1138
398/28
Welbergen den 27 Febr. 88
29
Innigst geliebteste Freundin und Gevatterin! Diese sehnlichst und längst
30
erwünschte und erwartete Antwort von Ihnen kam gestern an nebst einem
31
großen Pack von meinem Jonathan in Düßeldorf an, der auch ⅙ des
32
laufenden Jahres hatte verfließen laßen, ohne eine Zeile an mich bisher
33
geschrieben zu haben, und dem ich noch wirklich Antwort auf 2 Briefe des
34
vergangenen schuldig geblieben war.
S. 399
den 11 März –
2
Der dritte Besuch meines lieben Frantz und ein neues
Recidiv
hat diesen
3
Aufschub veranlaßt, den ich kaum entschuldigen darf. Sie wollen den
4
Ursprung meines Uebels wißen. Mein treuer Freund Miltz sagte mir schon
5
zum voraus, daß ich den Rest meines Faulfiebers mit mir nehmen müße,
6
und damals vor meiner Abreise keine Zeit war zu einer förmlichen Cur.
7
Meine ganze Reise ist ein Wunder und wie ich bis Berlin in einem einzigen
8
Zuge habe aushalten können. Ich war schon zu Hause nicht mehr des Abends
9
im Bette vermögend mich selbst umzukehren, und die liebe Mutter traute
10
mir nicht zu, daß ich imstande seyn würde auszuhalten, ohne entweder liegen
11
zu bleiben oder wieder heim zu kommen. Meine Ungedult
D.
Lindner nicht zu
12
verfehlen und die geheime Ahndung, wie nöthig ich diesen Schutzgeist und
13
Raphael zu meiner Erhaltung nöthig haben würde. Ich fand in unsers
14
Landsmanns Hause die zärtlichste Pflege, und an der ganzen Albertischen
15
Familie ein Heer dienstbarer Geister, eilte, was ich konnte, versuchte in
16
Magdeburg auszugehen; die Geschwulst meiner Füße nahm aber immer mehr zu.
17
Wie ich aus dem Schooß meines Franz durch Jacobi entführt wurde wißen
18
Sie. Hofrath Abel als Hausartzt wurde hier mit zu Rathe gezogen, die
19
Versuchung zum Genuß war hier noch stärker als in Münster. Der alte
20
Raphael konnte auf dem Wege der Reinigung nicht fortfahren, und wurde
21
mit den Vorschlägen zu Stärkungsmitteln überstimmt. Man eilte mit dem
22
Pyrmonter und Eisenmitteln, und aller Aufwand und Pflege wurde
23
verschwendet; ich kam nach Münster mit ebenso dicken Füßen zurück, als ich aus
24
Kgsb. mitgenommen hatte. Raphael Lindner war unterdeßen mit einer Cur
25
an Mariannen beschäftigt, that zu diesem Behufe mit Hans Michel eine
26
Wallfahrt zu dem hiesigen Aesculap Geh. Rath Hoffmann. Jonathan zog
27
nach Düßeldorf, und ich verschwand auf einmal und kam wieder nach
28
Münster, wo Freude und Genuß mich wieder zerstreuten. Das Gut meines Frantz
29
lag mir immer im Kopf, und einer seiner ältesten und vertrautesten Freunde
30
D. Arnold Corman
auf demselben, über deßen Character und Schicksal
31
mir Frantz einen langen Brief schon geschrieben und die
Silhouette
des
32
außerordentl. Mannes zugeschickt hatte. Er war mir zu Gefallen bey meiner
33
Ankunft hier gewesen und ich hatte ihm meine Freundschaft und meinen Besuch
34
auf das feyerlichste zugesagt. Münster zu verlaßen, ohne
Angelmodde
,
35
den Landsitz der Fürstin und ihr Bauerhaus gesehen zu haben, war mir
36
unmöglich. Den 1
Xbr.
that Frantz diese Wallfahrt mit mir an einem der
37
schönsten Tage, dergl. ich in meinem ganzen Leben genoßen habe. Den
S. 400
Sontag drauf gieng der erste Winter ab und nun war kein Halten mehr. Ich
2
reiste den 4
Xbr
mit
Extra
post in Begleitung eines Gefährten zur
3
Aufwartung ab und kam des Abends glücklich an; war auf meines Frantz Grund u
4
Boden, bey seinem alten Freunde
Arnold
und seiner
(Angela)
Engel, also
5
zu Hause. Die
Stärkung
hatte freylich gewürkt; aber die Wurzel des
6
Uebels war geblieben und hatte noch ärger um sich gegriffen. Meine
7
Lebensgeister waren in einer Gährung mit meinen verdorbenen Säften um die
8
Wette. Eßen und Trinken schmeckte, der Ueberfluß umgab mich und das Gift
9
meiner Krankheit hatte reichen Dünger und zog alle die Nahrung an sich,
10
welche ich glaubte zur Erholung meiner Kräfte nöthig zu haben. Jeder
11
Posttag brachte in Jon: Elysium Neuigkeiten oder Briefe, an
12
deren Inhalt ich immer Antheil nahm. In Münster war der Genuß der
13
Freundschaft noch zerstreuender für mich, und ich war noch weniger mein
14
eigener Herr. Ich kam also in der guten Hoffnung her, ein wenig mehr
15
Ruhe
zu finden – und mein Wunsch ist erfüllt worden auf eine Art, die ich
16
nicht vorhergesehen habe, nicht zu neuen Arbeiten, sondern zu meiner
17
Genesung, an der ich schon beynahe verzweifelt hatte, und wie ein
Oedipus
18
wenigstens mit
einem
linken
dicken Fuß mein Leben zu beschließen gefaßt
19
war. Bey meiner Ankunft suchte ich mir die beqvemste Stube aus neben der
20
Schlafstube meines Wirths
Philemon
und seiner
Baucis.
Weil der Ofen
21
repari
rt werden muste, nahm ich die erste halbe Woche in der Wohn- und
22
Speise oder eigentl. Küchenstube für lieb, bezog mit der vollen Woche des
II
23
Adv. mein eigen Zimmer, wo das Kindbette vor einem halben Jahr
24
gehalten war und ein Bücherschrank stand. Mit dieser Veränderung verlor sich
25
mein Schlaf in der ersten Woche, wurde den
III.
Adv. bettlägerig bis auf das
26
heutige
Datum.
Den zweyten Weynachtstag kam mein
D. Raphael
u sein
27
famulus
Michael an zu meiner grösten Freude, mit der noch angenehmern
28
Nachricht, daß er mit der Cur Mariannens fertig wäre, sie wohlbehalten
29
verlaßen hätte und nicht zum bloßen Besuch hier wäre sondern mich nun
30
ausdrückl. abzuwarten. Mein Uebel wurde von ihm für ein
schleimichtes
31
Faulfieber
erklärt. Noch denselben Abend setzte er ein
e
spanische
s
32
Fliegenpflaster
.
Meine Zunge war beynahe kohlschwarz und
zotigt
.
Den
33
18
Jan. zeigte sich auf einmal ein Gallenfieber, und zugl. ein Ausschlag auf
34
den Fingern bis auf die Hälfte der Hand. Der Rücken soll mit allen andern
35
von Friesel, Peteschen und Geschwüren besäet gewesen seyn. Unter den
36
letztern waren 2 größere, die einen Wundartzt erforderten. Frantz hatte die
37
ausdrückl.
Instruction
widerholt, keine Kosten zu sparen. Wir sind hier mit
S. 401
kleinen Städtchen umgeben. Unser Medicinapotheker in der Grafschaft
2
Steinfurt
konnte keinen vorschlagen, es wurde also deshalb im
3
Nothfalle nach Münster geschrieben.
D. Arnold
hatte zur Entbindung seiner
4
Engel einen
Prof. Erpenbach,
Nachfolger des dortigen
Archiaters
und zum
5
Hinterhalt einen Wundarzt
Laubner
gehabt. Dieser wurde zuerst zu Hülfe
6
genommen, machte mir zwey Incisionen, schien aber meinem
D. Raphael
7
nicht zuverläßig gnug. Daher wurde
Erpenbach
auch zu Hülfe genommen,
8
der in Strasburg sich lange aufgehalten,
Medicin, Chirurgie
und
9
Accouchement
als gräfl. Leibarzt und
Prof. legens
der Philosophie u
Medicin
10
hier öffentl. treibt, und mich bisher abgewartet. Die kleinste Wunde ist diese
11
Woche völlig geheilt und die größere macht auch
Hoffnung
12
Den 4 Febr. kam Frantz, Marianne und die Fürstin mit ihren 3 Kindern
13
zum Besuch; reiseten aber den 6 ab, und ich lag wie ein Klotz im Bette. Den
14
13 kam Frantz allein zum zweiten Besuch u reiste den 15 ab. Der dritte
15
Besuch von Frantz allein war den 28, (wo ich von neuen befiel mit einem
16
Durchfall) bis zum 1. d. Ein
Vomitif
erleichterte meinen überladenen Magen den
17
1 d. Es bestand in 200 Tropfen
Huxham
schen Weinb. Vorigen Sonntag
18
Judica
thaten 560 Tropfen und 1½
gr. Tartar. emet.
keine Wirkung und
19
seitdem ist mein Magen, der wie mein Kopf die ganze Krankheit durch,
20
leider! zu thätig gewesen, auf einmal schlaff geworden – und mein
21
freundschaftl. Raphael, der ein ebenso gewißenhafter Arzt als sorgfältiger
22
Krankenwärter und Pfleger ist hat engl. Gedult und alle medicinische
23
Gelehrsamkeit und Künste nöthig, sich in die Widersprüche und Launen des Patienten
24
sowohl als seiner verjährten, verwickelten und hartnäckigen
Krankheit
25
Uebel zu schicken und zu finden.
26
Will die Vorsehung durch seine Hand ein Wunder zu meiner
27
Redintegration
thun; so ist sie allein imstande ihm zu vergelten: denn ich muß aus
28
Tob.
IX.
2 zu Gottes und meines Freundes Ehre sagen – Liege ich meinem
29
Schicksal unter: so ist es nicht seine Schuld. Auch nicht meine, wenn ich zu viel
30
thue: so wenig als mein Verdienst, wenn ich mäßig bin. Der alle meine
31
Schulden getragen, hat auch für diese Sünde büßen müßen und nöthig mir
32
tägl. selbige zu vergeben. Wie ich darunter leide und kämpfe – ich elender
33
Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? Ich danke Gott
34
durch Jesum Christum unsern HErrn – Röm
VII.
24, 25.
35
Ein guter Geist hat mich wenigstens in diese Wüste geführt, wo ich Ruhe
36
gefunden habe zu meiner
Beßerung
sowohl, als
Genesung
. Ich werde
37
nicht sterben, sondern leben und des HErrn Werk
verkün
di
gen
– In
S. 402
welcher Unruhe würde ich seyn, wenn ich nicht die
Gnade
genoßen
hatte
, die
2
ich damals nicht erkannte,
vom
Joche aller Geschäfte ausgespannt
3
zu seyn. Ich weine nichts als Freudenthränen. Die meinigen und alle meine
4
dortigen Freunde wären nicht imstande mir die
Pflege
angedeyen zu laßen,
5
die Wohlthaten, welche ich hier genieße – Wie ist ihrer so eine große Summe!
6
Sollte ich sie zählen, so würde ihrer mehr seyn denn des Sandes
Ψ
139, 17, 18.
7
Es ist wirklich eine Wohlthat für diese feuchte u sumpfige Gegend, daß der
8
Grund sandig ist, und sich das Waßer ebenso geschwind verliert als sammlet.
9
Jonathan erwartet seinen Sohn George aus Göttingen in den
10
OsterFerien zum Besuch, und bestellte mich den 9 d. nach Münster. Zu meinem
11
Glück ist dieser
Termin
bis auf den
April
verlängert, und ich erwarte auf
12
die Woche den vierten und letzten Besuch meines Frantz – Sein
13
Welbergen
, besonders wenn meine Hofnung einer völligen Genesung hier erfüllt
14
werden sollte,
soll
meinem Andenken heilig und geseegnet seyn.
15
den 12 um 10 Uhr Morgens.
16
Ich habe gestern zum ersten mal bis 6 Uhr des Abends aufbleiben und
17
heute um 9 Uhr Morgens aufstehen können, habe mich gewaschen und
18
erwarte den Meister mit dem Scheermeßer um nach 3 Tagen einmal wider mit
19
eßen zu können, das ich
bisher
ebenso lange hinter dem Vorhange meines
20
Himmelbettes gethan, der aber heute wider aufgezogen worden. Mein
21
gestriges Abendbrodt war ein gantz neuer
Dominicaner
von einem halben
22
Biscuit
und einem kleinen Stück Pfefferkuchen, beyde von jungfräulichen
23
Handen
, weiß nicht in welchem Kloster jenseits Münster gebacken – Man
24
nennt hier
Dominicaner
ein Butterbrodt von Pumpernickel mit Weißbrodt
25
belegt. Ich hatte heute Appetit zu einem
Vomitif,
muste aber mit einem
26
Rhabarber
für lieb nehmen wegen der 2tägigen Verstopfung auf die 6
27
Oefnungen des
Dominica Judica.
Gestern tröstete mich
Raphael
oder erschreckte
28
mich vielmehr mit dem Anfall der Hypochondrie, als Kennzeichen einer nahen
29
Genesung. Der freudige Geist
enthalte
mich! von Unmäßigkeit und
30
Traurigkeit.
31
Nun, liebste Frau Gevatterin, verzeihen Sie mein verwirrtes Geschmier.
32
In meinem Kopf geht es wie in einer Wind und Waßermühle. Sie können
33
sich bey einer solchen Lage leicht vorstellen, wie schwer und beynahe unmögl.
34
ist Briefe zu schreiben. Ich bin die ganze Zeit meines Aufenthalts immer in
35
medicinischer Zucht gewesen, und sehr oft in der strengsten
Diät
eingeschränkt
36
worden. Neben dem Gallenfieber stellte sich
ein
Eiterungsfieber meiner
S. 403
Geschwüre ein. Ich hatte also Morgens und Abends meine volle Arbeit.
2
Reinigung hinderte die so nöthige Stärkung, und diese widersprach jener. Ich
3
war unter dem Genuß der zärtlichsten, freygebigsten, aufmerksamsten
4
Freundschaft immer Versuchungen, Zerstreuungen und Erschöpfungen
5
ausgesetzt, denen ich so gern und willig unterlag. Der Gebrauch der
6
Arzneymittel fährt täglich und fast stündlich fort, muß noch die meiste Zeit im Bette
7
zubringen. Mein Artzt nahm gleich bey seiner Ankunft meine Schlafstube
8
ein und ich wurde gleich den andern Tag in Franz. u Mariannens ihre eine
9
Treppe höher gebracht, wo ich eine freyere Luft und hellere Aussicht genieße,
10
und Hans Michel schläft neben mir. Laßen Sie mich heute aufhören – Ist
11
Freund Kraus böse auf mich, daß er mich keiner Antwort würdigt –
12
Oster heil. Abend den 21 März
Münster
13
Am heil. Abend vor dem Palmensonntag kam Franzens Kutsche an – und
14
stellen Sie sich das Wunder vor. Mit Frühlings Anfang Mittwoch den
15
19 steig ich herein, nachdem ich die im Garten liegende Kapelle mir hatte
16
aufschlüßen laßen um ein deutsches luthersches V. U. darin zu beten, befehl
17
ich mich Gott und steig um 7 Uhr mit meinen beiden dienstbaren Geistern
D.
18
Raphael und
famulus
Michael in die Kutsche, leere zu Mittag eine kleine
19
Bouteille
Mallaga in einem Wirthshause aus und bin gegen 6 Uhr vor
20
meines Franzen Hausthüre, wo Marianne uns entgegen kommt, von der ich
21
vorgestern gehört daß sie wider in geseegneten Umständen ist, in denen ich auch
22
D. Cormanns
Engel, in deren Wochenstube und Kindbette ich geschlafen,
23
zurückgelaßen habe. Finde 2 Briefe auf mich warten einen von meinem
24
Jonathan Jacobi mit einem dicken Pack und den andern von unserer frommen
25
Fürstin, die noch denselben Abend uns besuchte. Ich legte mich gleich nieder;
26
da komt ein weiland Poet, Rath Schücking, setzt sich zu den Füßen meines
27
Bettes und geht gegen 10 erst unten zum Abendbrodt. Nach einem Sprung
28
aus dem Bette wo ich über ¼ jahr zugebracht, in die Kutsche auf eine ganze
29
Tagesreise war es mir sehr erwartet geschwollne Füße zu haben, die aber
30
gleich den Morgen drauf in sich giengen. Am linken ist mir dennoch eine
31
Binde angelegt worden. Vorgestern kam Schücking wider zum
Caffé,
bringt
32
mir ein klein lateinisches Liederbuch seiner Kirche zum Andenken, die Fürstin
33
aber in ihrer Tasche 2
Bouteille
Cap
wein und aß mit uns. Gestern nahm
34
Schücking Abschied, Mittags bekam einen Kuchen von der Fürstin, deßen
35
Teig meinem Artzt nicht gefiel und mir dafür ein Glas
Cap
Wein verordnete
36
– Des Abends tractirte Marianne mit einem
Glase
Vin de Tinto
und ich
S. 404
habe heute die
Chinacur
die ihr auf Verschreibung des Maynzischen
2
Leibartztes Geh. Rath Hoffmann ange
fohlen
rathen jede Stunde 3 Löffel voll
3
und einen Schluck Mallaga hinterher. Meine seit kurzem zum 4 mal belegte
4
Zunge beßert sich und nun geht es auf dem Wege zur Stärkung fort. Auf
5
Treppen muß ich beynahe getragen werden, so entkräftet bin. Morgen sind
6
wir bey
Me Detten,
Mariannes Mutter eingeladen, ich besuche sie zum ersten
7
mal, meine beyde
Gefahrten
haben schon einmal geschmaust.
Ob
und
wie
8
ich hinkommen werde, weiß Gott. Zum Glück ist es in der Nachbarschaft.
9
Gott gebe Ihnen
fröhliche
Ostern, liebste Freundin und Gevatterin, thue
10
an Ihnen und den Ihrigen so viel Wunder der Gnade und Barmherzigkeit,
11
wie ich hier täglich erlebe und erfahre – auch zu meiner
Reinigung
und
12
Stärkung
. Wieder einen Brief von Jonathan, der mit seinem Sohn
13
Georg und seinen beyden Schwestern
Mama
Lehne (der jüngsten seiner) und
14
Tante
Lotte (der ältesten, des gestörten Vaters
Haushälterin
)
nächstens
15
herkommen werden. Die Fürstin erwartet auch ihren Plato aus dem Haag,
16
Hemsterhuis.
17
Was Sie nicht lesen noch verstehen, laßen Sie getrost aus; ich verspreche
18
alles mündlich zu erklären und zu ersetzen. Nun ich hoffe, daß meine liebe
19
Hausmutter völlig widerhergestellt ist. Sie hat sich gewiß geärgert und ein
20
Brechmittel sollte HE Miltz nicht gespart haben. Gott gebe, daß wir uns
21
einander gesund und froh widersehen.
22
Ich habe meines kranken Freundes Hill 2 Briefe übergelesen und bin nicht
23
imstande ihn zu verstehen und darauf zu antworten. Bey meiner ihm
24
gemachten Erklärung bleibt es, daß
wenn
er sich um ein haar Gelegenheit
25
findt in eine beßere Lage zu kommen, er selbige nicht aus den Händen laßen
26
sondern in Gottes Namen sich daran halten soll, ohne auf mein Haus zu
27
sehen, weil er in dem Fall mir dadurch ein Opfer zu bringen, sich selbst und
28
mir den grösten Vorwurf zuziehen wird und ich alle seine geleisteten Dienste
29
dafür zu erkennen aufhören würde. Er ist sein ärgster Feind, und hält
30
jedermann dafür.
31
Hab ich ihm die Schlüßel von meinem
Bureau
gegeben oder meiner
32
Hausmutter? An dieser Nachfrage ist mir viel gelegen, dies zu wißen. Ich weiß
33
hier von nichts, bekümmere mich auch um nichts; weil es so wenig kann als
34
will. Die einzigen Nachrichten aus meiner Heimath, die mich gewißermaaßen
35
befriedigen, kommen von Ihrer lieben Hand, die ich dafür küße und seegne.
36
Fahren Sie fort, liebste Freundinn und Gevatterin, und verlieren
Sie
nicht die
37
Gedult mit einem alten kranken Mann. Gott wird Ihnen auch zu der Ruhe
S. 405
und Zufriedenheit helfen, nach der Sie schmachten, und die mir so reichlich
2
(unter allem kleinen Kreutz und Leiden) zu theil wird. Mein Artzt u
Gefahrte
3
D. Raphael
empfiehlt sich Ihnen bestens, als weitläuftiger
4
Bluts
Verwandter, aber noch weit näherer Muthsfreund, den die Vorsehung zum
5
Werkzeuge meiner Erhaltung und Rettung gebraucht, und sich um seine alte
6
seel. Mutter kaum so verdient gemacht als um Ihren u seinen alten Freund.
7
Ostern den 23 März im Bette.
8
Gestern Abend war hier ein sehr starkes Gewitter. Meine Hypochondrie
9
spielt in mir, wie im Fieber; auf einen sehr heitern Tag, der mich bisweilen
10
ausgelaßen macht, folgt mehrentheils ein trüberer und gesetzter. Nach einer
11
sehr ruhigen Nacht, bin ich mit Reisegedanken von mancherley Art
12
aufgewacht. Die Erschöpfung meiner Kräfte ist außerordentlich, und wird viel Zeit
13
erfordern. Gott Lob, daß es gegen den Sommer geht. Die Fürstin hat mir
14
ihren Garten und ihr Haus zum Gebrauch des Pyrmonter angeboten. Der
15
Vorsicht sey alles anheimgestellt, sie wird mich führen nach ihrem weisen
16
Rath und gnädigen Willen, dem ich mich ergeben habe und gern aufopfern
17
will. Ich hoffe, daß meine dortige Freunde Nachsicht für mich haben werden,
18
daß ich nicht hier und dort zugleich seyn und zweyen Herren dienen kann,
19
und will mich bestreben meine
arrerages
bey meiner Heimkunft zu ersetzen u
20
ihnen so zur Last leben und auf dem Halse liegen, wie ich es hier thun muß.
21
Wie ein schwacher Weinrebe kann ich ohne Stütze nicht leben und muß mich
22
an der halten, die mir jetzt die nächste ist. Was kann ich schreiben, als das
23
Beste von andern und viel Gleichgiltiges von mir, der bekannt ist und sich
24
selbst ähnlich bleibt nur mit dem kleinen Unterscheide daß je mehr der äußere
25
Mensch abnimmt, desto mehr der innere wächst, je älter und unvermögender,
26
desto ruhiger, zufriedner und vergnügter ich werde – ein tägliches
27
Wohlleben mitten unter manchem Druck, den ich Gottlob! wenig fühle und den Er
28
tragen hilft, daß ich gnug dafür danken kann. In was für Kummer und
29
Beklemmung, würde ich mich jetzt befinden, wenn ich meinen Willen gekriegt
30
hätte. Gott hat mir Feyerabend gegeben, mich aus dem Gange öffentl.
31
Geschäfte ausgespannt, zu denen ich so wenig tauge als zum Umgange mit der
32
Welt. Ich lebe hier im Schooße der Freunde von gleichem Schlage, von
33
gleichem Gelichter und die sich wie Hälften zu meinen Idealen der Seele
34
paßen. Mit was für
Empfindung
hab ich immer in Molters
35
Scherzen
das Klaglied gelesen; es ist in ein Triumpflied erfüllt worden. Ich habe
36
gefunden
und bin meines Fundes so froh wie jener Hirte und das Weib im
S. 406
Evangelio und wenn es einen Vorschmack des Himmels auf Erden giebt – so
2
ist mir dieser verborgene Schatz, diese köstliche Perle zu Theil geworden –
3
nicht aus Verdienst und Würdigkeit, sondern es ist Gnade und Gabe einer
4
höhern Hand, die ich anbeten und küßen muß. Sie war mir nöthig und
5
heilsam, zu meiner
Reinigung
und
Stärkung
, wie mein geliebter Lucas
6
von seiner Cur meiner Krankheit redt. Die Katholiken welche ich hier habe
7
kennen gelernt sind wie Nacht und Tag unterschieden von den Nicolaiten
8
ihren – wie Frantz vom seel. Kirchenrath Buchholtz, der mich zum Abendmal
9
einladen ließ den Tag vor meiner öffentl. Anklage, wie
civitas Dei,
die beste
10
Gotteswelt, von der die im Argen liegt.
11
Ich bin hier wie eine Biene und Ameise und sammle alles was ich nur kann
12
zur Erndte in meiner Heimath und gegen die lange Weile meiner immer
13
hungrigen und durstigen Seele, die eben so wenig feyern als arbeiten kann,
14
nach Art und Weise der künstlichen Taglöhner. Ich habe also nichts als
15
Widersprüche zu schreiben und müste meinen Freunden als ein alter Prahlhans und
16
Aechzer beschwerlich fallen und anstößig werden. Beßer ist, ich schweige und
17
verspare alles zu meiner Heimkunft, wo Auge Mund und Herz zugleich
18
reden und zeugen können so wohl für Wahrheit und Lüge; jeder urtheile nach
19
seinem Sinn und gönne mir den meinigen. Meine Leute wollen mir einbilden,
20
daß die Baroneße einen Brief von mir erwartet. Ich hoffe Sie beßer zu
21
kennen, und eben daßelbe von Ihr in Ansehung meiner. Mein alter Freund
22
Jacobi hätte auch eben so viel Recht zu Nachrichten, da ich ihm alles
23
anvertraut habe. Wo nicht anders, schreibe ich gewiß aus dem Hause seiner lieben
24
Familie, die ich mir eben so fest in meinem Herzen vorgesetzt habe zu sehen als
25
meine beyde Gevattern in Weimar, der mir seine zerstreuten Blätter geschickt
26
mir die Entbindung seiner Caroline vor Weynachten schon gemeldet, ohne
27
daß ich auf einen dieser beyden Briefe bisher antworten können. Claudius
28
habe aus Berl. geschrieben und seitdem keine Zeile. Kleuker hat mir einen
29
Wanderstab geschickt den ich
Prudentius
nenne nach dem lateinschen Namen
30
seiner Ahnen und Vorfahren, um mich zu erinnern die bevorstehende
VII.
31
Decade
meines Lebens, in die ich mich bisweilen versteige,
prudentius
das
32
heist nach der alten platdeutschen Aussprache
Klöker
anzufangen und
33
anzuwenden.
34
Erfreuen Sie mich bald, liebste Freundin und Gevatterin, wieder mit
35
Nachrichten, mit beßeren von Ihrer Gesundheit und Gemüthsruhe. Mein geheilter
36
Rücken ist diesen Morgen des chirurgischen
Scapulaire
und
Bandage
37
entledigt worden, und ich will nun aufstehen um zu einem Gastmal, dem ersten
S. 407
hier, hinzuhinken oder mich vielmehr dahin führen zu laßen von meinem Hans
2
Michel und seinem Freunde Moritz Detten, der auch die
Medecin
studiert.
3
Fahren Sie fort nach Ihrer alten geprüften und bewährten Freundschaft sich
4
meiner Hausangelegenheiten anzunehmen, wie Gott es für die Ihrigen thun
5
wolle und thut. Grüßen Sie Ihre Familie und Nachbarschaft und empfehlen
6
Sie mich dem treuen Andenken der Ihrigen u meinigen. Wenn Sie die
7
Baroneße und HE Jacobi sehen, theilen Sie mit meine unveränderl. Gesinnungen,
8
dergl. ich auch gewärtig bin und lesen Sie Molters Liedchen, das unter
9
meinen Büchern steht hinter Logaus Gedichten. Gott seegne uns alle nach Seiner
10
Liebe im Geist des heute auferstandnen Sohns der Liebe, mit Leben und
11
allen Wohlthaten deßelben. Hans Michel ist nach der Kirche gegangen und
12
denkt oft an Ihr Haus. Meiner alten Mutter empfehlen Sie doch
Sorge
13
für ihre Gesundheit, und verbieten ihr alle Sorgen um ihren Sohn und seinen
14
alten Vater. Er im Himmel sorget für uns alle, und Ihn wollen wir für
15
alles sorgen laßen, unser Brodt mit Freuden eßen und unsern Wein mit
16
gutem Muthe trinken. Nur Schade daß sich meine mit Bier oder Waßer
17
behelfen müßen unterdeßen wir leider! wie die Reichen leben und dafür büßen
18
müßen an Händen die nicht schreiben und Füßen die nicht gehen können. Alle
19
meine Freunde sind die Ihrigen wie ich selbst. Ich küße und herze Sie als Ihr
20
alter Freund und ewig ergebenster
21
Johann Georg Hamann.
22
Couvert mit rotem Lacksiegel (Wappen mit H) und Adresse von Johann Michael Hamanns Hand:
23
An / Madam
Courtan
/ gebohrne Toußaint /
zu
/ Königsberg.
24
Frey
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 2.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 407–410.
Siegfried Sudhof (Hg.): Der Kreis von Münster, 1. Teil, 1. Hälfte. Münster 1962, 406.
ZH VII 398–407, Nr. 1138.
Zusätze fremder Hand
|
407/23 –24
|
Johann Michael Hamann (Sohn) |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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400/32 |
Fliegenpflaster . |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: ZH: Fliegenpflaster. |
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400/32 |
zotigt . |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: zotigt. |
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400/33 |
18 ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: 18. |
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401/11 |
Hoffnung ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Hoffnung. |
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401/37 |
verkün di gen ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: verkün digen |
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402/1 |
hatte ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: hätte |
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402/2 |
vom ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: vom |
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402/23 |
Handen ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Händen |
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403/33 |
Bouteille |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Bouteillen |
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403/36 |
Glase ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Glas |
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404/7 |
Gefahrten ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Gefährten |
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404/14 |
Haushälterin ) |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Haushälterin) |
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404/36 |
Sie ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: sie |
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405/2 |
Gefahrte ]
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Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Gefährte |
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407/2 |
Medecin |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Medicin |