1110
324/2
Münster den 13 Nov. 87.
3
Herzlich geliebteste Gevatterin und Freundin,
4
Den 4
Oct.
wurde ich mit Ihrer liebreichen Zuschrift erfreut und ganz
5
Pempelfort nahm an meiner Freude Antheil. Ich habe 40
Bouteillen
Pyrm.
6
ausgeleert, und damit meine
Quarantaine
glücklich geendigt, die nicht gantz
7
ohne Gedeyen gewesen. Mein Appetit ist noch immer unbändig und mir
8
unerklärlich. Ich habe den October
über
durch das Abendeßen so viel
9
möglich zu vermeiden gesucht. Mein rechter Fuß war völlig hergestellt und
10
geschlungen, aber der linke blieb wandelbar. Mit dem Gefühl meiner
11
Erholung wurde auch eine Munterkeit mir und andern beynahe gefährlich.
12
Auch die Nahrung meiner Neugierde, die ich in dem Schatze meines
13
Jonathans an Büchern und Briefen zu stillen suchte, wuchs mir über den Kopf,
14
und auf einmal wachte in mir meine Bestimmung auf, den Urheber meines
15
Glücks hier aufzusuchen. Von Mariannens Umständen, die den 24
Aug
mit
16
einer jungen
Gertrud
niedergekommen war, erfuhren wir in P. nichts.
17
Mein lieber Reisegefährte Raphael war mit Hänschen den 8
Sept.
nach
18
Aschaffenburg abgereiset um den Geh. Rath
Hoffmann
über die Auszehrung,
19
womit Marianne bedroht wurde, nach glückl. Entbindung zu ihrer Cur
20
rathzufragen. Hänschen begleitete ihn zu seinem großen Vergnügen und seit
21
dem 26
Sept
war
D.
Lindner hieher gegangen um seine neue Patientin
22
hieselbst abzuwarten –
23
Den letzten
Nov.
geschah unser Einzug in Düßeldorf, wo mein
24
Jonathan eins der schönsten, prächtigsten Häuser besitzt, dicht am Thor und
25
am Wall der Stadt. Zwey der schönsten Stuben wurden uns beyden, Vater
26
u Sohn, hier zu Theil. Hier wurde die Versuchung noch größer, bey
der
27
ganzen Bibliothek
, für meinen schwachen Kopf und unersättl.
28
Magen. Ohne Gewalt war die Scheidung unmögl. und ein neuer Rückfall meiner
29
gestützten u geflickten Gesundheit noch gefährlicher. Die Vorsehung verließ
30
mich nicht und ich verschwand mit meinem Sohn den 5
ten
dieses aus meines
31
Jonathans Zauberschloße, mit einem pollnischen Abschiede, ohne selbst zu
32
wißen wie? Der Postwagen war voll, die Witterung kläglich. Ein
Colonel
33
de Bright
, der sich in Pempelfort als ein
Avanturier
gemeldet und den Tag
34
vor unserer Abreise um Empfehlungen an die Princeßin Gallitzin gebettelt
35
hatte, beschäftigte und ermüdete meine Aufmerksamkeit. Ich war Dienstags
S. 325
zu Mittag gantz erschöpft – wurde aber beynahe entzückt, wie mir der
2
Postmeister auf der letzten Station vor Münster in
Dulmen
zum freundl.
3
Willkomm meldete daß eine
Extra
post, die Alcibiades mir entgegengeschickt
4
hatte, unserer erwartete. Ich dankte Gott und fühlte mich wie neugeboren,
5
wünschte unserer bisherigen Reisegesellschaft gute Nachfolge, die erst den
6
Morgen drauf angekommen und wir waren schon vor 9 Uhr Abends just
7
zum Abendbrodt und fanden
Frantz, Marianne
und unsern
D
.
8
Raphael
auf uns warten voller Freuden und Zufriedenheit von allen Seiten.
9
Die ganze Familie war eben zu Mittage bey der Princeßin gewesen, bey der
10
man meine Gesundheit getrunken hatte, und einen baaren Kuß von Mann
11
und Weib. –
12
Den Sonntag
XXII
hatte ich in Düßeldorf den ersten Versuch gemacht
13
meine Stiefel anzuziehen, ich that daher die Reise gestiefelt, und darüber
14
waren die Schuhe vergeßen worden. Bey meiner Ankunft waren meine Füße
15
stark geschwollen, der rechte ärger als der linke. Ich wurde sehr
16
niedergeschlagen und gerieth in eine schwermüthige Furcht alles gewonnene wider
17
verloren zu haben. Den 10 that ich den ersten Spatziergang in Stiefeln, und
18
erhielt einen zärtl. Brief von Jonathan nebst einer Einl. aus Weimar und
19
der
dritten
Sammlung der Zerstreuten Blätter, die ich aber noch nicht
20
habe ansehen können. Den 11
Dom. XXIII.
gieng Frantz in sein 29 Jahr
21
und es war eine gute Ahndung gewesen, die mich angetrieben hatte ohne es
22
zu wißen, denselben hier feyern zu können. Vormittag habe ich hier die
23
ersten Kirchen besucht und den würdigen Ex-minister von Fürstenberg, meinen
24
hiesigen
Pericles,
der sich herzlich freute mich so ziemlich erneuert und
25
verjüngt
wiederzusehen. Er hatte mir ein Werk meines Lieblingsautors
26
Gagliani
vom Münzwesen nach Pempelfort geschickt, den Mann selbst in Paris
27
gekannt, und bot mir sehr grosmüthig den Gebrauch seiner ganzen Bibliothek
28
an. Seine
Adelheid
, Hemsterhuisens
Diotima
, und
Aspasie-
29
Diaphane,
ich meyne unsere Princeßin hat gleichfalls die Schlüßel zu der Ihrigen
30
für mich zurück gelaßen, und die Erlaubnis gegeben so oft ich wollte
Caffé
31
bey ihr zu bestellen. Ich bin willens heute den Anfang zu machen. Sie ist auf
32
Ihrem Bauersitz Allmodde – O wie viel werde ich Ihnen, liebste Gevatterin
33
u Freundin, von dieser großen und guten Seele erzählen können, die mehr als
34
schwesterlich Ihnen verwandt ist.
35
Hans Michel hat eben einen neuen Ueberrock angezogen, den ihm
36
Marianne u Frantz haben machen laßen, um Ihnen die Hände zu küßen und sich
37
Ihnen und Henriettens nebst den übrigen Genoßen und Freunden Ihres
S. 326
Hauses bestens zu
empfehlen
.
Er wird die
Reitschule
welche er zu
2
Düßeldorf nebst dem
Zeichnen
angefangen, hier fortsetzen, und hatte mit
Max
3
das Griechische angefangen, wurde auch dafür an seinem Geburtstage mit
4
einem neuen schönen Rocke ausstaffiert.
5
Marianne hat mich zu ihrem Sprachmeister im Engl. angenommen, mit
6
meinem
D. Raphael
übe ich mich ein wenig im
ital
welches ich beynahe
7
vergeßen habe. Nun liegt mir noch eine Reise nach
Wellbergen
im Kopf;
8
vor welcher ich aber
noch
erst die Hütte zu
Allmodde
sehen muß, ehe die
9
Muse nach der Stadt zieht.
/
Gestern Nacht – denn leider ißt man hier u zu
10
Düßeldorf immer erst um 9 Uhr u Mittags um 1. habe ich zum ersten mal
11
mit dem hiesigen Hausartzte
D. Druffel,
einem Bruder meines nach Franz
12
zweiten hiesigen Freundes gespeist, der zu Michaelis nach Göttingen
13
abgereiset ist.
14
Ich habe Ihnen schon gemeldet meines Wißens, daß mein lieber Alcibiades
15
in seiner Wirthschaft der gröste Philosoph auf Gottes weiten Erdboden ist
16
nächst mir, und meines Jonathans seine in P. und D. ein Muster von
17
Ordnung, die er seinen beyden Schwestern, der
Mama
und
Tante
zu verdanken
18
hat. Ich bin 3 Monathe, weniger einige Tage, kein Müßiggänger der
19
hohen Schule
zwischen den beyden Amazonen gewesen, die ich wie
20
Schwestern geliebt und bewundert habe; und ich werde auch an dem hiesigen
21
Reichstage
vermöge meines
pollnischen
Indigenats
Antheil
22
nehmen müßen. Dort habe ich meinen
cursum absolui
rt, und hier hoff ich noch
23
mehr, mit Gottes Hülfe nicht gantz umsonst
hergeschickt worden
zu
24
seyn, und glaube an beyden Arten mein
Element
gefunden zu haben,
25
Nahrung
und
Beruff
. Daß
s
Seine Hand mein Schicksal regiert und
26
am Steuerruder wirkt, fühl ich täglich mehr. Ich habe gestern Mittag zum
27
ersten mal außerhalb meinem Vaterlande
Ithaca
graue Erbsen geeßen, und
28
ich hab es auch meinem Michael angesehen, daß er sich nicht so gut zum
29
Cosmopolit
en
qualifici
rt als unser gute
D. Raphael.
Sie werden uns also,
30
liebste Freundin und Gevatterin mit Göttlicher Hülfe in Ihrem Hause
31
widersehen, aber die Zeit ist in Seiner Hand und nicht in unserer Faust, hängt auch
32
nicht von unserm
Calcul
ab. Der mich unter so viel
Wundern
und
33
Zeichen
hergeführt hat, wird mich auch mit Fried und Freud heimbringen ins
34
rechte Vaterland! Kyrie, eleison. und mir jeden Himmel, jedes Elysium auf
35
Erden zu verleiden wißen. Bisher ist es immer wie auf der Hochzeit zu Cana
36
gegangen, wo es auch hieß: Meine Stunde ist noch nicht kommen. Sobald
37
die schlägt, hilft kein Herzmütterchen! nicht und meine Füße sollen denn weder
S. 327
dicke seyn, noch müde werden. Ich werde sie brauchen können, wie ein Adler
2
seine Flügel.
3
Gott bezahle es Ihnen, daß Sie auch für die Meinigen sorgen, und
4
vergelte es reichlich den Ihrigen, die ich sämtlich und sonders in Gedanken
5
umarme und in Gesellschaft derer, die ich hier die Meinigen nenne, alles Gute
6
wünsche.
7
den 14 –
8
D. Raphael wollte mich heute magnetisiren, aber ohne Erfolg. Wir lasen
9
gestern des
Gmelins Brief
an den ehemals hier lebenden Dr. Hoffmann.
10
Ich bin gestern bey Diotima gewesen und habe auf ihrer Bibl. mir den
11
Caffé
gut schmecken laßen. Morgen komt sie vom Lande zurück. Ach! liebste
12
Freundin, wir würden Sie in dem Creyse, wohin mich die Vorsehung versetzt
13
hat, hier auch wie in Ihrem
Elemente
seyn. Was für eine Welt! was für
14
neue Erscheinungen! was für Ideale der Menschheit! von denen sich kaum
15
bey uns
ahnden
läßt, wenn man auch so glücklich in seinem Suchen gewesen
16
ist, wie ich es im Ge
ruch
nuß der wenigen, mit und unter denen ich gelebt.
17
Wie angenehm wird es einmal seyn, davon zu schwatzen und sich deßen zu
18
erinnern – und wie viel wird es kosten sich wider zu
entwöhnen
,
19
woran man sich gesund und groß gesogen hat. Hans hat heut die
Reitschule
20
angefangen bey einem Oberbereiter Weyrothen, einem beßeren Bruder des
21
ehemal.
Avant
urie
r
s, der mit Ehrenreich in Verbindung stand. Der alte
22
Pericles
hat sich um Reiten und Fechten sehr verdient gemacht, durch die
23
Neigung zu diesen Leibesübungen, die hier auf einem gantz neuen
24
wißenschaftl. und mathematischen Fuß getrieben werden. Der Fechtmeister
Miquel
25
ist ein tägl. Gesellschafter der Fürstin, die mit Freuden auch meinem Sohn
26
diesen Vortheil wird angedeyen laßen. Eben erhalte einen Gruß von unserm
27
lieben Hartknoch in einem freundschaftl. Briefe von meinem alten
28
Correspond
enten
Prudentius, vulgo
Kleuker, mit dem ich 14 Tage in Pempelf.
29
den Brunnen getrunken habe.
30
Das erste Buch, was ich hier gelesen, sind die
Schwärmer
oder
31
Theobald
von dem berüchtigten Jung, das mir viel Gnüge gethan, besonders
32
der erste Theil. In Pempelfort war das erste Buch des
Hallers
33
Recensionen besonders theologischer Bücher, an denen ich auch meine Freude gehabt,
34
und besonders war mir sein Tagebuch merkwürdig. Aus der
Me de la Roche
35
ihrem
Journal
habe ich 2 Bücher kennen lernen,
Etudes de la Nature
36
von einem der nächsten u. würdigsten Freunde des
J. J. Rousseau
und die
37
Lettres Helv
et
iennes
,
die ich Ihnen gern wünschte. Jon. hatte
S. 328
die ersten selbst ohne den
Werth
des Buchs zu kennen, und verschrieb sich die
2
letzten. Die Pomona steht in genauem Briefwechsel mit
Mama
Lehne, wird
3
aber sehr ungl. beurtheilt. Ich habe von ihren Briefen u Handschriften zu
4
lesen bekommen, Ihr Kupfer u mehr als einen Gruß, fürchte mich aber vor
5
allen neuen Verbindungen, weil ich an den wenigen
genug
und
mehr
habe
6
als ich bestreiten kann.
7
Nach dem Tode des seel. Hennings ist der Rathherr Christoph Berens aus
8
Riga der
Dechant
oder Älteste meiner noch lebenden Freunde. Sie können
9
sich nicht vorstellen, wie sehr mich sein Andenken u der Besuch bey der
10
Bar.
onesse
gefreut und erqvickt hat. Meine
Lisette Reinette
komt den 28
Xbr.
11
wider zu Ihrer lieben Mutter u Schwestern. Ich denke noch vor Verlauf der
12
Zeit an meine alte Wohlthäterinn zu schreiben. Sie werden auch bey dieser
13
Veränderung meine Abwesenheit ersetzen, und sowohl meiner Tochter als
14
ihrer gnädigen
Tante
behülflich seyn.
15
Wegen meines Eleasar Hill bin ich in Sorgen, daß er in meinem Hause
16
nicht Genüge hat noch selbiges anzuwenden weiß, wie ers verdient, und wie
17
ich es mit ihm gemeynt habe. Ich hoffe doch wohl, daß meine Mutter soviel
18
haben wird, mit ihrer Haushaltung auszukommen. Lehnchen hat mir mit
19
einem kleinen Briefe viel Freude gemacht, weil sie mir von allem
20
Gartengeköche Rechenschaft gegeben. Wenn sie den Brief selbst geschrieben, und ein
21
wenig fertiger so aus ihrem eigenen Gehirn schreiben könnte: so wäre ich weit
22
beßer zufrieden, als mit den Knicksen und Complimenten, worinn mein liebes
23
ältestes Mädchen zu sehr eine
Lisette Reinette
mir zu spielen scheint. Ich
24
mag das gute Kind nicht gern mit dem Eindrucke, den
Ihre
Briefe auf mich
25
gemacht haben oder machen, betrüben oder beunruhigen; da ich ohnehin
26
Ursache habe gegen meine guten so wohl als bösen Eindrücke mistrauisch zu
27
seyn.
28
den 16 des Morgens gegen 8.
29
Der helle Morgen hat mich heute zum ersten mal munter gemacht
30
aufzustehen und das ganze Haus zu wecken. Vielleicht besuche ich die Pr.
inzessin
31
welche gestern angekommen u eine Tagreise mit Perikles thun will.
32
Ihnen, liebste beste Freundin! überlaß ich die Sorge mir zu berichten, ob
33
und wie meinem Hill zu helfen steht und ob es ihm am guten Willen oder
34
reinen Vernunft fehlt, klug und zufrieden mit den Umständen seiner Lage zu
35
seyn. Meinetwegen soll er nicht das kleinste Glück, das ihm aufstoßen könnte,
36
verscherzen oder von sich weisen. Gott wird mein Haus wol hüten und in
37
Seinen Schutz nehmen, daß er deshalb ohne Besorgnis wie ich selbst seyn kann.
S. 329
Ich habe bey meinen Maasreguln so wohl auf ihn als mich selbst Rücksicht
2
genommen. Seyn sie so gütig sich deshalb erst mit meiner lieben Hausmutter
3
zu besprechen, ehe sie ihm selbst auf den Zahn fühlen, oder ziehn Sie
4
allenfalls meinen Prof. Kraus zu Rath, der auch
oeconomica
beßer für andere
5
als sich selbst versteht. Eine philosophische Haushaltung wie meine und
6
die jetzige, ist ein sehr unterhaltendes und erkenntliches Schauspiel für einen
7
treuen Beobachter.
C’est du
com
ique
larmoyant,
eine dem Gaumen
8
auffallende Mischung von Süß und Sauer – zu deßen Ge
nuß
schmack man
9
durch Ueberredung genöthigt werden muß.
10
Kom eben von unserer
Diaphane,
die aber schon mit
Pericles
und ihrer
11
Familie nach einem Städtchen
Laar
gefahren zum Schul
examen.
Dies
12
gehört zum
Departement
des würdigen
Exminist
ers, und Erziehung ist sein
13
und ihr Steckenpferd. Eine Tochter von Henriettens oder Lieschen Alter, ein
14
Sohn
à
16 und eines Bruders Tochter, Gräfin von Schmettau, ein kleines
15
allerliebstes Wundergeschöpf, ein wahres Sibyllenkind – Ein gewißer M.
16
Haas ist der Aufseher, sieht mehr nach einem
Aumonier
als
Mentor
aus.
17
Frantz habe zum ersten mal in seinem Schlaf
apparatu
gesehen, liegt wie ein
18
poupon
eingewickelt im Bette, der sich unter seinen Decken und 7 Häuten nicht
19
rühren kann;
Marianne
war schon geputzt und wurde unten von ihrer
20
Mutter erwartet. Mit welcher Sorglosigkeit ich hier lebe, läßt sich nicht
21
beschreiben. Wenn noch ein Endchen Tocht in meiner Lebenslampe übrig ist: so fehlt
22
es ihr weder an Oel noch Wein zur Nahrung und zum Heil meiner Wunden
23
und zum Ersatz meiner verlornen Kräfte; die ich aber zu Rath halten muß,
24
wenn ich meine Heimath widersehen soll. Am
XI Dom.
verzagte ich beynahe
25
an allem, und erlag unter den Reinigungen und Abführungen – Weder
26
Othem noch Füße wollten mehr fort. Meine Brust ist nun ziemlich frey,
27
mein Othem wird immer stärker, mein zwar schwacher Kopf immer heiterer
28
und leichter, mein Seelenhunger lenksamer. Jedermann sah mich mit
29
Mitleiden an, und die mich lieben, wundern und freuen sich, wenn es mir wie
30
allen Genesenden geht,
oder ich
die hinten und vorn ausschlagen von Kitzel
31
und Muthwillen des Selbstgefühls. Auch nützlich zu werden hab ich hier ein
32
großes Feld – und Sie wißen, wie schwer es mir wird, langsam zu gehen,
33
und wie bald ich im Laufen ermüde. Also Gedult hat man zu allem nöthig,
34
und auch die hängt von den zunehmenden Kräften ab, die ich von Gott
35
erwarte zu allem, wozu Er mich beruffen hat in diesem Weinberge –
36
Alle meine wenige und seltene Freunde sind die Ihrigen und denken Ihrer
37
im Besten. Was für ein schönes
Trio
würden Sie hier zwischen Mariannen
S. 330
und Diaphanen, und zwischen den beyden Amazonenschwestern meines
2
Jonathans. Glauben Sie es mir im Ernst, daß dergl. Ideen bisweilen angezapft
3
werden, und daß der Prediger in der Wüsten samt seinen andächtigen
4
Zuhörern und Zuhörerinnen sich bisweilen berauscht und Mühe hat dergl.
5
Grillen zu unterdrücken und wider auszulöschen, wenn sie in Brand gerathen. Wir
6
wollen aber keiner Versuchung eine Erlösung von allem Uebel zu verdanken
7
haben: sondern lieber alles mit
Enthaltsamkeit ertragen
, wie mein
8
politischer Freund
Crispus
vermahnt.
9
den 17 im Bette.
10
Das frühe Aufstehen bekommt mir noch nicht; ich muß die
11
Morgenstunden im Bette abwarten. Gestern war ich den ganzen Vormittag schläfrig
12
und mein linker Fuß des Abends geschwollen. Daß ich meinen Kopf noch
13
zu keiner Arbeit brauchen kann, und wie unbeholfen ich zum Schreiben und
14
Denken bin, werden Sie aus dieser Probe ersehen. Wegen des
Porto
15
verlieren Sie kein Wort mehr und eben so wenig Groschen. Das pollnische
Porto
16
ist gnug. Ich muß hier in allem freygehalten werden nebst meinem Michael,
17
der sich Ihnen nochmals herzlich empfiehlt und alle Ursache hat Gott für
18
unser Schicksal zu danken. Unser Reisegefährte bleibt auch den Winter über
19
hier, weil man ihn nicht
weglaßen
will, und er hier nützlich und brauchbar
20
ist, und nimmt an meinen Gesinnungen für Ihr Haus mit Blut und Muth
21
Antheil.
22
Vergeben Sie einem alten kranken Freunde das gantz abscheuliche
23
Geschmier und Gewäsche. Wenn ich dort wieder seyn werde, soll alles mit mehr
24
Sinn und Geist ausgelegt werden, was sich durch den todten Buchstaben
25
nicht ausdrücken läßt – In meinem Kopf sieht es wie am Cartesianischen
26
Himmel aus – alles voller Wirbel, die ein beßeres System, als ich jetzt zu
27
zeichnen imstande bin, vertreiben und aufklären wird. So lange müßen wir
28
beyde schon warten u Gedult haben. Ich küße Ihnen Hand und Mund mit
29
den freundschaftlichsten Wünschen der dankbarsten Liebe und Hochachtung,
30
mit der ich zeitlebens schuldig bin zu seyn
31
Ihr
32
alter Freund u Gevatter
Joh. Georg H.
33
Ich erwarte heute den ersten Brief aus Düßeldorf und habe blos ein
34
Aviso
meiner glückl. Ankunft bisher ertheilen können – muß also auch
35
schreiben und alles aufwärmen – aus Mangel der
Zeit
und der
Kräfte
.
36
Gott seegne uns! Amen.
S. 331
Liebwertheste Freundin und Gevatterin
den 24 Nov. 87.
2
Heute vor 8 Tagen lag ich im Bette, und hatte nach dem an Sie
3
geendigten Briefe, einen an meinen Jonathan angefangen als die vortrefl. Fürstin
4
mit ihrer ganzen Familie erschien, und ehe sie aus dem Thore nach ihrem
5
Bauersitze zu Fuß gieng, uns mit Gruß und Kuß vorher seegnen wollte.
6
Vorgestern wurde hier das Fest der heil.
Caecilia
gefeyert, ohngefehr so ein
7
Fest wie bey den Juden meines Namensvetters für die Jugend. Die Nacht
8
drauf wurde ihr zu Ehren ein Ständchen gebracht, daraus eine garstige
9
Schlägerey mit der Wache entstanden, die sehr mishandelt und blutig
10
geschlagen worden. Ein
Doct.
Juris
,
2
Vicarii,
wie man hier die
11
Candidaten
Theol.
nennt p sind als Burschen u Rädelsführer nunmehr erkannt
12
worden, werden aber wohl der Strafe entgehen, weil die hiesige
Justice
mehr
13
ecclesia
stisch als militairisch ist. Ich habe von dem Ständchen und Lerm
14
nichts gehört, wurde aber durch einen
Tumult
in meinen Eingeweiden
15
aufgeweckt, und
durch
von einem Durchfall heimgesucht, der mich sehr
16
abmattete aber auch sehr heilsam für mich gewesen. Der Anlaß war der
17
Gebrauch neuer
China
pillen statt der bisherigen Eisenmittel. Mein linker Fuß
18
ist seitdem so geschlungen daß er kaum von dem rechten mehr zu unterscheiden
19
ist, und
D. Raphael
sehr mit der kritischen Perturbation zufrieden. Bey der
20
reichen Diät, die in Düßeldorf und hier gewöhnlich von 4 und 5 Gerichten,
21
bey dem alten Rheinwein, den ich gewöhnlich trinke und dem Gläschen
22
Alicante,
den
Frantz
zu seinem Leibwein hat und von dem ich bisweilen
23
koste, war eine kleine Ausleerung höchst nöthig. Heute feyren wir den
24
Geburtstag unseres kleinen
Engels
Gertrud, die just das erste Vierteljahr
25
ihres Lebens schließt. Es ist ein frommes liebes Kind, das dem alten kranken
26
Mann gut zu seyn scheint, und besonders sich an der Troddel seiner
27
Schlafmütze nicht satt sehen kann.
28
Ich lege Ihnen eine Einl. an unsern lieben Prof. Kraus offen bey, der
29
diese
licentiam poeticam
nicht übel nehmen wird, so wenig als Sie, weil ich
30
glaube, daß Sie gegenseitige
Assistentz
nöthig haben werden um meine
31
Insectenschrift zu lesen. Ich erwarte heute Briefe aus Düßeldorf; Gott gebe
32
daß ich mit
Einl. aus Kgsb.
zugl. beseeligt werde, auch von Ihrer lieben
33
Hand, die ich küße und
mich
Ihrem Andenken nebst den meinigen hier und
34
dort bestens empfehle. Gott erhöre alle Wünsche, die ich thue; doch Seine
35
Gnade übertrifft unendlich alles was unser Herz ersinnen und begehren kann.
36
Sie ist über uns Allen und allenthalben jeden Morgen, Mittag und Abend
37
neu und unerschöpflich für jeden, der darauf
merkt
. Aus Pempelfort und
S. 332
Düßeldorf und von meinen jetzigen Wirthen und Hausgenoßen werden Sie
2
auf das zärtlichste und innigste gegrüßt. Daß ich an unsers seel. Kreutzfelds
3
Reliquien gedacht in Berl. – habe ich Ihnen meines Wißens schon gemeldt.
4
Ich habe soviel mit den Lebendigen zu thun, daß ich mich um die Todten
5
wenig bekümmern kann, und Sie wißen, daß ich jede Autorschaft als die
6
Excremente der menschl. Natur ansehe, um die man sich nur als Kranker oder
7
Artzt, daß heißt, Diener der Kranken bekümmern muß. Es ist Mittag und
8
ich freue mich aufs liebe Eßen und Trinken, und eben so sehr auf den
9
Augenblick beydes wieder los zu
geben
werden und der Erde wieder zu geben, was
10
aus ihr genommen ist. Vergeben Sie mir diese ungezogene Natursprache. Sie
11
ist die Mutter meiner dürftigen Philosophie, und das Ideal dieser
12
ungerathenen Tochter, welche mit ihren Füßen auf der Erde steht und geht, nur
13
mit ihren Augen den Himmel erreichen kann, von ferne, von weitem und je
14
länger, desto dunkler. Je mehr die Nacht meines Lebens zunimmt, desto
15
heller wird der Morgenstern im Herzen, nicht durch den Buchstaben der
16
Natur, sondern durch den Geist der Schrift, dem ich mehr als jenem zu
17
verdanken
habe
18
Erfreuen Sie mich bald mit guten Nachrichten von Ihrer Gesundheit und
19
dem Wohlbefinden der Ihrigen. Entschuldigen Sie mein Geschwätz und
20
Geschmier. Meine Gedanken schweifen so weit herum, und ich werde so öfters
21
gestört, daß es unmögl. ist selbige in Ordnung zu bringen. Leben Sie recht
22
wohl, und erinnern Sich immer im Besten Ihres alten
23
Freundes u
Comp.
24
Joh. Georg H.
25
P. S.
In der deutschen Zeitung steht ein Mährchen von einer
26
Rabenmutter dort, die ihr Kind durch eine barbarische Zucht umgebracht. Ist die
27
Geschichte wahr, und ihr Name bekannt? so melden Sie uns doch denselben.
28
Blaugraues Couvert mit Adresse, rotem Lacksiegel (Wappen) und Postvermerken:
29
à Madame / Madame Courtan / née Toussaint / à /
Koenigsberg
/
30
en Prusse
.
Hildesheim
31
Bogen mit roter Tinte signiert:
32
Nr
o
15 A.
33
Zettel mit roter Tinte signiert:
34
Nr
o
15 B.
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 2.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 388–394, 399–400.
ZH VII 324–332, Nr. 1110.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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324/23 |
Nov. ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Oktober |
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325/25 |
verjüngt ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: vergnügt |
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326/1 |
empfehlen . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: empfehlen. |
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326/6 |
ital ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: ital. |
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326/9 |
/ ]
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Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel. |
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326/27 |
Ithaca |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ithaka |
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328/1 |
Werth ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Wert |
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328/10 |
Bar. onesse |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Bar onesse |
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328/24 |
Ihre ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: ihre |
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329/7 |
com ique |
Geändert nach der Handschrift; ZH: comique |
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330/19 |
weglaßen ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: weglassen |
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332/17 |
habe ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: habe. |
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332/30 |
Hildesheim |
Hinzugefügt nach der Abschrift Wardas. |
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332/32 –34
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Nro […] B.] |
Hinzugefügt nach der Abschrift Wardas. |