1124
376/3
Erlauchte Fürstin,
4
Gnädige Frau,
5
Ew. Durchlauchten huldreiche Zuschrift habe erst den 9
ten
d.
erhalten, weil
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selbige einige Stunden nach meiner Abreise von Münster am 4 angekommen
7
seyn soll. Der Hauptabsicht der darinn enthaltenen Anfrage ist bereits von
8
meinen dortigen Freunden Genüge geschehen, an deren genoßener Freude und
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Ehre ich nur im Geiste den lebhaftesten Antheil nehmen können.
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So wenig ich auch im stande bin, Gnädige Fürstin, den in Angelmodde
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gehabten Genuß weder mündlich noch schriftlich zu erkennen, und so sehr ich
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mich auch genöthigt fühle, wegen meiner Unvermögenheit und Schwäche
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mich alles Umganges annoch zu entäußern bis zu beßerer Erholung meiner
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erschöpften Kräfte, die ich mehr wünsche als hoffe: so halte ich es doch für
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eine Art von Gewißenspflicht einen verlornen Einfall, den Ew.
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Durchlauchten einer zu günstigen Aufmerksamkeit gewürdigt haben, und zu einem
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Grundsatze aufzunehmen geruhen, näher zu bestimmen
18
„Ein Ackermann muß freylich auf die köstliche Frucht der Erde warten,
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und so lange gedultig seyn, bis er den Morgen- und Abendregen empfahe“,
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wie es in der Epistel
Jac.
V.
7. ausdrücklich geschrieben steht. Dies versteht
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sich aber nur unter zwey vorausgesetzten Bedingungen: nemlich, wenn er
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1.) sein Feld nach den
verschiedenen Eigenschaften
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des
Bodens
gehörig zubereitet, und
24
2.) demselben
guten
und
reinen
Saamen anvertrauet
25
hat. Matth.
XIII.
24.
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Gleichwol scheint derselbe Apostel gegen das Ende seiner Epistel
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anzudeuten, daß die physischen Erscheinungen mit den moralischen Begebenheiten
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dieser Welt in weit näherer Verbindung und Beziehung stehen, als es unserer
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heutigen Philosophie kaum möglich seyn wird einzusehen und zu glauben,
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indem er eine Theurung von 3¼ Jahren dem ernsten Gebete zuschreibt, das
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dem Feuereifer eines Propheten entfuhr, der in einer
durch
sein Wort
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veranlaßten Hungersnoth, sich nur der armen Wittwe zu Sarepta annahm.
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Diesem zwar sonderbaren und außerordentl. Beyspiel zu folge, glaube ich,
34
daß alle
Grundsätze
der
Oeconomie rurale,
dieser Mutter aller Künste
S. 377
u Wißenschaften, nebst jeder menschl. u irrdischen
Arithmetique politique
2
höheren Maasregeln unterworfen, aller Vernunft und Erfahrung
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unerforschlich und unauflöslich sind. Eine willige Ergebung in den Gottlichen
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Willen der Vorsehung, und eine muthige Verleugnung unserer eigensinnigsten
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Schoosneigungen bleibt also wohl das kräftigste Universalmittel gegen jeden
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Wechsellauf der Dinge und menschl. Urtheile, sie mögen für oder wider uns
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scheinen. Ohne sich also auf
Grundsätze
zu verlaßen, die mehrentheils von
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Vorurtheilen des Zeitalters abgezogen sind, noch selbige ohne Prüfung zu
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verschmähen, weil sie zu den Elementen der gegenwärtigen Welt und unserm
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Zusammenhange mit derselben gehören ist wohl der
unerschüttlichste
Grund
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einer sichern Ruhe: alle unsere Sorgen auf Den zu werfen, der uns zugesagt
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hat, daß Er für uns sorgen, weder uns noch die unsrigen verlaßen
noch
und
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versäumen,
den Geist und Einfluß Seiner Gegenwart uns gönnen wird – alle
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Tage bis an der Welt Ende. Wir haben an der logischen lautern Milch des
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Evangelii ein festes prophetisches Wort, deßen Leuchte die Dunkelheit
16
unsers Schicksals vertreibt bis der Tag anbrechen und der Morgenstern
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aufgehn wird. Wir haben einen Versöhner und Fürsprecher, der uns erlöst
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hat von dem eiteln Wandel nach väterl. Weise, und deßen Blut beßere Dinge
19
redt als des ersten Märtyrers und Heiligen – Ihm trauen Sie, daß Er jedes
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Werk
des
Glaubens
, jede
Arbeit
der
Liebe
und die
Gedult
unserer
21
Hoffnung
ans Licht bringen treu und reichlich vergelten wird.
22
Hierinn besteht das
Alpha
und
Omega
meiner ganzen Philosophie, an der
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ich täglich zu meinem Troste und Zeitvertreibe saugen und kauen muß. Mehr
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weiß ich nicht, und verlange auch nichts mehr zu wißen. Trotz meiner
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unersättl. Lüsternheit und Neugierde finde ich nirgends – als in diesem Einzigen
26
das wahre göttliche
All
und
Ganze
für Jedermann, ohne Ansehn der
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Person und des Geschlechts.
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Heute sind es bereits acht Tage, Gnädige Fürstin, daß ich hier bin, ohne
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noch das geringste in Rücksicht derjenigen Kleinigkeiten vorgenommen zu
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haben, die mich aus Münster zogen. Ich bin durch meine Gesundheitsumstände
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und theils durch Angelegenheiten zerstreut worden, von denen ich mir
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dort nichts träumen ließ, und die eben so sehr meinen schwachen Kopf als
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mein Gemüth und Mitgefühl angreifen. Ich habe diesen Nachmittag meinen
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Abschluß mit diesen Nebensachen gemacht. Ohne um Nachsicht für meinen
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verworrenen Brief zu
er
flehen hoffe ich bey meiner Rückkunft, nicht ohne
S. 378
Bewegungsgründe und Anlaß Ew Durchl. desto öfterer beschwerlich zu
2
fallen, und ersterbe mit der tiefsten Ehrfurcht und den innigsten Wünschen für
3
das Wohl Dero hohen Hauses
4
Ew.
Durchlauchten
5
Meiner gnädigen Fürstin
6
unterthänigst verpflichteter Diener –
7
Johann Georg Hamann.
8
Welbergen den 11 Christm. 87.
S. 550
Hamann kommentierte den Brief am Rand mit Bibelstellen:
25
Zu HKB 1124 (VII 377/11):
1
Petri. V.
6
26
Zu HKB 1124 (VII 377/12–13):
Matth. XXVIII.
20
27
Zu HKB 1124 (VII 377/14):
1
Petr. II.
2
28
Zu HKB 1124 (VII 377/15):
2
Petr. I.
19.
29
Zu HKB 1124 (VII 377/20–21):
2
Thess. I.
3.
Provenienz
Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, HA, Autographen, K. 40, Hamann, 11.12.1787.
ZH zufolge habe sich ein Entwurf in der Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], I 4 befunden.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 402–405.
Mittheilungen aus dem Tagebuch und Briefwechsel der Fürstin Adelheid Amalia von Gallitzin. Stuttgart 1868, 156–159.
Siegfried Sudhof (Hg.): Der Kreis von Münster, 1. Teil, 1. Hälfte. Münster 1962, 387–389.
ZH VII 376–378, Nr. 1124.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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376/5 |
d. ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: d |
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376/20 |
V. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: V, |
|
376/31 |
durch ]
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In der Handschrift Wortverdopplung am Zeilenfall: durch | durch |
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377/10 |
unerschüttlichste ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: unerschütterlichste |
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377/13 |
versäumen, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: versäumen |