1043
109/7
Düßeldorf den 12
ten
Februar
1787.


8
Vermerk von Hamann (Erhalten-Vermerk und Nummerierung mit roter Tinte, Antwort-Vermerk mit schwarzer):

9
den 28
Februar
No
59

10
Geantw
. den 10–12 Marz.


11
lieber Vater!

12
Ich habe gestern Deinen Brief v 30
ten
u 31 Januar erhalten. Du machst

13
Dir Vorwürfe daß
ich
Du so lange nicht geschrieben
hast
.
,
u ich mache mir

14
dieselbigen Vorwürfe in Absicht Deiner. Zwar habe ich viele u große

15
Verhinderungen gehabt, u hätte gewiß mehr als einmahl geschrieben, ohne mich

16
daran zu kehren daß Du nicht antwortetest, wenn ich diese Verhinderungen

17
nicht
gehabt hätte. Aber bey allen diesen Verhinderungen, würde ich denn

18
doch auch geschrieben haben, wenn der rechte Trieb dazu da gewesen wäre.

19
Aus Deinem letzten Briefe war mir, ich weiß so ganz genau nicht was,

20
entgegen gekommen, das sich zwischen diesen Trieb u seinen Gegenstand gestellt

21
hatte. Ich hoffte auf einen
zweyten
anderen Brief von Dir; der kam nicht.

22
Das vermehrte die Hemmung. Nun würkten einige außerordentliche

23
Hinderniße die sich hervorthaten mit voller Gewalt. Das
Schrifsteller
Unwesen muß

24
ich wohl oben an stellen. Drey Schriften habe ich für die nächste Meße zu

25
besorgen. Ein im November angefangenes u bis auf diese Stunde noch nicht

26
ganz vollendetes Gespräch; den Alexis v Hemsterhuis, deutsch u französisch;

27
und mein Spinoza Büchlein mit Zusätzen. In meiner Arbeit wurde ich

28
unaufhörlich durch kleine Unpäßlichkeiten unterbrochen; u nun kam noch folgendes

29
dazu. 1) Sollte mein Schenk Sindicus des Bergischen Ritterschafts
Collegii

30
werden. Neßelrode hatte schon vor 3 Jahren den Anschlag dazu aus wahrem

31
Patriotismus gemacht, u unter der Hand die Mittel zur Ausführung bereitet.

32
Nun war er der entschiedensten Mehrheit der Stimmen gewiß u wollte die

33
Sache durchsetzen. Ich müßte viele Bogen voll schreiben wenn ich erzählen

S. 110
wollte, was bey dieser Gelegenheit alles geschehen ist. Die Partheyen erhitzten

2
sich bis beynah zum Blutvergießen. Genug die Wahl ist
bi
auf den

3
künftigen Landtag verschoben worden. In den letzten Tagen dieser Begebenheit

4
überfiel mich ein starkes mit heftigen Schmerzen
verknüftes
Flußfieber. An

5
einem Tage, den 16 Januar, wo es sich etwas zur Beßerung anließ, fieng ich

6
einen Brief an Dich an, mußte aber schon bey der
1
ten
Zeile aufhören. Es

7
kamen neue Zufälle, u das Fieber wurde stärker als es vorher gewesen war.

8
Hier muß ich mein 3
tes
einschieben. Von Witzenmanns Befinden habe ich Dir

9
geschrieben daß es immer schlimmer wurde; auch, wenn ich nicht irre, daß er

10
den Anschlag hatte zu Kämpf nach Hanau zu reisen, u.s.w. Da aus der Reise

11
nach Hanau nichts wurde, war ich, wegen des unaussprechlichen Widerwillens

12
den Witzenmann gegen seinen hiesigen
Arzt gefaßt hatte in der größten

13
Verlegenheit. In Düßeldorf war kein anderer zu dem er mehr Vertrauen

14
hatte, u selbst in der Gegend nicht. Da ich Witzenmanns Krankheitsgeschichte

15
an Hofmann nach Mainz geschickt hatte, so gerieth Dohm, der mich zu dieser

16
Zeit besuchte auf den Gedanken, er wollte diese Krankheitsgeschichte auch

17
dem Doctor Wedekind in Mühlheim, einem Schüler u Freunde v Hofman

18
zu lesen geben. Dieser könnte dann wenigstens bey der Ausführung v

19
Hoffmanns Vorschlägen Beystand leisten, u mit Hoffmann correspondieren.

20
Hierauf schrieb Wedekind an mich, u schickte ein Gutachten. Verschiedenes in

21
diesem Gutachten gefiel Witzenmann sehr. Gleich darauf kam Wedekind

22
eines Geschäftes
wegen
hierhin, u besuchte mich u den Kranken. Der Mann

23
gefiel Witzenmann, u gefiel ihm um so mehr, da sein hiesiger Arzt ihm das

24
leibhafte Bild des Todes war. Einige Mittel wurden verabredet, einige

25
Briefe wurden gewechselt, u nach 8 Tagen
stattete
machte uns Wedekind,

26
auf mein Bitten
den
einen zweyten Besuch. In seinem letzten Briefe hatte

27
er den Wunsch geäußert, Witzenmann bey sich in Mühlheim
in
zu haben.

28
Ich lag bey Wedekinds Ankunft den zweyten Tag an meinem Flußfieber

29
krank, u war kaum bey Sinnen vor Schmerzen. Wedekind hatte beym

30
Eintritt in mein Haus gleich nach Witzenmann gefragt, u war zu ihm geführt

31
worden. Hier entschloß sich der Kranke gleich dem Arzte nach Mühlheim zu

32
folgen. Den andern Tag gieng Wedekind nach Mühlheim zurück, um die

33
nöthigen Vorbereitungen zu machen. Den dritten (am 13
ten
Jan) begab sich

34
Witzenmann auf
den
weg, um den
1
4
ten
einzutreffen. Wie nah mir diese

35
Trennung gegangen kanst Du Dir vorstellen, denn ich war überzeugt daß ich

36
meinen Freund nie in meinem Hause wieder sehen würde. Er selbst war im

37
höchsten Grade bewegt, u gewiß noch viel tiefer erschüttert als ich selbst.


S. 111
Mühlheim am Rhein den 16
ten
Febr 1787.

2
Ich konnte diesen Brief am Freytag (den 13
ten
) nicht vollenden, weil

3
Kopfschmerzen u Schwindel mich nöthigten, da ich kaum eine Stunde auf gewesen

4
mich wieder zu Bette zu legen. Ich muß nun die Fortsetzung meiner Erzählung

5
aufgeben. Die Hauptpunkte die noch kommen sollten, waren 1) ein sterbender

6
Graf v Hatzfeld, Schwager v Neßelrode, der mich kaum 4 Mahl in seinem

7
Leben, u nur sehr im Vorbeygehen
mich
gesprochen hatte, u nun sehr

8
verlangte daß ich zu ihm kommen möchte. Ich entschloß mich den Augenblick,

9
ob ich gleich mein Fieber noch nicht los war, mich einzupacken u zu dem

10
Kranken hinzufahren. Daßelbige mußte ich verschiedene Tage nach einander

11
wiederholen. Ich wurde wieder krank, u mußte doch noch einmahl zu dem

12
Sterbenden. Unterdeßen war Reichardt gekommen. Er blieb bis den 4
ten

13
Februar. Den 6
ten
fuhr ich zu meinem lieben Witzenmann, der ein so großes

14
Verlangen zu mir hatte, als ich zu ihm. Den 7 kam ich zurück. Erst Heute

15
wollte ich wieder hierhin reisen. Die Nachrichten die ich aber von meinem

16
Kranken erhielt waren so bedenklich, daß ich mich schon gestern auf den Weg

17
machte. Nun bleibe ich hier bis Sonntag. Schwerlich wird mein Freund weit

18
in den Marz hinein leben. Er sehnt sich unaussprechlich, daß sein Leiden ein

19
Ende nehmen möge. Ich soll Dich recht herzlich v ihm grüßen. Wenn ich so

20
vor ihm stehe, oder
nahe
neben ihm ruhend ihn in meinen Armen halte –

21
der Lebendige der mir so gut als schon gestorben ist – O, Lieber! – Wir

22
wandeln in einem dunkeln finstern Thale!

23
Ich muß schließen. Nim mit diesem unordentlichen elenden Geschreibe vor

24
lieb. Ich drücke Dich an mein Herz, das im Glauben an Gott allein mich

25
noch erhält.

26
Dein Fritz Jonathan.

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 321–323.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 454 f.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 6: Januar bis November 1787. Hg. von Jürgen Weyenschops, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2012, 23–26.

ZH VII 109–111, Nr. 1043.

Zusätze fremder Hand

109/9
–10
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
109/7
1787.
]
Neben dem Datum von fremder Hand notiert: Witzenmann
109/7
Februar
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Febr
109/10
Geantw
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
beantw
109/13
hast
.
,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hast,
109/23
Schrifsteller
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Schriftsteller
110/4
verknüftes
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
verknüpftes
110/6
1
ten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
1
ten