1100
295/30
P. den 21
Sept.
87.

31
Lieber Elieser Hill; ich habe diese ganze Woche den Pyrmonter ausgesetzt

32
wegen der elenden Witterung, die sich erst heute ein wenig mit einem starken

33
Sturme erheitert hat. Vorgestern reisete
Hemsterhuis
Diotima, unsere

S. 296
Diaphane Aspasia ungeachtet ihres Steckhustens p ab. Gott begleite Sie!

2
G
Denselben Mittag kam eine
Estafette
aus Münster an mit einer Einl.

3
an
D.
Lindner. Ich hatte mir schon einige Tage vorher mit meinem Hans

4
Michael im Herzen ausgesöhnt aber die Verlegenheit Einl. zu befördern stieg

5
aufs höchste.
E
Sie wurde auf gut Glück an den Verfasser des

6
Ardinghello
HE Heinse, der viele Jahre als Hausgenoße hier, wie ich gelebt habe.

7
Gestern frühe kam endl. ein Brief von Hans aus Aschaffenburg an, der alles

8
wieder gut machte, und ihn aus der verlornen Gunst wieder eingesetzt hat mit

9
Uebergewicht. Diesen Morgen wo ich früher wie gewöhnlich erwachte, kam

10
ein Brief von Heinse, der uns meldete, daß der sanfte Mentor mit dem jungen

11
Feuer- und Talentvollen Ebentheurer, schon so früh in der Stille einen feinen

12
Beobachter den 18 um 5 Uhr des Morgens nach der Bergstraße, Heidelberg,

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Schwetzingen und Manheim abgereist wäre mit den glücklichsten Aspecten in

14
ihren Angelegenheiten, deren Schwierigkeiten wir besorgt und einen weit

15
spätern
Termin
ihrer Abfertigung vermuthet hatten. Ich war so vorsichtig

16
gewesen,
H
meinen
Hans von einem Briefwechsel zu
dispensi
ren; er war

17
aber ohne mein Wißen von Geh. Rath gebeten worden, so bald mögl. von

18
ihrer Ankunft Nachricht zu geben u hatte sein Wort vor sich gegeben. –


19
den 22 –

20
Mein alter Freund Kleuker ist gestern angekommen, und
Me dela Roche

21
meldete uns einen andern Gast an,
Prof. Bartola
von
Pavia,
den zweiten

22
Improvvisatore,
den Hans zu sehen bekommen wird, der sein Handwerk nicht

23
so gemein machen soll als
Filisteri
in Berlin. Das junge Paar aus Aachen

24
nebst einem HE von
Clermont
u einem
Silhouetteur
Escherig sind auch noch

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hier. Gestern Mittag habe zum erstenmal unsern kranken nächsten Nachbar

26
den Aeltervater
Jacobi
kennen gelernt. Er hat einige 70 ist aber noch ein

27
Mann voller Feuer, der seiner aufgegebnen prächtigen Zucker
Fabrique

28
ähnlich sieht, die man ohne Bewunderung und Mitleiden als ein wüstes Schloß

29
nicht ansehen kann. Ich
kann
und
will
nicht wegen meiner Cur um das

30
geringste mich bekümmern. Bey aller langen Weile fehlt es mir an Zeit

31
meinen unauslöschl. Appetit zu stillen. Den übrigen Genuß überlaße meinem

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Sohn, der seinen Freunden einmal desto mehr mündlich Nachricht geben wird

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und den Mangel der schriftl. desto reichlicher ersetzen. Wenn nur meine beyde

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Reisegefährte tüchtig gesehn werden, so will ich gern
unt
allein untüchtig

35
seyn. 2
Cor XIII.
– und lieber unter so guten leidlichen Bedingungen krank

36
seyn, als ihrentwegen besorgt und unruhig.

S. 297
Vorgestern erhielt einen Brief vom 11 von HE Pr. Kraus, den ich erst

2
gestern Mittags in der Verdauungsstunde unter einer tiefen Laube zu lesen,

3
gantz und recht zu lesen im stande war, und so bald wie
es mir mögl
. ist

4
beantworten werde, mit dieser oder einer nächsten Post. Ich hatte erst nöthig

5
Ihren ersten Brief aufzusuchen. Mein Auftrag den
ersten
Brief nach

6
meiner Abreise zurückzusenden, konnte gar nicht auf die später einlaufende

7
angewandt werden. Danken Sie also unserm Freunde herzl. für die Abschrift

8
so wol, und auch der lieben Hausmutter für ihren klugen Entschluß zu

9
erbrechen das abderitische Geheimnis und meinen nächsten Freund zu Rathe zu

10
ziehen und mit einem redlichen Vertrauen zu
überlaufen
. Ich bin mit

11
allem vom Grunde der Seelen zufrieden. Sollte es bis zum Ausräumen

12
kommen: so werden Sie mein Haus nicht verlaßen, für meine Bücher und Papiere

13
sorgen, alle meine Freunde aufbiethen, eine
gute Gelegenheit
zum

14
Obdach und zur
Nothdurft
, woran es
mir
bisher gefehlt
hat,
besorgen,

15
wo möglich auf der Freyseite, wo ich Licht und Luft, von Jugend auf dazu

16
gewöhnt genießen kann. Vielleicht Ihr
Oncle
seine Gelegenheit? oder hat er

17
sein Haus noch glücklicher verkauft? Wenigstens wird er sich auch der

18
Meinigen ohne seinen Schaden annehmen. Ziehen Sie auch vor allen
Reichardts

19
würdigen Schwager
Secr. Dorow
und seine gute Frau zu Rathe. Schreiben

20
kann ich nicht, bis nach abgelegter Cur, die ich auf die Woche wider

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anzufangen und so lange es die Witterung und Jahreszeit erlaubt, fortzusetzen

22
gedenke. Auf die dringende Einladung meines wohlthätigen Frantz und seiner

23
kranken Marianne, den ganzen Winter in Münster zuzubringen, habe ich

24
auch schon geantwortet mit einem:
Kommt Zeit, kommt Rath
. Sie

25
allein giebt die
Form
und Reife menschlichen Entwürfen und unsern

26
Schicksalen, die aller Kritik reiner Ideale überhoben und überlegen sind. Von

27
dem Briefe meines Sohns den Raphael den 18 Aug. erhalten weiß ich nichts,

28
unterdeßen hoffe ich daß er die Pflichten meines Sohns
in puncto
der

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Freundschaft übertreffen wird. Der Virtuos Heinse vergleicht den alten kranken

30
Vater einer arabischen Nacht
Conf. Joh. XI.
9, 10.
V.
19–17.

31
Ich bin nachbarn gewesen, und habe Kleuker auf der
Remise
besucht, wo

32
die Schule mit den Kindern von meinem alten Freunde Schenk gehalten wird,

33
und Gäste beherbergt werden. Dies schöne Gebäude liegt mit einem kleinen

34
Geköchgarten richt über der großen Hofpforte. Auf dem Hofe selbst eine

35
kleine Wohnung, die man in Curl.
Herberge
nennt,
D.
Lindner und
D.

36
Chavet
der die Fürstin begleitete, haben die zwey kleine Zimmer mit einem

37
kleinen
Canapé
und einem großen Kettenhund
Bacchus
– Aus Bürgel haben

S. 298
wir einen jungen Windhund,
Cito
mitgebracht, den
Mama Helene
zu

2
s
einer
Diana
gewählt und gemacht.


3
Dom. XVI.
23. September

4
Lieber Hill, ich gebe Ihnen so kleine Umstände, um Sie hier bekannt zu

5
machen, wenn Ihnen eine neue Streiferey anwandeln sollte. Sie haben Ihr

6
Gutes bereits genoßen und werden mir also das paradiesische Leben nicht

7
misgönnen. Ich habe mir ein solches Glück auf der Welt nicht mehr träumen

8
laßen, als mir Gott auf meine alte Tage zugedacht, nach dem ich länger als

9
20 Jahre verträumt und beynahe in einen Todesschlaf gesunken war.

10
Kleuker hat die abgedruckte Bogen einer
Neuen Prüfung u

11
Erklärung des Christentums
u der Offenbarung gegen den Hierokles der

12
85. zu Halle ausgekommen, mitgebracht. Ich wollte
morgen
heute ihm zu

13
Gefallen den Pyrmonter wider anfangen und in seiner Gesellschaft trinken.

14
Diese Nacht soll ein starkes Gewitter gewesen seyn und ein Platzregen, der

15
nach meinem Wunsch mich der Gefälligkeit überhoben, daß ich heute einen

16
Ruhetag halten kann. Wir hoffen noch einen guten langen Herbst, und eine

17
herrl. Weinerndte an der Mosel. Wer hat den Buchladen bekommen? Sie

18
theilen mir überhaupt zu wenig Nachrichten aus meinem Hause u meiner

19
Vaterstadt mit. Diesen Mittag sind 2 Brüder
de Florincourt
zu Gaste,

20
welche von Mösers Tochter Fr. von Vogt als Bergkundige empfohlen

21
worden. P. ist wie ein Taubenschlag, und das philosophische Ideal der
besten

22
Welt
für meinen
Geschmack
und
Augenmaaß
. Mein Loos ist mir

23
aufs lieblichste gefallen. Meine anhaltende Engbrüstigkeit macht mich, bey

24
aller Hofnung einer Beßerung, noch bisweilen für meine Gesundheit besorgt,

25
und daß etwas
oedemati
sches zurückgeblieben. Ich gehe noch immer in meinen

26
Berlinschen Socken von Tuchleisten wegen meiner Füße. Der linke bleibt

27
unveränderlich, außer daß sich die Falten der Strümpfe stark eindrücken. Mit

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dem rechten aber ist es noch tägl. wandelbar. Die Geschwulst des Tages

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nimmt in der Nacht ab, wo ich immer ein Kräuterküßen mich umbinden laßen

30
muß. In Abwesenheit meines Raphaels u Michels, sind HE Peter u

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Wolther so gut mich an- und ausziehen zu helfen. Mama Lehne hat die

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Sorge für meine Wäsche übernommen die durch meinen Kammerdiener

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Ihren guten Freund, ziemlich in Unordnung gerathen ist. Zum Glück bin ich

34
so klug gewesen alles aufzuschreiben und fand diesen Zedel zu meiner Freude

35
unter meinen Papieren, habe ihn der Mama überliefert, die den

36
Kammerdiener zur Rechenschaft fordern wird. Sagen Sie dies meiner lieben

37
Hausmutter, die wie
alles, was mir angehört
, abwesend wie gegenwärtig,

S. 299
hier geschätzt und geachtet wird. Der Pfahl meiner Gesundheit ist mir höchst

2
wohlthätig und unentbehrlich, bescheiden und müßig von mir zu halten. Bey

3
meinem ersten Besuch auf Diotimens Gartenhause wurde mir ein leerer Platz

4
angewiesen, auf dem eine kleine Wohnung gebaut werden sollte – in der mein

5
gantzes Haus Raum haben sollte. Aber der Prediger in der Wüsten vergißt

6
nicht sein Ithaka – ausgieng und wußte nicht wo er hinkam, durch den

7
Glauben ein Fremdling in einem Lande der Verheißung – weder die

8
Weisheit
noch die
Schätze Egyptens
, will ich mich an den halten, den ich

9
nicht
sehe
, als
sehe
ich ihn, und mittlerweile
schmecken
wie freundlich

10
Er ist. Diesen Winter ist an keine Reise zu denken; da ich bisher an nichts

11
denken können, als an die
Wider
her
stellung
meiner Gesundheit, die von dem

12
großen Kunstrichter in B. für reinen Wahnsinn erklärt und bescheinigt

13
worden in französischer und deutscher Sprache. Ich habe die
Urkunde
davon

14
in Händen, und hoffe eben so gute Beweise von meiner Widerherstellung zu

15
liefern, als ich von meiner wirkl. Krankheit, die ich niemals geleugnet habe

16
aber so wenig geglaubt worden, wenigstens mit theilnehmendem Mitleiden,

17
desto mehr mit hämischer Verachtung und Schadenfreude, Merkmale und

18
speci
öse Anzeigen gegeben habe. Erhalten wir einen Brief von Hans, so

19
werde es Ihnen melden. Ob
D.
L. den Winter hier bleiben wird, wie in M.

20
darauf angelegt ist, weiß ich nicht, und überlaß es seinem eignen Gewißen u

21
Urtheil. Grüßen Sie die gute Hausmutter, und schreiben Sie mir, wenn Sie

22
sich über sie zu beschweren haben. Die man lieb hat, zieht man beym Ohr,

23
wenn sie nicht von selbst gehen wollen. Wenn ich heimkomme, soll es eins

24
meiner ersten Geschäfte seyn die beyden Brüder auf Ihrem Landgute zu

25
beschmausen und ihre würdige
Tante
kennen zu lernen, an die ich öfters Anlaß

26
habe zu denken
mich
zugl. meiner eignen zu erinnern. Leben Sie wohl und

27
hören nicht auf mich zu lieben. Grüßen Sie die gnädige
Tante
auf dem

28
Tragheim u die ganze Gesellschaft. Kann Lehnchen nicht bald schreiben und hat sie

29
nicht ihren freundschaftl. Anweiser ungedultig gemacht und Marianchen

30
abgeschreckt?

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1844.

Bisherige Drucke

ZH VII 295–299, Nr. 1100.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
295/33
Hemsterhuis
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Hemsterhuis’
296/16
H
meinen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
h
meinen
296/22
Improvvisatore,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Improvisatore,
297/14
hat,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
hat
297/37
Bacchus
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Bachus
299/11
Wider
her
stellung
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Widerherstellung
299/26
mich
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
u noch