bis zum höchsten Ueberdruß verleidet u. vereckelt: soviel andre Dinge meines
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Amts u. bürgerlichen Joches auch. Was mich noch am meisten freuet, ist das
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hiesige Gymnasium, ob ich gleich auch da in Absicht mancher Lehrer auf einem
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schönen großen Clavier ohne Saiten spiele u. auf Sancho-Pansa’s Esel
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einen Griechischen oder Brittischen Wettlauf halte. Die träge Masse der
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Materie, die
vis inertiae
ist die Hauptkraft der Welt: sie hält alles
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zusammen u. weiß nur lebendig zu seyn im Widerstande.
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Jacobi hat sich seit seiner Wiederkunft aus England nicht gemeldet. Göthe
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ist, wie gesagt, in Rom: er reiste aus dem Karlsbade dahin u. genießt
viel-
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u.
schönbeschäftigt
dieser Ausflucht auf
den
Boden der alten claßischen
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Kunst. Seine Werke werden gedruckt u. die Iphigenie ist ganz neu
worden
.
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An meinen Ideen wird auch gedruckt u. ich hoffe, bald dieser Rennbahn
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entkommen zu seyn. Was macht Ihre Schrift? Ich habe außer
den
3. ersten
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Bogen nichts weiter
e
nt
rhalten
; sagen kann ich nichts darüber, bis ich sie ganz
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habe. Ich bitte, zögern Sie nicht:
s
Sie
haben die Hand einmal an den Pflug
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gelegt, ziehen Sie sie nicht zurück u. fahren die Furche hinunter. Es steht ja
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nachher bei Ihnen, ob Sie die Schrift publiciren wollen oder nicht. Meine
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Frau empfielt sich Ihnen bestens. Ich umarme Sie, lieber Freund u. Gevatter,
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mit ganzer Seele. Grüßen Sie Ihr ganzes Hauswesen u. erfreuen mich bald
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mit einem erquickendem
Briefe
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Herder.
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Inlage bitte aufs baldigste zu besorgen.
Provenienz
Krakau, Jagiellonenbibliothek, Slg. Autographa der ehemaligen Preußischen Staatsbibliothek zu Berlin (ehemalige Berliner Signatur: Acc. ms. 1886. 53, Nr. 35).
Bisherige Drucke
Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 226–228.
ZH VII 106–109, Nr. 1042.
Zusätze fremder Hand
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Johann Georg Hamann |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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ge verschworen ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: verschworen |
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107/2 |
wie ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: rein |
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ei den ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: den |
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107/3 |
ichs ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: ich |
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107/6 |
gefühlet ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: gefühlt |
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107/8 |
fehlet ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: fehlt |
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107/13 |
und ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: u. |
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107/18 |
Haus† ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Hauskreuz |
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Seit ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Mit |
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müßen, ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: müßen |
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erzählte ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: erzählte, |
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viel- ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: viel – |
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108/30 |
den ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: dem |
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108/30 |
schönbeschäftigt ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: schön beschäftigt |
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108/31 |
worden ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: geworden |
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108/33 |
den ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: dem |
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108/34 |
e nt rhalten ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: erhalten |
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108/35 |
s Sie ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Sie |
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Briefe ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Briefe. |