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Königsberg den 21 März 87.

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Wolgeborner Herr Kriegsrath,

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HöchstzuEhrender Gönner und Freund,

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Vorigen Sonntag besuchte mich HE Brahl und erhalte heute die

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Antwort, daß im Hartungschen Laden bereits ein gebundenes Exemplar nebst

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auch vier rohen auf Käufer wartet; und eine Parthie von den Vorlesungen

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hat zurückgeschickt werden müßen, weil der erste Theil einen guten Abgang

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gehabt, die übrigen aber liegen geblieben. Meinem Geschmack ist es mit der

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Folge ebenso gegangen; aber mit meinem Urtheil will ich bis zum Ende des

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Gantzen zurückhalten. Meine eigene Empfehlung hat also auch mit dem 1.

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Bande aufgehört. Ich besitze das Werk selbst, und weiß keinen andern

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Ausweg als meinen lieben guten Beichtvater, falls er das Buch noch nicht besitzen

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sollte, wie ich beynahe vermuthen muß.

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Mein Ihnen, HochzuEhrender Freund, zugedachter Besuch des Morgens

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26 Febr. ist der letzte Gang gewesen. Ein Schmerz am linken Fuß nöthigte

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mich bey HE Meyer anzusprechen, und von da hinkte ich zu Hause und bin

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die ganze Zeit über nicht ausgewesen, habe wie ein Oedipus das Bette hüten

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müßen wegen einer oedematischen Geschwulst, die von jedem Druck ein

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Grübchen nach sich läßt. Die arthritischen Schmerzen hörten bald auf und die

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Geschwulst hat sich auch nach dem Gebrauch eines Wermuthsweins beynahe

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gantz verloren, daß ich noch diese Woche auszugehen, höchstens den nächsten

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Sonntag hoffe. Mein einziger Freund
Crispus
hat mich auch während meiner

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ganzen Unpäßlichkeit nicht besucht, hat am Magenkrampf viel ausgehalten

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und ist mit Arbeiten überhäuft gewesen. Ueber meinen Magen kann ich nicht

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klagen, der bleibt noch immer wacker, und ich habe mehr Ursache einen Exceß

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als Defect meines Appetits und außerordentlichen Geschmacks an Gottes

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Gaben, mit denen ich verhältnismäßig versorgt worden bin, zu besorgen.

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Hartknoch hat mir Haselhüner und mein noch immer kranker Freund Kr

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Hennings eine Rehkeule geschickt. Holländische Heeringe theile ich mit meinem

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Freunde und Artzt HE Milz, der sein Haus nach Wunsch verkauft und auf

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Ostern ein neues bezieht, auch in dem Sprengel meiner Nachbarschaft. Des

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Herrn Jacobi Jgfr. Base honorirt alle meine Assignationen auf Sauerkraut

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und da ich auf meine alte Tage ein Obstnäscher geworden bin, habe ich mich

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verführen laßen ein Faß geschälter Reinetten zu kaufen, von denen ich alle

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Tage eine gute Portion
con amore
verzehre, um sie dem Schicksal ihrer

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verfaulten Brüder zu entreißen.

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Ich lebe also einen stetigen Wechsel von Freud und Leid, von Schwelgerey

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und Dürftigkeit, halb wie der reiche Mann im Evangelio halb wie sein

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Schweitzer Lazarus der auf einen Vorspann der Engel zu seiner Reise in

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Abrahams Schooß wartet. Die heraklitische u demokritische Augenblicke sind

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so getheilt, daß mir der Abend so willkommen zum Schlafen ist als der

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Mittag zum Eßen.

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Unser alte Freund Hintz soll am Schlage auf der Straße gestorben seyn

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und seine Wittwe erwartet ihre Entbindung. Einer meiner jüngsten Freunde,

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Thomas Witzenmann, ist eines desto langsameren Todes gestorben. Ich habe

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einen einzigen Brief von ihm zum Andenken erhalten, wo er mir schon sein

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Ende ankündigt. Meine Freude ihn zu sehen ist also nicht erfüllt worden. Er

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hat die letzten Jahre seines siechen Lebens in dem gastfreien Hause meines

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Jonathans in D. zugebracht, starb in seinen Armen zu Mühlheim und war

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geboren zu Ludwichsburg, wo sein Vater ein rechtschaffener Tuchmacher ist,

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den ich aus einem Briefe an seinen sterbenden Sohn sehr hoch und werth

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schätzen muß. Einige Abhandl. des seel. und freywilligen stehen in Pfennigers

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Sammlung zum Magazin, die ich Ihnen meines Wißens längst mitgetheilt

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habe. Er hat noch einige Handschriften nachgelaßen, die ich in
loco
zu sehen

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hoffe entweder dieses laufende oder nächste Jahr mit Gottes gnädiger Hülfe.

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HE Pr. Kant hat mir ein angenehmes Geschenk mit seinem

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Dedicationsexemplar der Blicke in die Geheimniße der Natur gemacht. Ich bin aber nicht

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im stande gewesen dies Schaugericht zu genießen. Stillings Romane sind

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mehr nach meinem Geschmack‥ Das ungleiche
Assortiment
des Triumvirats

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machte mir schon den Inhalt verdächtig und ist auch eingetroffen.

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Göthe lebt in Rom, und der
III.
Theil der Ideen ist unter der Preße,

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Jacobi arbeitet an einer neuen Ausgabe seines Spinozabüchleins, an

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Dialogen aus dem fr. u übersetzten Alexis – und, mich selbst nicht zu vergeßen, seit

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dem 17
Xbr.
85 an dem
puncto finali
meiner Autorschaft und ihrer

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schwarzen Kunst. Mehr als 2 Bücher schönes Schreibpapier zu reiner Maculatur

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gemacht, und bin mit genauer
Noth
auf 2 Bogen = ⅓ des Ganzen. Zwölf

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Tage nach der merkwürdigen Epoche meines schiefen Mauls legte ich die erste

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Hand ans Werk, griff es mit Freuden an. Es wird mir eben so schwer die

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Hand vom Pfluge zurück, als die Furche herunter zu ziehen, daß ich mit dem

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genesenden Hiskias singen kann: ich werde mich scheuen alle meine Lebtage

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vor solcher Betrübnis meiner Seelen – Nein
punctum,
dies soll der Benoni

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und Benjamin meiner agonisirenden Muse seyn.

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Mit meinen
moliminibus
bin ich noch ein größerer
Cunctator.
Es geht

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mir wie unserm Philosophen und Kritiker in seiner Jugend mit dem
salto

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mortale
über den Mondschein, oder Rinnstein. Sie werden es beßer wißen,

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wie ich. Mein Hans Michel ist heute
pro Decano
bey einem # Strafe dictirt

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und die Heimsuchung eines academischen Lectoris hat mir 12 gl. gekostet. Er

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hat für die lange Weile über die medicinische Encyclopädie und zur bloßen

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Probe
Cadauera
ansehen müßen, ohne noch an seinen
Cursum Medicinae

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pro facultate in spe
zu denken. Er hört bey unserm thätigen Hasse Syrisch

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u arabisch, liest alle Nachmittage mit seinen beyden Nicolovius den

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spanischen Don Quixote und griechischen Plutarch. Vater und Sohn haben in ein

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paar Monathen den Quintilian durch gepeitscht, den
Telemaque
zum ersten

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mal mit eben so viel Zufriedenheit gelesen als Florians
Numa Pompilius
mit

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Ueberdruß und Ekel. – Die kleine Johanna Brahlin erscheint und meldet

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den Besuch ihrer Eltern an.

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Meine jetzige Seelenweide besteht in des Andreae
Mythologia Christiana.

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Von seinen 300 Apologen ist kaum ein kleines Drittel übersetzt. Ich habe mit

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der ersten den Anfang gemacht und will meine kleine häusl. Akademie, die aus

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meinem Sohn und seinen 4 Freunden Hill, Raphael und dem
par nobile

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fratrum
besteht, anspannen zur Fortsetzung und Uebung. Hahn, nicht mein

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goldner Postillenschreiber, noch der printzmetallne Märchendichter, sondern

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der auf dem
Sterquilinio almae nostrae
disputirt den 27
h.
und Raphael

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opponirt
muß mit 8 rth für diese Ehre büßen – Wie gehts mit ihren Land-

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und Kirchenangelegenheiten? Ich habe seit kurzem die modernste Postille, eine

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Sammlung von Predigten und eine über die häusliche Andacht – und warte

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mit Schmerzen auf seine Ausgabe des
Burnets de Officiis,
die unser

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mildthätige Oberhofprediger ausgeliehen hat. Seit der ältesten Widerlegung des

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M. Jerusalems von dem Zellschen Jacobi hab ich nichts kräftigers gelesen

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als eines anonymen (Barbaren oder Gothen) Gedanken über
d
o
insofern

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diese Schrift dem
Χ
stentum entgegen gesetzt ist
sind
. Sie ist in Bremen 786

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bereits erschienen und bisher unbemerkt geblieben.

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Empfehlen Sie mich bestens der geehrten Frau Gemahlin. Ich nehme

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herzlichen Antheil an den Freudentagen Ihrer Nachbarschaft, und bitte die

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Schwatzhaftigkeit meines epistolischen Gänsekiels zu entschuldigen. Hans

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Michael erscheint mit glühenden Wangen vor Freuden, daß alles gut

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abgegangen ist; und empfiehlt sich Ihrer Gewogenheit. Ich ersterbe

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Dero

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ergebenster Freund und Diener

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Johann Georg Hamann.


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Adresse:

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An / Herrn Krieges Rath
Scheffner
/
Sprintlacken
/

Provenienz

Druck ZH nach dem überlieferten Typoskript Walther Ziesemers. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Preußisches Staatsarchiv Königsberg, Nachlass Johann George Scheffner.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 353–356.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, III 268 f., 271

ZH VII 124–127, Nr. 1048.