1146
440/12
Münster
Dom Quasimodog.
den 30 März 88 auf dem Bette.

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Herzenslieber Jonathan

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Du wirst mit allen Deinigen willkommen hier seyn. Gleich wurde bey

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Empfang Deines letzten Briefes der Ueberschlag und die Anordnung gemacht

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ohne die geringste Schwierigkeit, eine einzige Rücksicht ausgenommen, die

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gestern eben so zuverläßig entschieden werden konnte. Marianne war wegen

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ihres abgehenden Gesindes in Verlegenheit wegen einer Magd, diese ist auch

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gestern nach Wunsch – und alles ist bereitet zu Eurer Ankunft auf den 6.

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wozu Gott Dir gute Gesundheit schenken und alle Schwierigkeiten so

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glücklich heben wolle, wie hier geschehen ist.

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Ich wollte schon gestern schreiben; aber die Fürstin mit
Pericles
kam zum

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Besuch und ich eilte mit
Coxe
Briefen über die Schweitz fertig zu
werden,

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nach der französischen Uebersetzung, die mir unvermuthet in die Hände fielen

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und mich ganz hinrißen. In Deiner Bibliothek werden sie hoffentlich nicht

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fehlen. Ich muß das Bette hüten wegen des
kalten Bades
für meine

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Füße, die dadurch wider mein Vermuthen sichtbar gestärkt werden. Der

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Sprung aus einem vierteljährigen Krankenbette in eine Kutsche zu einer

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Tagereise war zu plötzlich, und ich war auf diese Geschwulst mehr zubereitet

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als mein geliebter Artzt Lucas, der vielleicht
be
schon unterwegens seyn

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wird bey Eurer Ankunft. Er eilt nach
Berlin
und ich kann mit guten

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Gewißen nichts seinem ernsten Entschluß entgegensetzen; denn was hat er
nicht

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alles für mich gethan
? Heute mache ich den
ersten
Versuch

S. 441
auszugehen und mit unserer Familie bey der frommen Fürstin zu speisen. Meine

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Entkräftung ist unglaublich und beynahe unaussprechlich, besonders eine

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Treppe zu
steigen
. Mit meinem Appetit habe ich noch immer zu kämpfen,

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und tägl. Erinnerungen meines harthörigen und eigensinnigen Magens

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auszustehen, der weder sein
Abstine
noch
Sustine
lernen will. Die Abwesenheit

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des Raphaels wird vielleicht auf meine Einbildungskraft beßer wirken, als

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seine Gegenwart; wenigstens speiset sie mich mit den unwahrscheinlichsten

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Hofnungen und Erwartungen ab.

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Mit allen Deinen Büchern bin ich Gottlob! fertig. Mit dem Biographen

10
Sh.
und seinem Helden wurde ich gegen das Ende misvergnügt. Für einen

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solchen Preis wünschte man sich ein
Cretin
und walliser idiot zu seyn, als

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Sw. Talente, und ihren traurigen Ausgang, Erfüllung seiner Ahndungen:

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I am a fool!
Was für ein Spiegel und zugl. Riegel, uns weiser zu machen –

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Ecce homo!

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Eben so widersprechend bin ich durch
Calonne
Schriften
begeistert

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worden, deren Innhalt mich wenig zu
interessi
ren schien, der aber alle

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Eindrücke des Starkschen Rechts
und
Handels und Wortwechsels mit der

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berlinschen Schule vielleicht ausgelöscht hat. Mein
esoterisches
Urtheil

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über den
Brandenburgschen
Necker,
bekommt nun fast das Uebergewicht

20
über mein exoterisches, dem ich mich bisher mehr mit Leidenschaft als

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Gewißenhaftigkeit, mehr mit
Fleiß
als aus
Instinct
überlaßen. Unter

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allen Arithmetiken ist die politische die allerverdächtigste für mich. Mit

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Zahlen
läßt sich alles machen was man will, wie mit
Wörtern
; ich

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bin gegen alle mathematische Beweise,
in petto
mistrauisch. Ein
Financier

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muß einem
Gesetzgeber
ähnlicher, als ein
Banquier
seyn. Das neueste

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Werk des
Neckers
wird meinen Einsichten angemeßener seyn, und ich warte

27
zum
Abschluß meines Vorurtheils
desto ungedultiger darauf. Auch

28
Calonne
scheint mir
ein
hypocrite reversed
gegen seine Antagonisten zu seyn.

29
D. Quandt
steht in der
Brochure dela Litterature allemande
angeführt,

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war ein Vorfahr des nachherigen Oberhofpredigers Stark und das schläfrige

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Haupt der Orthodoxen gegen die Pietisten, die unter Fr. Wilhelm den

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Meister spielten, und gegen die Hallenser. Er besaß eine außerordentliche

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Beredsamkeit der Minen und des Körpers – Als Kronprintz war Salomo

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genöthigt immer ein Zuhörer von ihm zu seyn, weil Qvandt sich immer

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hören laßen muste, wenn der König nach Preußen kam. Von seinen gelehrten

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Diebstälen u von seinem Geitze hat man noch eine Menge bey uns laufender

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Mährchen u Erzählungen
– auch viele Abschriften von seinen

S. 442
Predigten. Er hatte den Eigensinn nichts drucken zu laßen, als eine Bibel
mit
u

2
ein Gesangbuch
ohne
Vorrede. Sein natürl.
Phlegma
vertratt zugl. die

3
Stelle der
Politique.
Mündlich mehr von ihm. Wie ich
Ihm
zu Deiner

4
Anfrage Anlaß
gegeben, kann ich mich eben so wenig mehr besinnen als

5
zum
Briefe an Boie
? Mein alter Kopf ist wie ein Sieb, in dem blos die

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Kleie zurück bleibt, und alles übrige durchfällt ich weis nicht wohin? Boiens

7
Versuch gefällt mir beßer als Dein punisch-hannibalischer Groll gegen die

8
-
iner
zum Vortheile der -
aner
. Es geht, wie bey den Whigs u Torys

9
und wie bey allen
Necker
eyen zwischen Vernunft und Leidenschaft. Brauch

10
lieber Jonathan, Deine beyde Ohren für beyde Parteyen – und
trink

11
tiefer
um
nüchtern
zu werden.

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Ich lese mit eben dem Hunger und unersättl.
Geschmack
als ich
eße
.

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Zufällig komt mir
Sailers Glückseeligkeitslehr
in die Hände, und

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ich habe den ersten Theil beynahe verschlungen. Die Fürstin hat mir des

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würdigen Manns
Logik
geschenkt, auf die mich im Geist freue. Dies

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erinnert mich an sein Mährchen in
Deinem Pack
, das Du, ich bitte Dich

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inständigst darum, mir schlechterdings verschaffen oder verzeihe mirs! ersetzen

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mußt, um den Credit eines
anstelligen
Manns nicht zu verlieren, den Du

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mir aufbürdest, und beßer verdienst –

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Eine kritische Freundin war mit Deinem Wortspiel auf die
Luna
und

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den blauen Mantel nicht zufrieden, um mit Deinem beßern Geschmack an

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Realismus zu streiten. Ich habe die Schande deßelben auf
mich

23
genommen
.
Mit dem Lappen aus den Kreuzzügen bin ich noch mit mir einig, und

24
ich wünschte, daß die Drohung u der Trost prophetisch wäre und erfüllt

25
würde. Deine Mittheilung ist ein
Wort zu seiner Zeit
, zu dem ich gern

26
mein
Imprimatur
hinzufügen möchte, und mir dafür ein Exempl. so
bald es

27
da ist
, verspreche oder erbitte. Meine Wehen sind gantz unterdrückt

28
worden, haben wenigstens aufgehört, weil sie vermuthlich
falsch
waren. Daß

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Mama und Tante Deine lieben Kinder mitbringen würden und
müsten
,

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habe ich in meinem Sinn als vorausgesetzt angenommen. Hans Michel freut

31
sich darauf, und hat gestern das Fechten, Keuleschwingen und
p

32
angefangen. – –


33
Aus dem Bette und angekleidet.

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Ich bin verspätet mit Aufstehen, habe mich früher gemeldet – muß also

35
eilen über Hals und Kopf. Pfenninger über das
N.T.
habe selbst. Deines

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würdigen Oheims Buch ist das letzte vom überschickten und ich hoffe heute

37
damit fertig zu werden.

S. 443
Unser liebe Franz hat seine Osterandacht gehabt und ich rechne darauf

2
mit seinem neuen Beichtvater, dem Observanten Schnesenberg zu speisen,

3
der des ehrl. Fuchs Stelle vertritt.

4
Tausend Grüße, Küße und Wünsche an die lieben Reisende und den

5
herzlichsten Willkommen an alle sämtlich und sonders Mama und Tante. Alle

6
übrige Freunde, den ältesten
Tiro-
Schenk
p
Lebe wohl auf glücklich und

7
fröhlich Widersehen!


8
Zusatz von Bucholtz:

9
liebster, ihr kommt also, und das ist mir recht lieb. besonders freut mich,

10
dich zu sehen, und oft zu sehen, obschon du einen so strengen und gewiß

11
unrechten allgemeinsatz am ende deiner antwort an
boje
sagst.

12
den 30ten märz
mit ganzem herzen dein
Franz

13
gruß von amalien


14
Adresse:

15
An den Herrn / Geheimen Rath Jacobi / zu /
Düßeldorf

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 404 f.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 628–632.

ZH VII 440–443, Nr. 1146.

Zusätze fremder Hand

443/9
–13
Franz Kaspar Bucholtz

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
440/23
Coxe
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
440/23
werden,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
werden;
441/19
Brandenburgschen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Brandenburgischen
441/28
scheint mir
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
scheint
442/11
tiefer
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
tiefer
,
442/12
Geschmack
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Geschmack,
443/12
Franz
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Franz.
443/15
An […] Düßeldorf]
Hinzugefügt nach der Handschrift.