1094
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Pempelfort den 27ten
Aug.
1787.
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Meine herzensliebe Tochter,
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Dein Brief vom 25ten Jun. hat den ganzen Tag vor mir gelegen, und nun
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beym Lichte bin ich erst im Stande darauf zu antworten. Ich erhielt ihn auch
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spät Abends bey meiner Ankunft in Münster den 16ten Jul. Seit dem 12ten
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d. M. bin ich hier, und seit dem 21ten, da ich den Pyrmonter Brunnen zu
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trinken angefangen, habe ich einige Hoffnung mich zu erholen.
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Diesen Augenblick kommt Nachricht aus Münster an, daß Marianne am
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Bartholomäus-Tage glücklich von einer Tochter entbunden worden, die den
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Tag darauf den Namen Maria Johanna Gertrud erhalten. Gott sey gelobt
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und erhalte Eltern und Kind! Mit dieser Freude meines Geburtstages gehe
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ich zum Abendbrode, zu dem ich Lust bekomme, woran es mir vor einer
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Viertelstunde gänzlich zu fehlen schien. Kommen mir eben die beiden Schwestern
S. 280
meines Jonathans entgegen mit einem schönen Schlafpelze zum Angebinde
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meines Geburtstages. Die älteste heißt Tante
Lotte
und hat alles Sanfte
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ihres Bruders; die jüngere,
Helene
, besitzt desselben Feuer und ist die
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Seele seiner Haushaltung.
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Am 6ten Jul. frühe reiste ich von Berlin ab, weil ich mich nach Ruhe zu
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einer ordentlichen Cur sehnte und nicht länger zu halten war. Den 8ten
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hielten wir Rasttag in Magdeburg, wo ich den Versuch machte auszugehen;
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brachte den ganzen Tag vergnügt bey meinem alten Freunde Philippi
zu.
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Meine Füße wurden schlimmer, und ich kam mit genauer Noth bis Bielfeld.
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Hier mußte ich etliche Tage theils im Bette, theils in der Stube zubringen.
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Am 15ten kam Antwort von unserm Wohlthäter, dem ich meine Ankunft
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gemeldet hatte. Am 16ten reisten wir endlich von Bielfeld ab, und kamen des
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Abends in Münster an, wo uns Marianne an der Hausthüre entgegen kam
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und zu ihrem lieben Franz führte. Den Tag darauf fieng ich sogleich meine
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Cur
an
und seitdem habe ich mich immer gequält. Den 1ten d. M. versuchte
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ich zum erstenmale in Münster auszugehen. Den 12ten kamen wir hier an,
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und seit dem 21ten trinke ich den Pyrmonter. Mein rechter Fuß ist völlig
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hergestellt; die Geschwulst am linken aber will nicht aufhören.
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den 30ten.
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Heute haben wir einmal wieder Sonnenschein gehabt. Der Gebrauch des
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Pyrmonters verträgt sich nicht mit dem Schreiben, kaum mit Lesen. Bücher
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und Briefe liegen um mich herum, und ich habe so viel für meine Lüsternheit
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und Neugierde, daß ich weder Anfang noch Ende zu finden weiß.
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Pempelfort ist ein kurfürstliches Jagdschloß, das der schönen Stadt
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Düsseldorf noch näher liegt als uns die
Huben
. Das meiste sind Gärten. Der alte
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Jacobi besitzt hier einen großen Garten nebst einem Gewächshause und einer
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Stärk-Fabrik. Neben seinem Hause und Garten liegt unseres Jonathans
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Kunstgarten und schöne Wohnung nebst einem Nebengebäude, wo unser
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Doctor
residirt
. Wir beide sind neben seinen Zimmern. Der Garten besteht
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aus vier Partieen, einem großen grünen Platze der mit lauter Orange- und
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Myrthenbäumen besetzt ist; darauf kommt ein Salon von Ulmen; hierauf
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ein schönes
Bosket
voll exotischer Gewächse, worin ein großer Teich, wo der
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Geh. Rath alle Mittage die Karpfen selbst füttert, so wie seine schönen
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Tauben. Nach dem
Teiche
kommt ein Bach, und hinter demselben noch eine Anhöhe
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voller Blumenstöcke und fremder, seltener Bäume und Gesträuche. Zur Seite
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steht das Gewächshaus, wo der Gärtner wohnt. Hier ist ein dunkler
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Schattenriß meines Elysiums, wo ich lebe und die Erneuerung meines Lebens hoffe.
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Wenn Du bedenkst, herzensliebe Tochter, wie lange und in welchem Joche
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ich gelebt – die plötzliche Veränderung und Uebertreibung meiner
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geschwächten Kräfte zur Reise – so kannst Du leicht erachten, daß ich
wenigstens im
Winter nicht
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an die Rückreise denken kann, und meine angefangene Cur gänzlich wieder
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zerstören würde. Zu meiner künftigen ökonomischen Einrichtung muß ich auch
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Anstalt machen, wenigstens von weitem, und den Gang der Vorsehung über
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mein künftiges zeitliches Schicksal näher zur Entwicklung abwarten mit
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gesunder
und
reifer
Ueberlegung. Alles was Du mit den Meinigen thun
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kannst, ist zu
beten
und unserem Vater im Himmel alles anheimzustellen.
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Er wirds wohl machen, und hat es bisher mit der That bewiesen, daß er die
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Seinigen weder verläßt noch versäumt, sondern allem menschlichen Dichten
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und Trachten an Mitteln und Wegen unendlich überlegen ist. Wie und wohin
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selbige abzielen, davon weiß ich selbst nichts, will es auch nicht wissen. Die
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Zeit wird es uns lehren und offenbaren, was sein Wille und unser Bestes ist.
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den 3ten.
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Heute habe ich wieder einen schlimmen Tag gehabt. Dein
Bruder
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wird Dir mehr Nachricht ertheilen. Erfreue mich bald wieder mit einem
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Briefe. Uebe Dich, herzensliebe Tochter, einfältig, kindlich und herzlich zu
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schreiben an Deinen alten Vater, nicht witzig und künstlich. Suche mit aller
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Treue
die noch übrige Zeit bey unserer Wohlthäterin anzuwenden, und
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brauche den Schatz zum Troste Deiner Mutter und zum Heil Deiner
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Schwestern, damit ich desto mehr Ursache habe, Gott zu danken und mich eurer zu
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freuen bey meiner Heimkunft.
Provenienz
Druck ZH nach Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 369–373. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort unbekannt.
Bisherige Drucke
ZH VII 279–281, Nr. 1094.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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279/21 |
Aug. ]
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Geändert nach dem Druck von Roth; ZH: August |
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280/8 |
zu. ]
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Geändert nach dem Druck von Roth; ZH: zu. |
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280/15 |
an ]
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Geändert nach dem Druck von Roth; ZH: an |
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280/25 |
Huben |
Geändert nach dem Druck von Roth; ZH: Hecken |
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280/29 |
residirt ]
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Geändert nach dem Druck von Roth; ZH: residiert |
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280/32 |
Bosket ]
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Geändert nach dem Druck von Roth; ZH: Bosquet |
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280/34 |
Teiche ]
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Geändert nach dem Druck von Roth; ZH: Teich |
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281/3 |
wenigstens im ]
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Geändert nach dem Druck von Roth; ZH: im |
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281/16 |
Bruder ]
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Korrektur eines Druckfehlers bei Roth; Roth: Brnder |