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Elysium – Pempelfort den 15ten Sept. 1787.

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Ich fange den zweiten Brief an Dich an, liebe
Reinette Lisette,
um Deine

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Erwartung auf eine Antwort Deines ersten zu ersetzen. Heute vor acht Tagen

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thaten wir eine Lustreise nach dem Schlosse Benrad. Bey unserer Zurückkunft

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fanden wir das junge Ehepaar aus Aachen, den ältesten Sohn meines

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Jonathan, der seine Cousine, von
Clermont,
unlängst geheirathet. Heute

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wurde hier die edle Fürstin erwartet, und es waren ihr schon Postpferde

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entgegengeschickt; aber ein Anfall von ihrem Hüftweh hat unsere Erwartung

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getäuscht. Mit meiner Besserung geht es allmählich. Den Pyrmonter werde

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ich so lange brauchen müssen, als die Witterung erlaubt. Die dazu gehörige

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Bewegung ist mir sehr beschwerlich, weil mir Sitzen, Lesen und Schreiben

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verboten wird.

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Ich habe unsern Garten beym Brunnen
ausgemessen.
Er beträgt über 300

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Schritte in die
Länge,
und gegen 200 in die Breite. Zwey schöne

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Myrthenbäume stehen in voller Blüthe jetzt am Eingange und neben ihnen zwey

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blühende Granatbäume. Die Orangerie ist außerordentlich mit Früchten

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gesegnet. Der darauf folgende Sallon aus lauter Ulmen,
fast
14 Reihen in

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die Länge und 12 in die Breite. Unser nächster Nachbar ist der alte 72jährige

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Vater, der epileptischen Zufällen ausgesetzt ist und nur in Begleitung eines

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Hüters spazieren geht. Sein und unser Garten ist durch den Bach geschieden,

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die Düssel, von welcher die schöne Stadt ihren Namen hat. Ihre Lage ist

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ungemein angenehm und jedes der Thore hat eine Allee. Ueberhaupt ist die ganze

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Gegend reizend, die meine beiden Reisegefährten besser kennen als ich.

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Die Liebe und Ehre, so Dein alter, kranker Vater in diesem ganzen Hause

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hier genießt vom Größten bis zum Kleinsten, ist unbeschreiblich, und ich habe

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Arbeit nöthig gehabt, sie zu
erdulden
und mir zu
erklären
. Alles was

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mir nur an den Augen anzusehen ist, dafür wird gesorgt mit eben so viel

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Geschmack als Gutmüthigkeit.

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Ich bin des Schreibens müde und mein Kopf will damit nicht fort. Fürchte

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Gott, liebes Kind, und vergiß Deine Eltern und Geschwister nicht, wie ich

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euch alle in meinem Sinn und Herzen trage. Lies nicht aus Vorwitz sondern

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mäßig, und frage den guten Hill, ehe Du ein Buch nimmst, um Rath, oder

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den Professor Kraus. In dem besten Garten giebt es Nesseln an denen man

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sich verbrennen kann. Gewöhne Dich lieber, gute Bücher oft zu lesen, als an

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das leidige Naschen; auch, Deine eigenen Gedanken aufzusetzen, gute Stellen

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auszuziehen und in Deine eigene Mundart zu übersetzen.

Provenienz

Druck ZH nach Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 377–379. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort unbekannt.

Bisherige Drucke

ZH VII 287 f., Nr. 1097.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
287/16
Reinette Lisette,
]
Bei Roth nicht in Antiqua.
287/20
Clermont,
]
Bei Roth nicht in Antiqua.
287/27
ausgemessen.
]
Bei Roth ohne Punkt.
287/28
Länge,
]
Geändert nach dem Druck von Roth;
Länge
287/31
fast
]
Geändert nach dem Druck von Roth;
fast