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P. den 20 Sept. 87.
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Herzenslieber Franz, Montags gegen Abends kam die gute Fürstin mit
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guten Nachrichten
von Ihnen und Mariannen an, beunruhigte uns
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aber mit einem argen Husten und übrigen Unheil für Ihre eigene Person, die
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sie bey einer solchen Jahreszeit und Witterung aussetzte. Gestern früh ist sie
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weiter gereiset, im Gefolge unserer besten Wünsche. Diesen Morgen haben
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wir Beyl. erhalten, aus denen Sie ersehen werden, daß Hans Michael sich
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dem
D.
Raphael zum Reisegefährten aufgedrungen und durch die
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Einwilligung unsers Jonathans auch die meinige überstimmt hat. Beyde hatten
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versprochen zu schreiben, wir sahen mit jeder Post einer Nachricht von ihrer
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Ankunft entgegen. Der Verdruß über
ihr
das beiderseitige Stillschweigen
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stieg gestern bey Ankunft der
Estafette
aufs höchste; unterdeßen ist der Brief
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an
D.
L.
sogl. von
J
acobi
an Heinse, den alten Freund und Gast
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des Hauses bestellt worden, um im Fall der Noth denselben von Hr.
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Hoffmann erbrechen zu laßen. Unsere gestrige Verlegenheit ist heute gestillt
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worden, und Sie werden alles aus den beyden Beyl. urkundl. ersehen. Gott laße
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Ihre Sorgfalt für die Wider
stell
herstellung der lieben jungen
Mutter
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und unsern Antheil daran geseegnet seyn und erfüllt werden. Amen.
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Seyn Sie, Herzensguter Franz, wegen meines bisherigen Stillschweigens
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so unbekümmert, wie ich wegen des Ihrigen durch Ihre Erklärung hinführo
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seyn werde; weil mir immer das meinige selbst unverantwortlich in meinen
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eigenen Augen bisweilen geschienen hat. Wegen der übeln Witterung habe ich
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zwar diese ganze Woche den Pyrmonter ausgesetzt; bin aber mit genauer
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Noth im stande gewesen auf meiner
Lisette Reinette
Brief den ich den 16
11
Jul.
au
durch Ihre Hand erhielt, und die beyden letzten meines
Vicaire
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Hill zu beantworten.
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So bald die Witterung sich beßern wird, will mit dem Pyrmonter so lange
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wie mögl. fortfahren. Mit den Füßen wird es beßer, und der linke ist nur
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noch etwas geschwollen, ab- und zunehmend; der rechte aber dem Wechsel
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weniger unterworfen. – Eben erhalte einen Brief von Kraus, der an unsern
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Schwaben denkt, und noch immer hofft ihn einmal von Angesicht zu Angesicht
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zu sehen, weil er ihn so oft und lebhaft im Geiste vor sich sieht. Wenn Sie,
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liebster
Frantz
, Antwort auf Ihr Schreiben erhalten, theilen Sie doch auch
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so viel Sie mögen, mit.
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Jonathan mag seine mit Ihnen genommene Abreden selbst verantworten,
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und sich darüber erklären. Mariannens Gesundheit liegt mir, wie meine
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eigene am Herzen. Ich hoffe, daß Sie den Gebrauch der Mittel dazu zu
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gelangen so treulich anwenden wird, als ich noch genöthigt bin den Gebrauch
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derselben fortzusetzen, so langsam es auch noch mit meinem
Kopf
und
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Eingeweiden
geht. Wenn ich nur
jenen
erst mehr brauchen könnte: so würde
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ich auch die Lüsternheit meines Magens beßer im Zaum halten können.
Bey
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Arbeit
würde auch meine
Nahrung
beßer gedeyen, und Diät ist ein
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Theil unserer animalischen Oekonomie. Aus Mangel eigener Gedanken, muß
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ich lesen wie ein Schmarotzer mit einem unverschämten Hunger, der mir selbst
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ärgerlich ist.
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Um etwas wider
vornehmen
und
anfangen
zu können, muß ich
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gesünder seyn, wenigstens so lange ich Hoffnung habe, versuchen und
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aushalten, ob ich in diesem Endzweck weiter komme. Glückt es mir hierin, so sehe
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ich als meine Pflicht und die zweite Absicht meiner jetzigen Wallfahrt an, den
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Autor über seine Werke zu Rath zu ziehen und über jede Dunkelheit bey ihm
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Licht zu holen, so bald ich nur wider im stande seyn werde mit ganzem Kopfe
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noch einmal was er geschrieben, unter seinen Augen und mit seinem
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Beystande zu lesen. Ich habe dies zu meiner eignen Beruhigung nöthig, und
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unserm Jonathan scheint auch eben so viel daran gelegen zu seyn, uns
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einander zu wetzen.
Mens sana in corpore sano
gehört zu einem solchen
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Experiment. Die Zeit dazu, steht nicht in meiner Hand; aber vorsätzlich will ich
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weder meine eigene verlieren, noch meines Nächstens seine unnütz verderben:
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sondern mit beyden gewißenhaft und ökonomisch zu Werk gehen, und mich
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auf ein
voluisse in magnis
einschränken. Für
D.
Raphael möchte ich
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menschlicher weise wie für mich selbst Bürge leisten, daß er Ihnen und mir nichts
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abschlagen und alles eingehen wird, wenn er im geringsten absehen kann
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Ihnen auf irgend eine Art nützlich und nöthig zu seyn. Mein Urtheil über
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seine Geschicklichkeit und sorgfältige Vorsicht bleibt nach der reifsten Prüfung
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unverändert, auch hierüber wird die Zeit die beste Lehrmeisterin seyn. Warten
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Sie liebster Frantz erst seine Zurückkunft ab und die Aufschlüße die er mit sich
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bringen wird, ohne sich selbst noch ihn zu übereilen, und trauen Sie einer
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Vorsehung, die sich bis auf das kleinste Haar unseres Haupts erstreckt, bis
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auf jedes Ja und Nein, das unserm Munde entfliegt, oder vielmehr zu
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entfliegen scheint.
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Ich sollte
glücklich seyn und an Den nicht denken
, der so viel an
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allem, was ich jetzt schon genieße
beygetragen
? Ach! daß ich nichts als denken
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und wünschen kann. Desto mehr wird Gott
thun
, der allein gut ist und ein
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Vater unser aller, deßen Wille geschieht im Himmel und auf Erden – Seine
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Kraft ist in den Schwachen mächtig und offenbart sich den unmündigen.
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Ich umarme und küße aufs herzlichste Vater Frantz, Mutter Marianne
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und die kleine Marianne Gertrud –
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den 21.
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Heute erwarten wir Kleuker hier, den ich mich auch freue von Angesicht
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zu Angesicht nach so vielen Jahren, kennen zu lernen.
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J. verführte mich gestern zum Abendbrodt in
Mama
Lehne Speisezimmer,
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wo wir ganz allein waren, weil das junge Paar aus Aachen
par compagnie
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sich nicht recht wol befand. Ich habe gut geschlafen und bin voller Grillen
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über den gestern erhaltnen pharisäischen Brief des
Crispi Amici
aufgewacht,
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der mir verbieten will zwier
zu
des Tags zu
eßen
.
,
das mir eben so paradox
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vorkomt, als wenn Ernst Dr. mir zumuthen will – kann er seinen Freunden
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zugefallen nicht über P. und D. nach G. gehen: so werde ich meine
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archimedische Maasreguln auch nicht
turbi
ren und mich Seinetwegen in dem
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parabolischen und encyclopädischen Plan meiner dreyfachen Cur irre machen
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laßen. Er mag sich auch an meinen
piis desideriis
auf dem kürzesten Wege
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die hohe Schule zu erreichen, begnügen und sich in Acht nehmen nicht zu
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gelehrt, nicht zu weise wieder heim zu kommen.
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Ich habe heute den Pyrmonter aber mahl ausgesetzt, um ein paar Zeilen
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an
Eleazar Hill
zu schreiben in häuslichen und öffentl. Angelegenheiten,
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den
Crispus
mit einer zu spitzigen Feder als einen
Hausvogt
behandelt.
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Wenn Sie Lust haben, mir was rechtes zu schreiben: so eilen Sie mit Weile
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Ihren Brief auszufertigen.
Sat cito, si sat bene.
Denken Sie immer im
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besten mit Marianne des alten kranken Grosvaters, der Ihnen darinn
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vorgehen und nachfolgen wird, mit dem besten Appetit auch gantz und ewig
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der Ihrige zu seyn und mit Gottes Hülfe zu bleiben, lieber Frantz und
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Marianne
Ihr
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alter Johann Georg Hamann.
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Grüßen Sie den ehrl.
Coeurman,
wenn Sie nach
W.
schreiben.
D.
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Raphael
soll die silbernen Löffel, die er mitgenommen, wider abliefern, und
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geben Sie ihm, lieber HerzensFrantz, das Stammbuch mit, so bald
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Marianne einen Gruß von Gertrudchen an
Lisette Reinette
wird eingetragen
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haben. Wenn die Sechswochen vorbey sind, ist es Zeit gnug Gäste einzuladen.
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Ich glaube auch, daß Sie recht haben, und daß die beste Frau bisweilen
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unrecht haben kann und unrecht haben muß, auch bey der
besten
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Meynung
von der Welt.
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„Sie sind ein Mann von himmlischer
Weisheit
Güte“ – fängt Heinze
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seine Antwort auf das dem Lindner mitgegebene Empfehlung an – und mit
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eben dem Entzücken habe ich Ihr Resultat gelesen:
Machts nur, wie
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ihr wollt.
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Ferner: Hoffmann hat sich nicht lange zieren dürfen und seine Weisheit
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geschwind herausorakeln müßen. Diesen Morgen früh um 5 Uhr sind
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(Michel und sein Mentor) nach der Bergstraße, Heidelberg, Schwetzingen
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und Manheim abgereiset
dd
Aschaffenburg den 18
Sept.
Wenn Sie mir
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erlauben zu machen wie ich will: so werden Sie und Marianne Noth haben
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mich los zu werden. – und nochmals Gott empfohlen mit Herz, Mund und
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Hand!
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Zusatz Jacobis:
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Lieber Franz, unser Hamann hat dir das nöthigste schon geschrieben. Unsere in
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Münster genommene Abrede war folgende. Du solltest mit Marianne, Ende
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Oktober zu mir kommen, in mein Haus in der Stadt, u ich wollte sorgen daß ich
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um diese Zeit mein Winterquartier bezogen hätte. Alsdann solltest Du mit
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Marianen u Eurer Gertrude so lange bey mir bleiben als es Euch gefiele, hernach Hamann
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mit nach Münster nehmen, u mich mit den Schwestern dort im Februar erwarten. –
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Nach Münster kann ich (auch ohne genommene Rücksicht auf Hamann)
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gegenwärtig nicht kommen, u überhaupt nicht aus der Stelle gehen, bis ich die
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neue
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Ausgabe meiner Briefe über Spinoza besorgt habe. Noch habe ich nicht die Feder
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dazu angesetzt, u fühle auch keinen Trieb dazu, bis Hamann seine Gelübde erfüllt,
9
u mich gewißermaaßen dazu eingesegnet hat. – Es gehe alles wie es kann. Deine
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Worte:
Machts wie Ihr wollt
, spreche ich v ganzem Herzen nach, ohne
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eine Einschränkung beyzufügen. Mehr kann ich nicht thun.
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Unser Vater gewinnt merklich an Gesundheit, Munterkeit u Stärke. Meine
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Liebe zu ihm wächst noch mit jedem Tage‥‥Ich kann von ihm nicht reden.
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Ich habe meine Opp. Po
s
th. des Spinoza Dahlbergen in Trier leihen müßen.
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Hamann bittet mit mir, das
Exemplar
das ich ihm zu Münster geschenkt, hierhin zu
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schicken. Da kannst Du das Stammbuch
beypacken
laßen.
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Hier der Alexis. Ich hoffe er soll dir einiges Vergnügen machen.
/
Wir haben
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gestern u vorgestern den 1sten Theil v Starkens Rechtfertigung verschlungen, u
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ganz ungemeines Vergnügen dabey genoßen. Hamann hätte so wenig als ich dem
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Manne das zugetraut. Nun dürsten wir nach dem Urtheil.
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Für Druffeln schicke ich mit nächstem Postwagen einen Alexis
u
mein Bild.
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Grüß ihn herzlich v mir u entschuldige mich. Ich hätte ihn so gern vor seiner
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Abreise nach Göttingen noch gesehen.
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Die 26 Pistolen hat die Prinzeßinn eingereicht, u Du hast sie also auf die
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Lindnern mitgegebenen 25 Carolinen zu gut.
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Ich herze Dich Brüderlich, u mit wahrhaft unaussprechlicher Liebe
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Dein F H J.
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Eben sagt mir Hamann ich solle Dir doch Starkens Apologie empfehlen.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841 aa.
Bisherige Drucke
Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 137–142.
ZH VII 291–295, Nr. 1099.
Zusätze fremder Hand
|
294/34 –295/28
|
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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291/32 |
J acobi |
Geändert nach der Handschrift; ZH: J acobi |
|
291/32 |
L. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: L indner |
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292/27 |
Bey ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Bei |
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293/20 |
beygetragen ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: beytragen |
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293/33 |
eßen . , ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: eßen, |
|
295/15 |
Exemplar ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Exempl. |
|
295/16 |
beypacken ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: beylegen |
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295/17 |
/ ]
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Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel. |
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295/21 |
u ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: und |