1108
316/22
Münster den 7 9
br.
87.

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Mein Herzens lieber Jonathan, Wie ich aus Deinem Hause herausgekommen

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bin, weiß ich nicht. Gut für mich war es wenigstens, daß ich nach

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dem Posthause gefahren wurde. Meine Besorgnis verschlafen zu haben – die

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elende regnichte Witterung – und der Himmel weiß alles, was mich blind

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und unsichtbar machte, daß ich weder Sinn noch Muth hatte von der Stelle

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zu gehen.

29
Außer dem
Colonel de Bright
waren noch 2 Kaufleute oder

30
Fabricant
en aus Wahrendorf nebst einem kranken
d
o
ihrem Vetter, dem der

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Abschied von Düßeldorf sehr schwer geworden war, und der sich den ganzen Tag

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von dem Valet der vorigen Nacht erleichtern muste, nebst einem Stutzer aus

S. 317
Wismar unsere Reisegesellschaft, die lebhaft gnug war, bis auf den alten

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Kalmäuser, der nicht Lust hatte den Mund aufzuthun, und leider wenig

3
Geschmack an dem
Corps-de-garde
– und reisenden Handwerksburscheneinfällen

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fand. Ich hatte weder in Duisburg Lust zu eßen noch eßen zu sehen,

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und behalf mich mit 3 Birnen und ein paar Züge Mallaga, womit Mamma

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Lene uns bedacht hatte, und wofür ich ihr im Herzen nicht gnug danken

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konnte.

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Ich freute mich auf einen ruhigen Abend. Mein alter Bekannter, der

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Vicarius
in
Dorsten
hatte die Grausamkeit uns beide, welche am letzten aus

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dem Postwagen steigen konnten weiter zu weisen, weil alles besetzt war von 2

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Extra
kutschen. Ich muste also bey einer dunklen Leuchte und
elenden
Wetter

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ein anderes Gasthaus aufsuchen, wo die Postillon-Pferde stehen, fand eine

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alte Frau mit ihrer Tochter am Kaminfeuer. Es war schon 11 und der

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Appetit vergangen vor dem Anblick der unreinen Gesichter und Schüßeln.

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Man wies uns ein kleines aber kaltes Stübchen an mit einem beßern Bette,

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als ich erwartete, und waren sicher aufgeweckt zu werden, weil der

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Schwager da zu Hause gehörte und wider vorbey fahren mußte.

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Gestern kam ich noch unruhiger nach Dülmen; mit einem
Franciscaner

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mehr, an deßen seraphischen Gesichte in der Kutte ich meine Augen, besonders

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wenn er eingeschlafen war weidete, wurde aber vor Freuden beynahe

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ausgelaßen, daß ein
extra
post uns entgegen gekommen war. Ihre Wahrsagung

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war also eingetroffen, und meine Furcht, bey einem so elenden Wege in der

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Nacht zu fahren. Unser Platz wurde durch einen neuen Reisegefährten besetzt,

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und ich dankte Gott für meines Alcibiades Vorsorge, die mir eine neue
arrha

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seiner Freundschaft war.

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Seit gestern Abend sind wir also nach Herzenswunsch hier, gegen 9 kamen

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wir an und der Postwagen hat erst diesen Morgen M erreicht. Gertrudchen

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hat sich herzlich über den Knopf meiner Schlafmütze gefreut, und konnte sich

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nicht satt dran sehn. Der Hausartzt
D.
Druffel wollte eben abgehen, wie wir

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ankamen. Frantz u Marianne nebst dem Raphael haben gestern Mittag bey

31
Diotime
gespeist und der erste ist Sonnabends in Allmodde gewesen, diesen

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Mittag einen kleinen Anfall von
Colic
schmerzen gehabt, wodurch unser

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Mittag ein wenig gestört worden; wünscht aber sehr bald selbst schreiben zu

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können. Mit Mariane soll es gut gehen, und die Hoffnung nimmt zu.

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Wilhelm hat eben aus dem Hause geschafft werden müßen, und deshalb die

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Dummheit im Sinn
haben wollen
gehabt seine Herrschaft gerichtlich zu

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belangen
verklagen
.
Mein rechter Fuß hat auch die
betise
begangen, wider

S. 318
während der Reise zu schwellen, ich hoffe aber, daß es weder von folgen noch

2
Dauer seyn wird – Nun, mein HerzensJonathan, mehr ist es nicht möglich

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zu schreiben. Ich bin leider! hier schon eben so tief in meine

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Paradoxologismen
gerathen, wie in P. Theilen Sie die innigsten Grüße und Küße meines

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Herzens und guten Willens von mir und uns allen dem Artzt und seinen

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Patienten mit, zuförderst an
Mama
und
Tante,
und was zu Ihrer Familie

7
gehört, HE
Schenck,
dem HE Hofrath, dem HE
Rector R
u Hoffmann.

8
Mehr kann ich heute nicht
Vale et faue,
mein
Jonathan,
Tuo
Fugitivo

9
Germano.
Sobald ich kann mehr – Gott empfohlen.


10
Adresse:

11
An / Herrn Geheimen Rath
Jacobi
/ zu / Düßeldorf.


12
Vermerk von Jacobi:

13
Münster den 7
ten
Nov. 1787.

14
J. G. Hamann.

15
empf den 9
ten

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 562–564.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 7: November 1787 bis Juni 1788. Hg. von Jürgen Weyenschops, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2012, 3 f.

ZH VII 316–318, Nr. 1108.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
316/30
d
o
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
d
o
317/9
Dorsten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Dorsten,
317/11
elenden
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
elendem
317/37
verklagen
.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
verklagen.
318/8
Jonathan,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jonathan,
318/8
Fugitivo
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
fugitivo
318/9
Germano.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
germano.