1065
196/9
Kgsb. den
13
May
Vocem Jucunditatis
87
10
Liebster Jonathan, ich schreibe wenige Zeilen, um Dich zu beruhigen
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wegen meines neulichen dithyrambischen
Exitus
und Dir innigst zu danken
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für den schönen langen Brief, den ich gestern zu meiner Freude erhalten, aber
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wie Du leicht erachten kannst, nicht so bald zu beantworten im stande seyn
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werde. Ich habe meinen ersten Kirchengang heute gehalten und bin nicht
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vorige Woche aus dem Hause gewesen, habe die Nacht nach meines Philipp
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Crispus
Augensalbe keinen Schlaf gehabt – auch diese Nacht elend
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geschlafen, sprach heute bey Kr. Lilienthal an, der herzlich über sich selbst lachte und
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von der Stelle Deines Briefes eine Abschrift nahm aus meinem Munde. Er
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ist nun in allem vollig zurecht gewiesen, von da sprach ich bey seinem Nachbar
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Crispus
an. Wir konnten uns aber einander weder verstehen noch erklären,
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weil die Schlaflosigkeit dieser Nacht mir den Kopf zu wüste gemacht hatte.
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Bey meinem Gönner und Nachbar, dem
Director
sprach ich auch an und
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theilte ihm die
Resolution
mit. Er las sie mit einer
naso adunco,
die zum
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Mahlen war, und auch dieser schwere Gang ist abgemacht. Kraus hat an
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Biester geschrieben u meines Schicksals gedacht, Kant dem Hartknoch
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aufgetragen sich beym Minister zu melden Hippel sich erboten, wenn ich nicht
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schreiben könnte, es für mich zu thun. Ich dachte morgen fertig zu werden,
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erwarte aber meine
Lisette,
die gestern geweint bey der Nachricht die ihr der
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Bruder hinterbracht. Kann ich nicht morgen fertig werden: so hoff ich
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wenigstens gewiß auf Himmelfahrt.
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Ich habe gestern des
Sp. Ethic
an die Schloßbibl. durch meinen Sohn
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abliefern laßen, und werde reinen Tisch machen, weil in meiner jetzigen Lage
S. 197
an keine Autorschaft zu denken ist. Mittwochs vormittags fieng ich Dein
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Spinoza Büchlein wider an, muste aber bey der
innwohnenden unendl
.
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Ursache aufhören S. 15.
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Sey ruhig und folge dem Rath unsers seel. Freundes. Ich wünschte Dein
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Päckl. zu erhalten aus Leipzig, vielleicht bringt es Hartknoch mit, und hoffe
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daß die erste Schrift in die Sammlung gehört, zu welcher Arbeit der
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Stuttgarter das nächste Recht hat. Meinen Dank für die Beylage u Abschrift
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Deiner würdigen lieben Schwester wirst Du ersetzen. Ich bin beschämt
und
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gerührt, und versteinert! An Deines George glücklicher Verpflanzung nehme
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ich den grösten Antheil.
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Gott schenkt mir so viel Trost ein, daß ich mehr vor Freuden weine als vor
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Kummer, und der Becher überläuft. Der junge Graf Kayserlingk holte mich
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heut frühe ab, und versicherte, daß eine große Revolution mit der Judenschaft
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zu Berlin in der Mache wäre. Heute geht eine
Estafette
wegen des neuen
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Tarifs
von der Kaufmannschaft ab; auch der Minister
Werder
wird in
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Danzig, neml. beym Fahrwaßer, auch hier erwartet.
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Seit meines A. B. ersten und zweiten Briefe habe keinen solchen Tumult
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in meiner Seele erlebt als den 9 d. bey Empfang der Hiobspost und den
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Abend drauf bey Nathans Kabinets predigt, und ich habe noch
mit
bis
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diese Stunde alle Augenblick mit meinem Uebermuth zu kämpfen, den
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Meister
Martin
noch vielleicht nöthig hat. Gott hat mir an
Crispus
einen
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Philipp
gegeben, der am Ende immer recht behält.
Curatel
und
Tutel
habe
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ich nöthig, und Gott läßt es daran nicht fehlen. Beßer wär es freylich,
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wenn ich ihrer entbehren könnte. Im Grunde scheint mir meine
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Unenthaltsamkeit Schwäche zu seyn, und keine Stärke. Die Zeit als eine Tochter der
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Vorsehung versteht sich auf die große Kunst irrende Ritter zu bekehren. Ich
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will sie daher walten laßen. Wirds Eurer Mühe lohnen ein so elend
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jämmerlich Ding zu sehen?!
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Kant, wie mir Kraus versichert, hat an Deinem
Dedications
-Exemplar
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weit mehr Antheil genommen, als er gewohnt ist, und ich gedacht habe.
Ich
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hoffe Dir von allem Gott gebe mündlich Red und Antwort zu geben, was ich
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Dir bisher schuldig geblieben bin und vor der Hand bleiben muß. Leider sehe
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ich in meinen
privatissimis
und
domesticis
nichts als
mala publica,
und
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möchte immer jene anwenden, diesen abzuhelfen. Dieser Schwindel oder
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optische Betrug macht mich unfähig einen festen Gesichtspunct zu finden und
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mich daran zu halten. Gott wird zu meiner Genesung mir Sein Antlitz
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leuchten laßen!
S. 198
Laß mein lieber Herzens J. J. nicht Deine Hochzeitfreuden durch mein
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trauriges Andenken betrübt werden
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den 14 –
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Ich habe diese Nacht wieder Gottlob! geschlafen und wachte wie neu
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geboren auf. Gestern war mein Haus wie ein Taubenschlag, daß ich gantz
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erschöpft zu Bette gieng. Konnte erst um 11 Uhr auf den Packhof kommen,
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habe einen zieml. Entwurf zu meiner Antwort an den Minister gemacht, der
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so Gott will am Himmelfahrts Tage fertig seyn u abgehen soll. Machte
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meinem Stiefbruder dem
Inspector Marvilliers
ein
Compliment,
theilte ihm
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auch die
Resolution
Glück
mit und wünschte ihm Glück einen Nachfolger
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seiner Stelle, weil die Form der meinigen aus Mangel deßelben zerbrochen
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werden müßen. Aufgebracht durch seine Theilnehmung und die Sym- und
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Antipathie unsers Schicksals u unsrer Denkungsart, entschloß ich mich auf
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einmal bey dem Namensvetter zu eßen, nachdem ich meinen kranken Freund
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Hennings besucht hatte. Der Mittag war sehr heiter und lustig, ich trunk
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auf meine eigene Hand eine
Bouteille Ale
aus, der Oberhofprediger Schultz
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kam hin, und das Gespräch wurde beynahe zu lebhaft von meiner Seite.
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Wir giengen in Gesellschaft zusammen aus, und ich überraschte die beyden
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Philosophen beym Nachtisch, trunk
nolens volens
noch ein paar Gläser
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Frantzwein. Kant
interessi
rte sich sehr für mein Schicksal; ich habe ihm
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meine erste Stelle als Uebersetzer zu danken,
dachte auch an Dich und Dein
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Gespräch in allem guten und mit Dank
und werd mich nächstens zu Mittag
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einladen laßen. Kraus begleitete mich zur Baroneße Bondeli, wo ich
Caffé
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trank der mich wie ein
Nectar
schmeckte. Der Tag endigte sich mit einem
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Besuch bey meinem würdigen Beichtvater Matthes, wo ich die
letzte
Oelung
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der Freundschaft erhielt zur Stärkung auf die ganze Woche und die Arbeit
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derselben. Seine Frau erzählte mir, wie sehr mich ihr Mann liebte und daß
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er gestern wie ein Kind um mich geweint. Er ist ein sehr heftiger auffahrender
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Mann, der im Affect seiner selbst nicht mächtig ist. Mir war immer Angst
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daß er den
Special
-Befehl in Stücke reißen würde. Wie ich zu Hause
kam,
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erfuhr daß meine liebe Gevatterin
Me Courtan
in der Kutsche bey mir
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gewesen, und beynahe gestern für
Alteration
das Fieber bekommen hat. Man
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hat bey Jacobi nach mir geschickt, wo ich schon fort gewesen; und ich werde
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sie morgen sehen. Kant hat mir angerathen an Hartknoch zu schreiben, um
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meine Sache dem Geheimen
Commerce
rath
Simson
zu empfehlen, der in
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Berlin jetzt Wunder thut. Zu einem nähern Schwager
Laval
hab ich kein
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Vertrauen, aber jenem Rath will ich folgen.
Courtan
hat den Kopf voll
S. 199
ähnlicher Anschläge gehabt, und ich werde sie morgen besuchen um sie zu
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beruhigen.
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Du siehst was meine Katastrophe für Lärmen macht und ich danke Gott
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so viel und warme Freunde zu haben, welches auch zum Glück des Lebens
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und zum Trost im Unglück gehört. Giebt mir Gott diese Nacht wider Schlaf;
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so hoffe ich zur Arbeit unter den Händen gestärkt zu seyn. Am
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Himmelfahrtstage wünsch u hoff ich mit einem Briefe nach Berlin fertig zu seyn und denn
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mag es gehen wie es gehe, mein Vater in der Höhe weiß allen Sachen Rath.
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Miltz hat mich auch diesen Morgen besucht, ich besorgte ihn vorgestern
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aufgebracht zu haben. Aber seine gleichmüthige Freundschaft machte mich so
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aufgeräumt, daß er alles für Tummheit und Unerfahrenheit ansieht. Ich
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fühle wenigstens neue Lebenskraft und einen Aufschluß von dem Wort, das
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mich immer aufmerksam gemacht, ohne es recht verstanden zu haben.
ουκ εκ
14
μετρου διδωσιν ὁ Θεος το πνευμα
Joh
III
34. Auch selbst in meinem eignen
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Hause finde ich eine Theilnehmung, die ich nicht vermuthet, und mir
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angenehm ist.
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Mehr kann ich heute nicht, und weiß auch nicht. So bald ich nur kann
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mehr. Ich habe wenigstens auch Dich lieber Jonathan beruhigen wollen.
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Tausend Grüße an alle Deinigen von mir und meinem Haus. Die übrigen
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sind in der Küche und wißen von nichts. Leb wohl, glücklich und vergnügt.
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Gott seegne das junge Ehepaar und laße Dir Freuden u Wonnen erleben in
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secula seculorum
Amen. Grüße den
Doctorandum,
und laße keine Zeile
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weiter schreiben, bis ich komme – Gotte gebe bald – bald – bald.
24
JGHamann.
25
Adresse:
26
HErrn /
Geheimen Rath
Jacobi
/ zu /
Düßeldorf
/
F
c
Wesel
27
Vermerk von Jacobi:
28
Koenigsberg den 13
ten
u 14
ten
May 87
29
J. G. Hamann
30
empf den 24
ten
–
31
beantw den 22
ten
–
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 366 f.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 532–535.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 6: Januar bis November 1787. Hg. von Jürgen Weyenschops, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2012, 150–153.
ZH VII 196–199, Nr. 1065.
Zusätze fremder Hand
|
199/28 –31
|
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
196/9 |
13 ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 13. |
|
197/8 |
und ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: u |
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197/29 –30
|
Kant, […] habe.] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
198/21 –22
|
dachte […] Dank] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
198/23 |
Caffé |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Caffé |
|
198/25 |
letzte ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: lezte |
|
198/30 |
kam, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: kam |
|
199/14 |
Joh |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Joh |
|
199/26 |
Geheimen Rath ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Geheimen-Rath |