1122
372/22
Königsb. den 10ten
Demb
87.


23
Vermerk von Hamann:

24
Erhalten den 26 –


25
Verehrungswürdiger u. lieber Freund

26
Beynahe glaube ich, daß mein weinerliches Schreiben vom 18ten Oct.

27
Ihnen mißgefallen, oder garnicht zu Händen gekommen ist, weil Sie mich

28
und Ihre lieben Hausgenossen seit so langer Zeit mit keiner Zeile von Ihrem

29
Wohlseyn erfreut haben. Demohngeachtet erfordert meine Pflicht, Sie ietzt

30
zu
unterbrechen;
und Ihnen zu melden, daß die 6 Exemplare vom Alexis

31
den 4ten Decemb. endlich angekommen sind, damit Sie alle Nachsuchungen,

32
wo diese geblieben seyn könnten, unterlassen möchten. Denselben Tag habe

33
ich sie Ihrem Auftrag gemäß vertheilt, und eins für mich behalten. Für

S. 373
dieses Denkmahl eines freundschaftlichen Andenkens an mich bitte ich Sie

2
edler Hamann dem H
e.
Geh. R. Jacobi gehorsamst von mir zu danken.

3
Auch H
e.
K. R. Hippel hat es mir zur heiligsten Pflicht gemacht, Sie zu bitten

4
ihn außer seiner Danksagung noch besonders an
H
e
Geh. R. zu empfehlen

5
– Ich habe einen neuen Mäcen H
e.
Graf v. Keyserling, verlohren, dem ich

6
bey seinem Leben den 2ten T. von
Poetical Library
für seinen abwesenden

7
Neffen überbrachte, und mich mit der Bitte empfahl, meiner zu gedenken,

8
wenn jemand im Italienischen Information nehmen wollte. Der seel. Graf

9
war gleich so geneigt, seinen
altesten
Großsohn H
e.
Graf Heinrich von mir

10
unterrichten laßen zu wollen, hatte aber bey meiner Wiederkunft seinen

11
Entschluß geändert, und fragte mich, ob ich auch Englisch verstände. Ungeachtet

12
ich ihm meine Stärke und Schwäche in dieser Sprache offenherzig

13
heraussagte, war er doch mit meiner Erklärung zufrieden, und ließ den G. Heinrich

14
Stunden nehmen. Zu gleicher Zeit both er mir 4 mal die Woche seinen Tisch

15
an, welches ein Donnerschlag für mich war, weil ich es nicht auszuschlagen

16
wagte. Denn meine so oft angefangene Cur, deren Hälfte ich ietzt glücklich

17
erreichet, und welche ich nun mehr als jemahls bedurfte, weil mich

18
Verzweiflung diesen Sommer in eine offenbahre Krankheit gestürzt hat, wurde

19
ietzt auf einmal unterbrochen. Ich nahm dahero dieses so gut gemeinte

20
Anerbieten wie ein Sünder an, der sein Todesurtheil hört und die Hofnung

21
jemahls wieder gesund zu werden und froh zu leben, welche mich noch erhalten,

22
wurde mir ietzt wieder auf einmal geraubet. Seit dieser Zeit ist auch jeder

23
Trieb zur Thätigkeit ganz in mir erloschen, und wie ein verunglücktes Schiff

24
vermag ich nicht mehr dem unruhigen Strudel meines Geschicks zu

25
wiederstreben
. Um mein Amt gehörig vorzustehen, bringe ich die Zeit, wo die

26
Schreken der Aussicht in die Zukunft mich weniger verfolgen mit Erlernung

27
des Accents und der Aussprache der englischen Wörter im Dictionär des

28
Sheridan zu. Obgleich diese Arbeit mit saurer vorkommt als den Gotthard

29
im Winter zu übersteigen, so läßt sie doch bisweilen einen Strahl der

30
Hofnung in meiner Seele hervorbrechen, wenn ich träume, daß sie ein Mittel

31
werden könne mehr englische Schüler zu erhalten, und ich dadurch in den

32
Stand gesetzt werde nach Töplitz oder dem Carlsbade das einzige Mittel zu

33
meiner Ruhe zu gehen. Wenigstens bin ich fest entschloßen, wenn ich nicht

34
mehr Schüler erhalte, den 1ten May auf ein Jahr lang eine Condition

35
anzunehmen, und dann aufzubrechen. – So sehr ich auch ein Einsiedler und

36
traurig bin, scheinen Ihre liebe Hausmutter und Kinder harmlos und munter zu

37
seyn. Sie haben den 2ten Decembr sämmtlich den Geburtstag des H
e.
Milz

S. 374
und seiner Tochter feyerlich begangen, indeß ich mich an meinen schwarzen

2
Phantasien geweidet, und mein einzig zurückgebliebener und zärtlich fühlender

3
Freund N. mir sein Dach und seine Kartoffeln mitgetheilet hat. Gott lohn’s

4
dem edeln Jüngling für sein treues Herz, der einzig mich hier noch liebt, und

5
mich noch dann und wann im Leben noch Vergnügen finden läßt
„O Spirto

6
beato quale Se’, quando altrui fai tale?“
Wir haben den Ariost geendiget,

7
und lesen ietzt den Petrarch, der so wenig wir auch davon verstehen, uns

8
manche Wonne fühlen läßt. Dieser wahre Freund denkt auf Ostern

9
Baccalaur zu werden, und liest deswegen fleißig Hebräisch mit mir, wo er mit

10
meiner Schwäche fürlieb nimmt, und ich ihm jedes Wort
analisi
ren muß. Ich

11
wünschte von Herzen daß die Helene mich ebenso fleißig im Französischen

12
besuchen möchte, als ich bereit bin mit ihr vorzunehmen, und mich jedesmal

13
innerlich
freue
wenn sie kömmt, um Ihnen auch nur einen schwachen Beweis

14
von meinen erkenntlichen Gesinnungen bezeigen zu können, für die so viel

15
geleisteten Wohlthaten, deren Dank ich Ihnen Leider ewig schuldig bleiben

16
muß. Ich habe deswegen schon Ihrer Liesette Reinette Winke gegeben, Ihre

17
Helene zum Fleiß zu ermuntern, weil meine Vorstellungen nicht viel helfen,

18
und
meine Zu
erstere gebeten mein stürmendes und menschenfliehendes

19
Wesen für würkliche Leibes- und GeistesSchwäche erklären zu wollen. Ich

20
habe auch das Clavier Ihrer ältesten Tochter überlaßen müssen, nicht wie

21
man vorgiebt aus Mangel an Lust sowohl des Lehrers als des Schülers,

22
sondern einzig u allein weil ich die Bachischen Sachen nicht überhöre, und

23
darüber beym Aufsagen zu hitzig werde, als es mein kranker Geist iezt

24
auszuhalten vermag. Will Ihre liebe Lisette bey Ihrer Zurückkunft aus der

25
Pension meine gute Absicht nicht verkennen, und mit meiner wenigen

26
Kenntniß in der Geschichte fürlieb nehmen, so will ich fleißiger mit ihr seyn als

27
ietzt wo ich an eine sehr unbequeme Stunde angewiesen bin, und gerne noch

28
die wenige Zeit meines Hierseyns die letzte Hand an meiner ersten und

29
fleißigsten Schülerinn lege. Da mir mein eigenes Weiterkommen in Kenntnißen bey

30
meiner Krankheit so gleichgültig ist, so ist kein Wunder daß ich nicht noch

31
thätiger im Lehren anderer bin. Ich bin Ihr ewig schuldiger Freund Hill
il

32
Romeo.
Tausend Grüße von Ihrer lieben Familie, sämmtlichen Freunden,

33
u H
e.
Wagner.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1849.

Bisherige Drucke

ZH VII 372–374, Nr. 1122.

Zusätze fremder Hand

372/24
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
372/22
Demb
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Demb
372/30
unterbrechen;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
unterbrechen,
373/4
H
e
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
H
e.
373/9
altesten
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ältesten
373/25
wiederstreben
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Wiederstreben
374/13
freue
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
freue,