1096
283/2
Elysium – Pempelfort den 1
Sept.
87.

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Unser Geburtsmonath, Herzlich geliebter Herr Gevatter, Landsmann

4
und Freund, ist glücklich überlebt, und wir sind um ein Jahr reifer geworden.

5
Daß wir uns Ihrer hier erinnert, können Sie sich leicht denken. Aber daß ich

6
von
Tante
L
e
otte
heute zum guten Morgen einen Gruß aus Weimar

7
erhalten würde, hat mir zwar nicht geträumt; aber vielleicht
geahndet

8
Seit einigen Jahren muß Ihnen mein matter, stumpfer Briefwechsel ein

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treuer Spiegel meiner
traurigen Lage
gewesen seyn. Mein Herz schlug

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mir,
Ihnen so nahe in Berlin zu seyn
. Ich qvälte mich einige Tage

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Ihnen ein paar Zeilen zu schreiben; aber es wollte nicht von der Stelle, und

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alle meine Seelenkräfte waren stätig.

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Wie ich den 21
Jun
abreise, dachte jedermann, daß ich unterwegs liegen

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bleiben würde. In Marienwerder fand ich gantz unvermuthet bey dem

15
Kanzley
Dir.
Megerlein, der ehmals im Kanterschen Buchladen war und

16
jetzt durch die Heyrath einer reichen gutherzigen Wittwe
Kanzley
director

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dort, eine so unvermuthete herzl. Aufnahme, daß ich mich bald hätte

18
überreden laßen zu einem Rasttage. Meine Ungedult den
D.
Lindner in Berl. zu

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erreichen
und
fest zu halten, ließ mir aber keine Ruhe. In Bromberg wurde ich

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wider versucht von Fleisch u. Blut. Ich überwand alle Bedenklichkeiten und

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erreichte nach so viel schlaflosen Nächten, die mir eine fieberhafte Hitze und

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Schwäche zuzogen den 28 unsers Kapellmeisters Haus, wo ich die treuste

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Pflege und liebreichste Sorgfalt genoß. Sie kennen die
Albertische
Familie,

24
und den Enthusiasmum unsers patriotischen Freundes, der alle meine

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Geschäfte übernahm und glücklich zu stande brachte, ohne daß ich nöthig hatte

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mich vom Flecke zu rühren.

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Den 6 Jul. giengen wir mit einem Magdeburgischen Fuhrmann ab. Ich

28
zwar mit
geschwollnen
Füßen und kranken Eingeweiden. In

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Magdeburg ermannte ich mich und versuchte wider in Schuhen auszugehen, feyerte

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Dom. V.
den Fischfang Petri bey einem alten Freunde, damaligen

31
Assistenz
rath
Philippi,
lernte den Consist. R. Funk kennen, an den mir ein kindl.

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Gruß von einem verdienten Manne, der eine glückl.
Pension
bey uns

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angelegt hat und
Bötticher
heißt, auf die Seele gebunden war.

34
Wir waren mit unserm Magdeb. Fuhrmann und seiner beqvemen
Chaise

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so zufrieden, daß wir ihn bis nach Bielfeld verdungen. Was der Engel

S. 284
Rapha
e
l
dem alten Tobias war, that
D.
Lindner und Hans Michel spielte

2
artig gnug die Rolle eines Kammerdieners. Dem kranken Wallfahrer wurde

3
also der trübsalsvolle Weg, so viel nur immer möglich erleichtert bis nach

4
Bielfeld
, wo wir den 14. Jul. ankamen, und nach einem hündischen Wirth

5
in
Herforden
einen desto leutseeligern an dem Posthalter
Küster
in den

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3 Kronen finden. Hier meldete ich meine glückl. Ankunft meinem
Alc.
B. den

7
ich noch auf seinem Gute Welbergen zu überraschen hofte. An Ausgehen war

8
nicht zu denken. Die Antwort aus
Münster
kam zeitiger, als wir dachten

9
und wir reisten den Montag frühe 16
Jul.
mit
Extra
post von Bielfeld ab,

10
und erreichten
selbige
Münster noch denselben Abend, glücklich und

11
zufrieden bis auf meine Uebel die ich mitgebracht hatte und durch die Reise ärger

12
geworden waren. Den 23. überraschte uns schon Jon. J. aus Pempelfort

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und brauchte den Pyrmonter bis zum 4. Aug. wo er abreiste, und mir auch

14
Lust
machte
den Pyrmonter in seinem Elysio zu trinken. Die bevorstehende

15
Entbindung der Marianne welche den 24. mit einer Maria Johanna Gertrud

16
erfolgt ist, und die Vortheile der Landluft bewogen uns den
11
Aug.

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Münster zu verlaßen u hieher zu eilen, wo
D. Raphael
und der hiesige Hausartzt

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Hofr. Abel alles mögl. zu meiner Palingenesie aufbiethen.

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Mit des berühmten Hoffmanns Kalkwaßer machte ich einen Versuch, der

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aber nicht gelingen wollte. Meine Kräfte waren erschöpft, und die Natur

21
wollte beynahe unterliegen. Den 21 wurde mit dem Pyrmonter bey

22
schönem Wetter
ein sehr glücklicher Anfang gemacht.
Mars
zu Hülfe

23
genommen. Den
27
kam ich auf 7 Gläser von 3. Ich habe mich seitdem auf 6

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eingeschränkt, die guten Tage wechselten immer mit den bösen wie bey einem

25
Fieber. Gestern entschloß ich mich zum
Schwefel
, und heute
befinde

26
mich wie neugeboren. Der Brunnen thut mehr Wirkung und ich habe gute

27
Hofnung die
Absicht
meiner Reise beßer zu erreichen, als
als
es bisher

28
geschehen können, und alles Gute, was mir Gott auf meine alte Tage scheint

29
bereitet zu haben, mehr genießen zu können. Mein rechter Fuß ist zwar

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beynahe wider hergestellt; der linke aber noch immer geschwollen, die Brust

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belegt, Kopf und Geist unter dem schwersten Drucke – mir selbst und andern

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zur Last, bis zur Verzweifelung, ohne selbst zu wißen noch finden zu können,

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was mir eigentl. fehlt. Das Lesen ist mir verboten, Schreiben und Denken

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verbietet sich von selbst.
Molimina
und
nisus,
Drang ohne Kräfte noch

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Nachdruck, blinde Wehen einer Gebärerin, hypochondrische Grillen, die ich nicht

36
zu erklären geschweige zu heben im stande bin. Heute ist mir wo nicht wohl,

37
doch erträglich, und ich habe den Geburts
und
tag meines Michaels mit

S. 285
einem: Sey Lob und Ehr
p
zum erstenmal im P. Kunstgarten unterm Bart

2
und mit heiserer Brust einweyhen können.

3
Ich glaube, liebster ältester Freund, daß diese
Deduction
hinlängl. seyn

4
wird nicht nur mein bisheriges Stillschweigen, sondern auch die

5
Mühsee
Ängstlichkeit meines in den letzten Jahren kümmerl. leeren und mühseligen

6
Briefwechsels zu entschuldigen. Wegen meiner lächerlichen Fehlgeburt, womit

7
ich meine Schriftstellerey beschließen
wollte
aber nicht
konnte
, wurde

8
unser J. der Märtyrer, der einzige Märtyrer meines
radotage,
und wir

9
haben schon mehr wie einmal darüber gelacht, daß es ihm mögl. gewesen so

10
lange meine
kindische
Wahn
Naschhaftigkeit
auszuhalten. Ich

11
besorge, daß er seit
unser
meiner persönl. Bekanntschaft manche eben so

12
schwere Proben der Gedult mit meinen bösen Launen bisher schon

13
ausgehalten und noch zu erwarten hat. Ich bin durch einen unbegreifl.

14
Magnetismum bis
her
weilen so desorganisirt und werde in einen so abscheul.

15
Nachtwandler verunstaltet, daß man nach der triftigsten Ueberlegung zuletzt selbst

16
nicht weiß, ob ein so komisch-weinerlicher
εαυτοντιμωρουμενος
Mitleiden

17
oder Gelächter verdient.

18
Bey dieser Gemüths- und Lebenslage und so lange noch die Fortdauer

19
meiner Cur zur Genesung von medicinischen Gesetzgebern abhängt, werden

20
Sie mir Zeit laßen, allmählich wieder in den Gang zu kommen. Will man

21
mich hier nicht länger haben; so flüchte wider nach Münster, wo ich bisher

22
völlig unbrauchbar und untüchtig gewesen bin.

23
Gott gebe nur, daß wir je später desto gesunder einander widersehen,

24
woran in dieser Neige des laufenden Jahres wohl schwerlich wird zu denken

25
seyn. Da ich durch den unvorsichtigen Gebrauch des Aderlaßens mir die ersten

26
Anfälle der Gicht und einer
Purganz
beym Flußfieber die Gefahr eines faulen

27
und fast tödl. zugezogen habe: so wünschte ich bald über die Folgen Ihres

28
Brechmittels beruhigt zu werden, und daß Sie bald gänzlich davon

29
hergestellt würden, weil ich leider! den Mangel der Gesundheit so nachdrücklich an

30
mir selbst fühlen muß, und Ihre Amtsgeschäfte so wol als Autorplane eben

31
so viel Anstrengung als Oekonomie der Kräfte unentbehrlich machen. Mein

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trauriges Beyspiel würde Sie, liebster Herder! am augenscheinlichsten

33
warnen und überzeugen können. Wie schwach mein Kopf geworden ist, und wie

34
wenig ich mit Nutzen gegenwärtig lesen, und wie mein Urtheil durch Mangel

35
des Gedächtnißes eingeschränkt und eingeschreckt worden, können Sie sich

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kaum vorstellen. Ich vergeße alles unter Händen, und habe nur einigen

37
Genuß, so lange ich ein Buch unter Händen habe. Lege ich es bey Seite, so sind

S. 286
die Eindrücke so verworren, als die Züge meiner Hand auf diesem zu zarten

2
Papier.

3
Sie können leicht denken, daß ich dem Umfange Ihrer Ideen nicht

4
gewachsen bin, und daß meine Neugierde dadurch sehr gereitzet, das Ende derselben

5
zu sehen. Heute vor 8 Tagen habe ich das erste Gespräch über Gott gelesen,

6
und hoffe das zweite morgen vorzunehmen, weil ich dies Buch nur vor meiner

7
Abreise durchzulaufen gedrungen war. Unser gemeinschaftliche Freund hier

8
wird auch durch meine Gegenwart ein wenig verhindert an der zweiten

9
Auflage seines Spinoza Büchleins zu arbeiten, und hat sich bereits mehr wie

10
einmal erinnert Ihnen noch eine Antwort schuldig zu seyn, die er abtragen

11
wird, so bald er nur ein wenig sich erleichtert fühlen wird, von dieser

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Autorschuld, die er gern vom Halse haben will.

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Ich habe mich fast 2 Jahre lang über Sp. geqvält, ohne ihn selbst recht

14
verstehen zu können, noch was andere über ihn geschrieben haben, und bin

15
willens noch einen Versuch zu machen, alles nach chronologischer Ordnung zu

16
lesen was neuerdings über diesen cartesianischen Glaubensheld neuerdings

17
herausgekommen.
Mens sana in corpore sano
ist die
conditio sine qua non

18
– sich denken und schreiben läßt.


19
XIII Dom.

20
Ich habe keine Nacht gehabt, den Pyrmonter aussetzen müßen, und

21
einen Beweis von meiner Untüchtigkeit, das geringste zu thun als Eßen,

22
Trinken, Schlafen. Die 2te Ausgabe vom Spinoza Büchlein erscheint also

23
nicht mit dieser Meße. Da unser J. den Anfang gemacht über Sp. zu

24
schreiben; so ist es mir lieb, daß ich ihn zuerst über das mir dunkle Original und

25
seinen Commentar darüber zu Rath ziehen kann. Sie werden also mit uns

26
beyden Gedult haben, mit dem kranken alten Mann und seinem Pflegvater,

27
dem das Leben sauer gnug gemacht wird, wie seinen beyden Theil nehmenden

28
würdigen Schwestern. Ich muß leider! in den Tag hinein leben, und weiß

29
meine Rückreise nach Münster nicht zu bestimmen. Gott wolle alles zu Seiner

30
Ehre und unserm gemeinschaftl. Heil gedeyen laßen, gebe Ihnen Gesundheit

31
und Stärke zur Vollendung Ihrer Ideen und Sammlung der zerstreuten

32
Blätter.
Dr.
Lindners eigentl. Absicht war es uns blos nach We
imar
zu

33
begleiten. Es hat Mühe gekostet, ihn nach Münster zu überreden. Er

34
empfiehlt sich Ihnen bestens, und wird vielleicht mündl. Nachrichten bringen.

35
Einem rechtschaffenen Artzte muß mehr an Erfahrung als Ehre gelegen seyn.

36
Mehr kann ich nicht. Gnug, liebster Herder, ich lebe und habe noch immer

37
Muth gnug zu hoffen. Wie viel habe ich hier einzusammeln, wenn aber

S. 287
Hände und Füße gebunden sind, so muß man Gedult haben. Haben Sie es

2
also auch mit uns, ich rede immer in meinem und meines mit mir geplagten

3
Wirths Namen. Erhält mich Gott, so komm ich und melde mich –
Sat cito,

4
si sat bene.

5
Meiner verehrungswürdigen Frau Gevatterin küßen Vater und Sohn die

6
Hände. Gott laße es Ihnen und den Ihrigen wohl gehen und seegne Ihr

7
ganzes Haus nebst Pathchen.
Tante
Lotte wird die Mängel dieser Einl.

8
ersetzen. Ich umarme Sie und drücke Sie an mein Herz in Gesellschaft meines

9
J.J. und ersterbe Ihr alter

10
treuer Freund J. G. H. u Sohn.


11
Adresse von fremder Hand:

12
An / des Herrn General-Superintendenten
Herder
/ Hochwürden /
zu

13
Weimar.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 308–309.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 375 f.

ZH VII 283–287, Nr. 1096.

Zusätze fremder Hand

287/12
–13
Unbekannt

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
283/2
87.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
87
283/6
L
e
otte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Le
Lotte
283/7
geahndet
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
geahndet.
283/16
Kanzley
director
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Kanzley
direktor
283/19
und
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u.
284/1
Rapha
e
l
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Raphael
284/14
machte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
machte,
284/16
11
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
11.
284/23
27
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
27.
284/25
befinde
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
befinde ich
285/1
p
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
p.
285/10
Wahn
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Wahn