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Hier ist mein
Tom. III. Idearum,
liebster Hamann, Ich wünsche Ihnen

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dazu guten Appetit u. daß er Ihnen nicht harte oder lose Speise dünke. Das

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letzte ist er mir wenigstens nicht geworden, eher das erste.

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Der Winter ist für unser Haus eine böse Zeit gewesen; der Husten hatte

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bei den Kindern so stark Posto gefaßt,
ha
daß er bei dem Jüngsten noch

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sein Recht behaupten will. Meine Frau hat viel dabei ausstehen müßen. Ich

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wünsche Ihnen, eine
r
frohere Zeit durchlebt zu haben: denn die unsre war

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öde u. traurig.

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Göthe ist noch in Italien u. kreuzt jetzt Siciliens Küsten umher. Daß

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Dahlberg zum
Coadjutor
in Mainz u. Worms gewählt worden, wird Ihnen

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die Zeitung gesagt haben.

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Von Jacobi ha
b
tte ich lange nichts gehört, bis er sich wieder durch ein

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Büchelchen meldete. Ich werde ihm nächstens ein Ähnliches schicken, deßen

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Druck verzögert ist, Ihnen gleichfalls, lieber Alter u. ich wünsche, daß es Sie

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zur guten Stunde finde.

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Wunderbar verändern sich mit den Jahren auch der Menschen Sinne. Die

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Blüthen der Phantasie fallen mir von Tage zu Tage mehr herunter; das Lob

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wird mir gleichgültig u. fast widrig, weil ich sehe, wie u. wem es ertheilt wird,

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auch daß es mir nichts hilft. Der Tadel wird mir auch ein gewohnter
jargon

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u. ich möchte als ein oft gebranntes Kind bei jedem Buch beinah die Recension

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in deßen u. deßen Seele abfaßen. Was ich mir von Jahr zu Jahr mehr

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wünsche ist Nutzbarkeit u. Wahrheit. Mein Morgen war unbedachtsam,

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mein Mittag ist lastvoll; Gott gebe mir einen zwar nicht müßigen, aber

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ruhigen Abend. Alles ist Eitelkeit hienieden u. das
W
Schema dieser Welt

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vergehet.

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Ueber Reichard hätte ich mancherlei zu schreiben; doch
ich
warte ich

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lieber, bis die Sache sich mehr entwickelt. Er ist ein Preuße, der gute Reichard!

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Machen Sie doch, liebster Gevatter, meinen besten Gruß an Hippel u.

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Scheffner. Letzterm möchte ich so gern ein Ex. von den Ideen schicken u. ihn

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um sein Urtheil aus landesfreundlicher Seele bitten; aber ich habe keins.

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Ich will bei Hartkn. ansuchen, daß er ihm eins überantworte.

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Grüßen Sie doch auch Fischern, wenn er Ihnen aufstößt. Ich schäme mich,

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daß ich ihm solange einen Br. schuldig bin; aber ich bin einmal im völligen

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Bankerut der Correspondenz. Haßens Wohlseyn u. seine Bestrebsamkeit in

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Königsb. freuet mich; ich danke für Seinen Brief
e
u. bitte ihm meine

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Theilnehmung zu bezeugen. Für seinen Bruder hat sich noch nichts thun laßen:

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es liegen zu viel am Teich Bethesda. Wenn er sich mit Paradoxieen in Acht

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nimmt, kann er in Königsb. ein vergnügtes, nützliches Leben führen. Es ist

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schön, in
seiner
Jugend bereits ein so bestimmtes Ziel zu haben, nach

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welchem man strebe. Ich wollt’, ich hätte es auch gehabt; jetzt ist die Blüthe

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meiner Zeit vorüber. Leben Sie wohl, bester lieber alter Freund u.

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Landsmann. Gehe es Ihnen u. Ihrem Hause wohl an Leib u. Seele. Verzeihen Sie

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den armen Brief eines Entkräfteten, der fast nicht mehr zu schreiben weiß; es

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wird eine beßere Stunde geben. Meine Frau empfielt sich aufs beste u.

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schönste. Ihr Bruder ist jetzt hier, der ihre
Niece,
die einige Jahre bei uns

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war, zurückholet. Der Informator unsres Hauses ist Gottlob Pfarrer

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geworden u. ich habe ihn vorigen Sonntag eingeführet. Uebermorgen gehen

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die 2. ältesten ins Gymnasium, die 2. folgenden bei einen
Candidat
en. Mit

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dem Anfange des Frühlings verändert sich unser Haus also sehr. Gott gebe,

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daß wir uns selbst auch erneuern u. verjüngt werden. Ihnen wünsche ich

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Alles, liebster H. was ich mir selbst wünsche.
Vale et fave
Tuo
H.


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Vermerk von Hamann:

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W. 28. Apr.
87.

12
Erhalten den 18. Jun. – durch
HE
Hartknoch.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 304–305.

Bisherige Drucke

Herders Briefe an Joh. Georg Hamann. Im Originaltext hg. von Otto Hoffmann. Berlin 1889, 228–230.

ZH VII 181–183, Nr. 1061.

Zusätze fremder Hand

183/11
–12
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
183/3
Niece,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Nièce,
183/11
87.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
87
183/12
HE
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
HE.