1154
456/2
Münster am Sonnt.
Exaudi!
den 4 May 88
3
Κρατιστε Θεοφιλε
Steudel!
4
Homo sum,
und Sie sind der gemeinschaftliche Freund unsers liebreichen
5
wohlthätigen Franz und des biedern
Crispus, vulgo
Kraus. Auch ich bin ein
6
Lazarus – ein Meister in der schwarzen Kunst der Carricaturmahlerey, die
7
Silhouette Ihrer
Seele, ihrem eigenen
gegebenen
Umriß gemäß,
8
ein
Pendant
– denn was Ihre glühende Einbildungskraft ist, das stellt die
9
unbändige Unenthaltsamkeit meines verdorbenen Magens und die
10
Unvermögenheit seiner Verdauungskraft physiologisch vor. Ich habe kein
metrum
11
weder im Auge noch Ohr, und was andern zu viel scheint, ist mir selber gnug.
12
Weil der
körperliche Umgang
mit Freunden, nach Ihrer Erklärung
13
des
Schreibens
, ohne Seele ein leeres todtes Werk, und der äußere
14
Buchstabe ein bloßes Sinnbild und Zeichen eines unsichtbaren
Dei ex
15
machina:
so werden Sie den sympathetischen Zusammenhang meiner
16
Gesinnungen mit Ihrem Schicksale ohne mehrere Mittelbegriffe errathen und die
17
Ellipsin
derselben leicht ergänzen können.
18
Ich setzte mich mit geschwollnen Füßen und einer 20jährigen Ladung böser
19
Säfte, die ich durch eine sitzende grillenfängerische Lebensart, leidenschaftliche
20
Unmäßigkeit
p
in Nahrungsmitteln des Bauchs und Kopfs gesammelt hatte,
21
den 21
Jun. p.
auf den Postwagen, und glaubte, die zurückgebliebene Hefen
22
eines
palliative
weggeräumten Faulfiebers
p
würden durch Bewegung der
23
Eingeweide und Zerstreuung neuer Gegenstände sich von selbst heben.
24
Erreichte mit genauer Noth Berlin, fand dort einen Engel Raphael von
25
Reisegefährten und Artzt an meinem alten Freund
D.
Lindner, der Ihnen nicht
26
gantz unbekannt seyn wird, beschwor ihn aus gantz andern Absichten mich
27
bis hieher zu begleiten, wo ich den 16
Jul. p.
Sie können erachten, in welchem
28
Zustande ankam. Seit dieser ganzen Zeit ist an meiner Reinigung und
29
Stärkung unabläßig geflickt und gestümpert worden. In Welbergen habe eine
30
Quarantaine
von 3 Monathen ausgehalten an Faul- Gallen- Fluß und
31
Entzünd
Wundfieber, Ausschlägen und Geschwüren. Von Schmerzen
32
wenig gefühlt, an Heiterkeit des Gemüths bey der grösten Ohnmacht hat es
33
auch nicht gefehlt. Mein
Appetit
und Schlaf ist beynahe unveränderlich.
34
Alles schmeckt
tanquam papavere sesamoque sparsa.
Nur wird mir das
35
Abstine
eben so schwer wie Ihnen das
Sustine.
Wie theuer mein Besuch
36
dem freygebigen Franz bisher gekostet, wie wenig ich meinem
guten
S. 457
Willen
ihm auf irgend eine Art
nützlich
und
brauchbar
zu seyn Gnüge thun
2
kann. Kurz ich lebe ohne Gram und Schaam,
fruges consumere natus,
muß
3
Gewißen und Ehre,
Blödigkeit
und
Delicatesse
verleugnen. Der
4
Verlust meines Amts, dem ich nach der Abdankung der welschen Verwaltung
5
erst recht vorstehen wollte, war bey meiner Abreise aus Preußen mein gröstes
6
Herzeleid, und nunmehr sehe ich diesen Queerstrich als mein gröstes Glück an,
7
da ich mich ebenso wenig zu einer öffentl. Bedienung als zum gemeinen
8
Umgange des Lebens wegen einer schweren Aussprache und hypochondrischen
9
Launen schicke.
10
DEVS nobis haec otia fecit
– Den 5
April
reiste mein
D. Raphael
ab
11
und hinterließ mich in Umständen, die ich für den Schlüßel meiner ganzen
12
verwickelten Krankheit jetzt ansehen muß. Ein paar Tage drauf zeigten sich
13
Spuren der
güldnen Ader
. Mein Vater seines Handwerks ein
14
Wundarzt und seines Glaubens ein Stahlianer, sah allenthalben
molimina
und
15
wünschte sich immer dies
beneficium naturae.
Ich hatte niemals die geringste
16
Anwandelung gefühlt und dachte ebenso wenig als mein freundschaftl. Artzt
17
daran. Die
beneficia naturae
sind mir so verdächtig als den Phrygiern die
18
Danai dona ferentes.
Unterdeßen ist Gottlob! alles erträglich. Jung kann
19
ich nicht mehr werden; und ich gehe der
VII Decade
entgegen. Der mich
20
durch eine enge schmutzige Pforte in diese beste Welt geführt, wird auch aus
21
diesem Labyrinthe mir herauszuhelfen wißen
coeco regens vestigia filo,
daß
22
ich die
rechte Heimath
, das Vaterland der Geister nicht verfehle. Ich
23
habe bisher ebenso wenig Ursache den Tod zu wünschen als zu fürchten, mich
24
in die
Wel
Erde zu verlieben, als sie, die unser aller Mutter ist, zu
25
verachten. Sie sehen daß ich kein Artzt bin, und daß es auch in diesem Falle nur
26
gar zu oft heißt: Artzt hilf Dir selber.
Miracul
und
Spectacul
sind auch
27
eben nicht mein Lieblings Geschmack. Das Schreiben wird mir jetzt noch
28
saurer als das Reden. Ich freue mich über jeden Brief den ich erhalte, und
29
mir stehen die Haare zu Berge, wenn ich drauf antworten soll. Ich bin seit
30
einem halben Jahr meinem nächsten Freunde, Gevatter und Landsmann in
31
Weimar Dank u Antwort auf 2 Briefe schuldig, weil
mens sana in corpore
32
sano
mir zum körperl. Umgange des Briefwechsels mit Freunden
33
unentbehrl. zu seyn scheint. Ihr ganz zufälliges Vertrauen zu mir scheint mein
34
Mistrauen gegen mich selbst überwogen zu haben. Das
Maximum
Ihrer
35
siebenfachen Hölle oder vielmehr Fegfeuer ist mit dem
Minimo
eines
Εαυτον
36
τιμωρουμενου
ziemlich homogen, nach dem
Principio coincidentiae
37
extremorum oppositorum,
das ich ohne Ruhm zu melden dem philosophischen
S. 458
Märtyrer
Jordano Bruno,
der auf dem Scheiterhaufen starb, gestohlen
2
habe –
3
Erst vorgestern den 2 May habe ich Ihre Zuschrift von meinem beynahe
4
zu peinlich gewißenhaften Pfleger erhalten können. Ich habe heute selbige
5
zum Frühstücke oder Metten widerholt, als ein lebendiges
Ecce homo!
mit
6
Andacht und Erbauung. Die letzten Worte Ihres Briefes haben mich
7
aufgerichtet, und ich habe mehr Ursache Ihren Artzten als dem Selbstgefühl eines
8
Kranken zu trauen, deßen Ungedult nach seinem eigenen Geständnis sich gantz
9
natürlicher Weise in Wuth und Verzweifelung verliert. Diese letzten Worte
10
laßen sich füglicher auf Ihre eigene Lage deuten:
11
Gottlob! das ärgste ist vorüber und wir hoffen alles.
12
Ja, liebster Theophile St. Gott kennt Sie beßer als Sie leider! sich selbst
13
kennen. Er weiß sehr gut, daß es mit all Ihrem Toben nicht so böse gemeint
14
ist, wie Ihre hyperbolische Schreibart züchtigen Ohren auffallen muß. Sie
15
werden bald statt Ihres verhaßten Motto ausruffen können:
16
Mein Daseyn ist Liebe, mein Leben ein unvergänglicher Genuß
17
voller Gnade und Wahrheit.
18
Der Ueberdruß des Lebens ist eine Folge der Symtome vieler Krankheiten
19
besonders solcher welche die Nerven angreifen. In einem solchen
Paroxysmo
20
trank auch Hiob Unrecht wie Waßer, und je mehr Schulden uns vergeben
21
und erlaßen werden, desto mehr wächst die Liebe. Sie ist stark wie der Tod
22
und die Eifersucht ist fest wie die Hölle. Ihre Ampeln sind wie die brennende
23
und flammende Ampeln. Je
thätiger
oder
leidender
man ist, desto
24
mehr herrscht der leidige
Egoismus
in
aus. Zu Gedult gehört herculische
25
Stärke, die den Schwachen mächtig macht. Genügsamkeit an Seiner Gnade
26
ist der beste Schild und der gröste Lohn. Sie haben lange genug mit einer
27
ägyptischen Magd gebult – und über die Mutter Gottes wie ein römischer
28
Meßpfaffe den Sohn der Liebe, und die Gemeinschaft seines Geistes
29
verschmäht. Sehen Sie mich wenigstens als einen Raben an, als den Vorboten
30
der Taube, die in ihrem Munde ein Zweiglein vom Oelbaum mit grünen
31
Blättern dem harrenden Patriarchen in der Arche brachte. Ja laßen Sie sich
32
versöhnen
nicht mit Ihrem
Daseyn
, sondern mit dem
großen
und
33
unbekannten
Gott, den wir als den Vater aller seiner guten und bösen
34
Kinder anruffen, der uns den Beruf gegeben Seinen Namen zu heiligen, die
35
Ankunft seines Reichs zu befördern, und deßen heiliger Wille unser zeitliches
S. 459
Glück und nichts weniger als
ewige Seeligkeit
ist, die wir
Seiner
2
Gedult
und nicht unserm Verdienste noch guten Werken, sondern Seinen
3
piis desideriis,
die im Grunde unsere eigene dunklen Wünsche sind, zu
4
verdanken haben.
5
Ich habe manche Thorheit aus
langer Weile
begangen, daß
6
Verzweifelung auch eine begeisternde Muse glaube ich wohl, sie schickt sich aber
7
beßer zu einer verstörenden als schöpferischen. Doch leider! sind unsere
8
Geschöpfe unbarmherzige Verstümmler der Natur, giebt es einfache natürl.
9
Puncte, auf die sich alles
reduci
ren läßt, oder besteht alles aus
10
mathematischen Linien. Wie wollen Sie ohne
Machtsprüche
Jahrtausende gleich
11
Wochen und Momenten behandeln, Centner wie Pflaumfedern weghauchen
12
und eine
ridiculus mus
in ein Riesengebürge verwandeln. Ich habe in des
13
einfältigen
Saint Pierre Etudes de la Nature
nicht solche pudelnärrische
14
poßierliche Mährchen gefunden als in den
Epoques
des
Buffons.
15
Quanto rectius hic, qui nil molitur inepte,
ich meine den alten Dichter
16
Moses, der 6 Tage und 6 Wochen nöthig hat um ein System anschaulich zu
17
machen, das im Rauch aufgehen soll vielleicht durch den Brand eines bösen
18
Nachbaren, dem es sein Daseyn zu verdanken haben soll. Ich bin in der
19
Astronomie u Botanik der gröste Idiot, habe mich beynahe von Kindheit an blind
20
gelesen, und kann nicht satt werden. Denselben Tag wie ich Ihren Brief
21
erhielt, fiel mir in
Johnsons
Lebensbeschreibungen engl. Dichter just der
22
Theil in die Hände, der das Leben eines sehr unglückl. Mannes enthielt,
Mr.
23
Sauvage.
Sein
Biograph
sagt von ihm:
He had the
peculiar felicity
,
24
that his attention never deserted him, he was present to every object and
25
regardful to the most trifling occurrences. He had the
art
of escaping
26
from his own reflections and accomodating himself to every new scene.
27
Es fehlt mir gänzlich an diesem
Glück u Geschick
, und ich muß den
28
Mangel von beyden durch todte Gesellschaft ersetzen. So lange ich ein Buch in der
29
Hand habe, währt mein Genuß. Leg ich es weg, so bin ich beynahe eben so
30
klug wie ich gewesen bin.
31
Ich bin in meiner Seele überzeugt, daß Gott nicht nur am besten
wiße
32
was Sie leiden, sondern daß auch weder kleines noch großes ohne Seinen
33
ausdrücklichen
Willen
geschehe. Aber diese Ueberzeugung Ihnen
34
mitzutheilen, hängt ebensowenig von mir als von Ihnen selbst ab. Der Glaube ist
35
nicht
Jedermanns Ding
. So wenig unser Daseyn vom Willen des
36
Fleisches noch vom Willen des Mannes abhängt. Ohne eine
37
individuelle
Vorsehung
kann Gott weder Regent des Weltalls noch Richter der
S. 460
Menschen und Geister seyn. Ich bin von dieser Wahrheit
a priori
durch das
2
gegebene Wort der Offenbarung und
a posteriori
durch meine und die tägl.
3
Erfahrung überzeugt. Das höchste Wesen ist im eigentlichsten Verstand ein
4
Individuum
das nach keinem andern Maasstab als den er selbst giebt
5
und nicht nach willkührl. Voraussetzungen unsers Vorwitzes und naseweisen
6
Unwißenheit gedacht oder eingebildet werden kann. Das Daseyn der kleinsten
7
Sache beruht auf
unmittelbare Eindrücke
auf keine
Schlüße
. Das
8
unendliche ist ein Abgrund. Alles endliche ist begränzt und kann durch einen
9
Umriß bezeichnet werden. Eine höhere Liebe scheint uns Grausamkeit. Der
10
den Sohn seines Wohlgefallens durch Leiden vollkommen gemacht hat, hat
11
eben diese Kelter, diese KreutzesTaufe nöthig um die Schlacken der
12
Naturgaben, die er nicht als ein Eigenthum zu ihrem eigenen willkührl. Gebrauch
13
an Ihnen verschleudert wißen will, zu seinem Dienst, zu seiner Ehre, zu
14
Ihrem
Frieden
und
Gewinn
zu läutern. Nicht des irrdenen
15
Schmeltztiegels wegen sondern des darinn enthaltnen edlen Metalls müßen Sie sich
16
nicht befremden laßen. Dem Himmel sey Dank daß es hoch über den Sternen
17
ein Wesen giebt, das von sich sagen kann: Ich bin, der ich bin – Alles unter
18
dem Monde sey wandelbar und wetterwendisch –
19
Mein Freund Kant hat die Beobachtungen und Rechnungen der neuesten
20
Astronomen nöthig, um sich von den Abgründen der menschl. Unwißenheit
21
einen Begriff zu machen. Die Beweise davon dürfen nicht so weit hergeholt
22
werden, sie liegen uns weit näher. Der Beweis der Unsterblichkeit aus dem
23
wachsenden Mond und dem
Wunderstern
im Wallfisch ist für mein Gesicht
24
ebenso unbrauchbar. Diese Wahrheit ist auch für mich
res
facti
25
Nach der
Lage und Natur der Dinge
ist manches unmöglich.
26
Aber unsere Begriffe zu ändern und zu berichtigen scheint nicht so gantz
27
unmöglich zu seyn. Die meisten sind wächserne Nasen, Gemächte der
28
Sophisterey und der Schulvernunft.
29
Sie wünschen sich also einen gesunden Leib um selbigen an einem Project
30
zum Behuf der Bauern aufzuopfern. Der Umriß Ihrer ungeheuren Kette
31
komt mir so verdächtig vor, und Sie begucken die Glieder mit einem so
32
bewaffneten Auge. Der Abgrund Ihrer Qualen ist gleich des
Pascals
seinen
33
neben seinen Sorgstuhl.
34
Wenn Sie so fortfahren über Ihre Uebel zu brüten, sich selbige siebenfach
35
größer als sie menschl. Weise seyn können sich vorzustellen, gegen den Stachel
36
auszuschlagen: so ist das freylich Ihrer Cur und der zu selbiger nöthigen
37
Ruhe nicht vortheilhaft. Sie geben dadurch dem Engel des Menschenfeindes
S. 461
und Verläumders den besten Vorwand mit seinen Spießruthen und Ducaten
2
zu Talch noch freygebiger zu seyn und den Knoten des Drama noch mehr zu
3
verwickeln, übel ärger zu machen.
4
Ich weiß kein beßer Feigenpflaster auf Ihre Beulen als die
Göttliche
5
Thorheit des Evangelii
, wer ist thätiger gewesen, wer hat mit mehr
6
Gedult, als der Menschensohn! Er hatte nicht wo er sein Haupt hinlegt. Er
7
kam in sein Eigentum und seine Unterthanen nahmen ihn nicht auf. Wie muß
8
einem Mann von seinem unschuldigen reinen Character unter einem Volk
9
zu Muth gewesen seyn unter dem Pfaffenregiment der Hohenpriester und
10
dem moralischen Otterngezücht der Pharisäer.
11
Was für göttl. Selbstverleugnung gehört dazu sich zu den rohen Begriffen
12
der 12 Boten herunterzulaßen, die noch einfältiger waren und mehr
13
Bauerstoltz hatten als unsere Leibeigene, den Hang politischer Kannengießereyen zu
14
unterdrücken, und ihre groben Misverständniße eines Himmelreichs zu
15
berichtigen.
16
Hätte Luther nicht den Muth gehabt ein Ketzer zu werden, würde Sailer
17
nicht imstande gewesen seyn ein so schönes Gebetbuch zu schreiben, aus dem
18
ich mich alle Morgen erbaue, so sehr ich auch dem guten Lavater ehe ich das
19
Buch kente die Empfehlung deßelben übel nahm.
20
Meynen Sie daß die gelehrten Profeßionen anders als Handwerkmäßig
21
getrieben werden müßen. Die gröste Ketzerey wird es seyn, wenn Sie sich
22
gelüsten laßen wollten die Narrheiten der After Alchemisten
ad oculum
zu
23
demonstriren oder sich an den Meßdienern der Flora zu vergreifen.
Veritas
24
odium parit
– Habt Saltz in
euch
und Friede unter einander. Narren und
25
Aftergelehrte muß man ungeheyt laßen.
Von den beiden anderen ehemals in der Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg aufbewahrten Entwürfen lautet der aus Roths Hamanniana II 6, (von ZH wiedergegeben nach der Photokopie in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, aus dem Besitz von Josef Nadler):
556/6
Münster am Sonntage
Exaudi
den 4 May 88.
7
κρατιστε Θεοφιλε
Steudel!
8
HOMO sum
und Sie sind der gemeinschaftliche Freund unsers
9
gem
liebreichen Frantz und des biedern
Crispus – Anchor io
10
son Lazcaro –
Was Ihre
Seelen
glühende
Phantas
11
Einbildungskraft psychologisch ist, stellt
mein
Max
die Lüsternheit
12
und Schwäche
die Unenthaltsamkeit meines unbändigen
13
Magens
physiologisch vor
und die Schwäche seiner
14
Verdauungskraft physiologisch vor.
15
Die Silhouette Ihrer Seele, ihrem eigenen
gegebenen
Umriß
16
zu folge Weil der
korperliche Umgang
mit Freunden,
17
seither
wie Sie das Schreiben
rechnen
er
erklärten, ohne Stille
18
ein leeres todtes Werk ist und das äußere ein Bild und Ausdruck
19
des unsichtbaren
Dei ex machina
so werden Sie den
20
sympathetischen Zusammenhang meiner Gesinnungen mit Ihrem Schicksal
21
ohne viele Mittelbegriffe leicht erachten u die
Ellipsin
derselben
22
ohne meinen
aus dem Fingerzeig
Randgloßen ergänzen
23
können. Ich bin überzeugt daß Gott Ihre Marter
wiße
und
wolle
,
24
Sie davon eben so augenscheinlich zu überführen, ist keines
wegs
25
Menschen Ding, so wenig unser daseyn vom Willen des Fleisches
26
und vom Willen des Mannes abhängt. Erst vorgestern den
27
2 May habe ich Ihre 16
dick voll geschriebene Seiten
28
lange Zuschrift
erhalten können, die ich heute zum
29
Frühstücke oder
zur Metten
Frühpredigt widerholt zu meiner
30
eigenen Erbauung u Stärkung, als ein lebendiges
Ecce homo!
31
las.
Ich habe den äußern
Umriß,
ohn Schwindel auch in den
32
Abgrund Ihrer Quaalen, und widerhole zu Ihrer Beruhigung
33
die
letzte Worte
Ihres Brief
s
es, wenn Sie selbige vergeßen
34
haben sollten, um selbige auf Sie selbst zu deuten:
35
Gottlob! das ärgste ist vorüber und wir hoffen
36
alles!
S. 557
Sie werden statt Ihres verhaßten
Motto
bald ausruffen können:
2
Mein Daseyn ist Liebe, mein Leben nicht mehr
3
anticipirter
Genuß
, weder ein erträumtes Paradies noch
4
ein erträumtes
Ergastulum,
sondern ein ewig
fortdauernder
5
Genuß
der
Gnade und Herrlichkeit.
6
Sie können die Theologen
in pontificalibus
die Pilosophen in
7
pallio
/
Ohne
pontificalia,
ohne ein
pallium philosophicum
8
ohne poetische und dramatische Fabeln
9
Das
Sustine
wird Ihnen so schwer wie mir das
Abstine
. Das
10
Maximum
ihrer siebenfachen Hölle ist nach dem
Principio
11
coincidentiae extremorum oppositorum,
das ich ohne meinen
12
Ruhm zu melden einem
Mar
philosophischen Martyrer der
13
auf dem Scheiterhaufen starb, mit dem
Minimo
meiner Uebel
14
ziemlich
analog
. Ich setzte mich den 21
Jun.
mit dicken Füßen die
15
mir von einem Faulfieber geschwollen waren, das eben wegen
16
meiner Reise blos
palliative
behandelt werden konnte, bey der
17
grösten Entkräftung auf den Postwagen mit der vorgefaßten
18
Meinung daß Bewegung des Leibes und Zerstreuung des Gemüths
19
nach einer 20jährigen sitzenden Lebensart, bey der ich mit
20
Leidenschaft Grillen machte und selbige durch Geschmack an Eßen,
21
Trinken und Schlafen zu ersticken beflißen war, that die weite Reise
22
beynahe in einem Zuge mit meinem Sohn und einem
23
Reisegefährten,
den ich
einem Artzte, den ich Raphael nenne aber Ihnen
24
unter dem Namen Lindner und als ein Zuhörer des seel. Gleditsch
25
nicht unbekannt seyn wird, u kam den 16
Jul.
p. Sie können leicht
26
denken wie an. Seit dem ist an meiner Reinigung u Stärkung
27
unabläßig gearbeitet worden.
28
Abgegangen den 18 May
Dom. Trinitatis
mit Franzes Briefe.
Der Brief bezieht sich auf einen umfangreichen Brief Steudels an Bucholtz vom 3. Februar 1787, den Hamann zum großen Teil abschrieb (Photokopie aus dem Besitz von Josef Nadler in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster, offenbar aus Roths Hamanniana, II 6). Da es dem Verständnis von Hamanns Brief besser dient, den ganzen Brief Steudels zu kennen, wird er im Folgenden nach dem Original im Staatsarchiv Münster, Bucholtz-Nachlaß Nr. 145 (3, 26), abgedruckt:
557/36
Eßlingen den 3. Febr. 1787.
S. 558
Liebster Franz!
2
Eher würde ich am Daseyn der Schöpfung oder an meiner
3
eigenen Existenz zweifeln, als an der Fortdauer Deiner Freundschaft.
4
Deine Erfahrung und Menschenkentnis hat Dich sicher zu
5
wählen gelehrt, also darf auch Dein einmal gewählter Freund niemals
6
einen Nachlaß oder Rückfall befürchten; und ich halte es gerade
7
zu für unmöglich, daß Du jemals aufhören könntest, der Freund
8
Deines Freundes zu seyn. Ach! ich weiß es nur leider! zu wohl
9
an mir selbst, wie sehr man vom körperlichen Umgang mit seinen
10
Freunden (und hiezu rechne ich das Schreiben auch) abgehalten
11
werden könne, so sehr auch die Seele sich immer mit diesen ihren
12
Lieblingen, beschäftigt. Ich darfs Dir also wohl nicht erst
13
erklären, daß die Verzögerung dieser Antwort an sich für
ph
mich
14
schon ein unnennbares Leiden war, wenn auch die Ursachen der
15
Verzögerung keine Ketten von Leiden gewesen wären. Dein Brief
16
hätte in so vieler Rüksicht eine schnelle Antwort erfordert, aber,
17
Lieber! ich konnte nicht. Erkundigung nach Deiner und der lieben
18
Marianne Gesundheit, meine Danksagung für die Schattenriße und
19
die schöne Bibel, Vater Haman und Dein Vorschlag
20
quaestionis
wegen die wichtigsten Artikel; dies alles hab ich seit dieser
21
langen Zeit wohl schon tausendmal beantwortet, nur nicht
22
schreiben können. Will nun alle Kräfte anspannen; aber wenn Du
23
Zusammenhang und Ordnung vermißest, so entschuldige mich.
24
So weit vor bey nahe 3. Monaten. Jetzt erst am Ende des
25
Februars kann ich wieder den Kopf ein wenig fest halten. Dieser
26
Winter war der härteste, den ich je erlebt, er übertraf die Summe
27
aller vorher gegangenen Qualen, obgleich meine Aerzte
28
versicherten, daß die Krankheit bey nahe so gut als gehoben seye. O,
29
Aerzte, Aerzte. Laß mich doch, ehe ich weiter gehe, meinen
30
Unmuth ein wenig vor Dir ausschütten und mein Herz erleichtern,
31
damit es nicht zerplatze. Ich habe ja sonst keine Seele auf Erden,
32
die mich versteht oder verstehen will, als Dich, laß mich doch ein
33
wenig reden. Wäre alles dies, was ich Dir seither zugedacht hatte,
34
auch zu Papier gekommen, Du hättest 3. Wochenlang daran zu
35
lesen. Je weniger ich mich zu schreiben fähig fühlte, je mehr dachte
36
ich an Dich, dachte Tagelang an Dich, und doch wurden mir die
37
Hände immer fester gebunden. Ich wiederhole es nochmals: wenn
S. 559
ich seither keine andere Plage gehabt hätte, als die grausame
2
Verhindernis, Dir nicht schreiben zu können, so wären es der
3
Plagen mehr als genug gewesen. – Ich hoffe, bey Dir in Münster
4
die Wunden wieder ausheilen zu können, welche mehr als
5
siebenfache Höllenqual in meine Seele eingefreßen und fast durchfreßen
6
hat. aber siehe! das wird mir nicht das einzige, wodurch ich hoffe,
7
mich wieder mit meinem Daseyn aussöhnen zu können, und mich
8
doch endlich deßen zu freuen, wird mir nicht. Du weißt,
9
Lieber, ich sehnte mich niemals nach Reichthum und Ehre;
10
Gebrauch der Zeit für mich und Würksamkeit für andere, war von
11
je her mein einziger Wunsch. Aber keins von beyden ward mir
12
beym fortdauernden, ich darf wohl sagen, brennenden Hang zur
13
Thätigkeit; und dieser wächst immer mit der Zahl der Feßeln,
14
deren Ursache ich nicht kenne und begreife und die mich immer mehr
15
zusammen schnüren.
16
Wer im ganzen Umfang der Schöpfung eine höhere Marter,
17
als diese kennt, der trete hervor und beweise sie mir! Sind die
18
Schilderungen der Höllenqualen, in Vergleichung gegen diese, nicht
19
poßierliche Märchen, gesezt auch, daß man des Pater Cochems
20
pudelnärrische Erzählungen davon als Wahrheit gelten laßen
21
wollte?
22
Siehe! da saß ich denn zuweilen zwischen Verzweiflung und
23
Tod, den einzigen Leckerbißen, den einzigen Labsalen, die mir noch
24
übrig bleiben. Nichts sonst
exist
irte für mich in der Schöpfung,
25
alle Hoffnung für eine beßere Zukunft war vertilgt, aller Trost,
26
den der Theologe aus seinen
Pontificalibus
und der Philosoph
27
aus seiner Vernunft heraus schüttelte, und noch schüttelt, haftet
28
nicht; das Uebermaas meiner Marter, die kein Erschaffener faßen
29
kann, bläst ihn wie Pflaumfedern von sich. Was Wunder? daß
30
ich denn zu widerholten malen in der Summe meiner Qual
31
ausrufe: „Wozu bin ich denn? mein Daseyn ist Grausamkeit, mein
32
Leben fortdauernder Tod!!! da gibts denn freylich der
33
mitfühlenden Seelen manche, die da mit
Pope
sagen:
Alles was ist,
34
ist recht.
Je größer die Leiden dieser Zeit, je herrlicher die
35
Früchte in der Zukunft ppp Lieber! ich halte dies für baare
36
Gotteslästerung: Läßt sich wohl von dem über alles erhabenen Wesen,
37
von dem die
allgemeine
Übersicht der Schöpfung überzeugend
S. 560
beweist, daß es die Liebe selbsten ist, denken, daß er ein schwaches
2
elendes Geschöpf, das doch nur Staub und Asche ist, martern und
3
quälen könne, um es hernach zu erquicken? Gibt es wohl leicht
4
unter den Menschen eine so rohe Seele, die einen unschuldigen
5
Kerl Spißruthen jagen ließ, und ihm hernach einen
Duca
ten
6
schenkte mit dem tröstlichen Beysatz: da, guter Freund! kauf’ er
7
sich Talg, den Rücken zu schmieren, und fürs übrige mach er sich
8
lustig. Könte man’s dem Kerl verdenken, wenn er antwortete?:
9
Hätten Sie mir den
Duca
ten ohne Spißruthen geschenkt, so
10
könnte ich auch dafür danken – Oder (Du bist selbst Vater)
11
versuchs einmal und prügle Dein Kind täglich und lebenslänglich bey
12
aller Versicherung Deiner Liebe, und siehe zu, ob Du Dir von
13
ihm Zutrauen und Liebe erprügeln wirst? Und dies ist mein Fall,
14
denn was bin ich mehr als ein Kind gegen den Schöpfer? Mein
15
Resultat hieraus darf ich Dir wohl nicht ausführlich hersetzen.
16
Zweifel und bey nahe Überzeugung der Nicht
existenz
einer
17
individu
ellen Vorsehung fließen ganz natürlich von selbst daraus.
18
Aus diesem wirst Du nun leicht abnehmen, wie wenig
Trost
19
mir das Gedicht von Hiob (denn Gedicht, oder orientalisches
20
Drama, ist es doch unstreitig gewiß) Trost geben könne. Ganz gewiß
21
war der edle Verfaßer ein Mann von großem Geist, ein Mann
22
durch mehr als gewöhnliche Unglücksfälle zermalmt, sonst hätte
23
er seinen Helden unmöglich in solchem erhabenen Lichte auftreten
24
lassen können. Aber er läßt doch seinen Helden im 29. Kap. mit
25
starken Zügen seine ehemalige Glückseligkeit erzehlen, zum klaren
26
Beweiß, daß er vollen Genuß des Lebens gehabt habe, und nur
27
durch jetzige Vorfälle in dieser Glückseligkeit gestöhrt werde; ich
28
aber, (wie groß ist da der Unterschied, wie ganz ungleich,
29
unpaßlich, das Verhältnis!) habe so alt ich auch schon bin, noch gar
30
nicht gelebt, und mein heißes Gefühl für den Gebrauch des Lebens,
31
das in andrer Lage ein unschäzbares seltenes Geschenk der Natur
32
gewesen wäre, wird mir gerade zu zur vorzüglichsten Quelle
33
meiner
ich
unnennbaren Qualen –, wird mir zur eigentlichen Hölle.
34
Denke Dir doch einen Heißhungrigen, deßen Nase man immer mit
35
den köstlichsten Speisegerüchen reizte und folterte, ohne je seinen
36
Gaumen und seinen Magen zu befriedigen –; und nun spanne alle
37
Deine Kräfte an, und denke Dir meine Seele psychologisch so, wie
S. 561
Du Dir den Magen jenes Heißhungrigen physiologisch vorstellst;
2
so hast Du die ächte
Silhouet
te meiner Seele, den wahren Umriß
3
aller oder doch der meisten
meiner
Qualen, aber freylich
nur
4
den Umriß
“. Und nun wirst Du überzeugt seyn, wie wenig die
5
Schilderung Hiobs mit meiner Schilderung zusammentreffe –
6
wie wenig seine Lage der meinigen tröstlich seyn könne. Bis
7
iezt sind das 3. 6. 7. 10. 14.
te
und ähnlich Kapitel (nach unserer
8
version
) diejenige, die das meiste für mich paßende enthalten;
9
wollte Gott! das lezte Kapitel Hiobs machte auch einmal
10
einen Theil meiner Biographie aus, oder ich könte wenigstens
11
so gelaßen bey meinen Leiden seyn, als Du es bey den deinigen
12
bist! Ach, das wird niemals kommen, es ist nach der Lage und
13
Natur der Dinge unmöglich daß es jemals dahin kommen
14
könne. Lieber! Du weißt noch nicht, wirst es auch niemals wißen
15
können: um wie viel leichter es seye,
B
Franz Bucholz zu seyn
16
als Gottlieb Steudel. Freylich, freylich war ich niemals und
17
konnte auch niemals der unsträfliche Gerechte seyn, wie der
18
uralte edle Dichter seinen Hiob schildert. Ich war von Jugend auf
19
gerade zu ein solcher Mensch, wie, im Durchschnitt genommen,
20
alle anderen Menschen sind, und hab eben deswegen kein besonder
21
sanftes Traktament verdient; aber warum denn eben just ein so
22
unbegreiflichs über alle Maßen hartes? „Du hast viele Kräfte,
23
sagtest Du ehemals, und also kanst Du auch vieles tragen.“ –
24
Gut, aber meine Antwort ist auch noch ebendieselbe: „Und wenn
25
ich auch ein Riese wäre, und 20 Ctr. tragen könte, so wird mich
26
doch der 21.
ste
Ctr. erdrücken, mit welchem ich überladen worden.
27
In solchen Momenten nun, in welchen ich das Uebermaas des
28
Druks vorzüglich fühle, weiß ich mir nicht anders zu helfen, als
29
anzunehmen, daß in der Reyhe der Wesen nun einmal auch solche
30
Geschöpfe nothwendig seyen, die an den Rand der Verzweiflung
31
hingeschleudert werden müßen – Kämen da nicht wieder gelinderere
32
Auftrite darzwischen; ich lebte längst nicht mehr. Käme doch
33
nur der erwartete Komet bald! Gegenstände aus der
34
Astronomie
für
waren seit geraumer Zeit noch das kräftigste
35
Gegengift gegen die Wuth meiner Qualen, der Anblick einer
36
sternhellen Nacht, die Ankunft eines ungewöhnlichen Sterns, wie z. B.
37
der Wunderstern im Walfisch, der noch jetzo glänzet, der
S. 562
wachsende Mond pp versicherten mich immer aufs tröstlichste meiner
2
Unsterblichkeit; und denn vergeße ich die so oft wiederholte Fragen?
3
Weswegen bin ich denn? Warum denn so ungeheuer viele Qual,
4
wenn mein Daseyn Würkung der Liebe des Allgütigen ist? Wie
5
reimt sich denn ungeheure Marter eines Geschöpfs zur
6
unbegränzten unnennbaren Liebe seines Schöpfers? pp : pp O Franz,
7
liebster Franz! wüßtest Du alle meine unzähliche Fragen dieser Art,
8
Du würdest mich haßen, würdest es nicht für möglich halten, daß
9
ein Mensch dem Du so viele Kräfte zutrautest, so weit sich aus dem
10
Geleise wegdrücken laßen würde. Aber Deine Freundschaft mischte
11
sich partheyisch in Deine Vorstellung von mir, machte Dich mehr
12
sehen als würklich zu sehen da war; auf der anderen Seite siehest
13
Du das Gewicht meiner Leiden für ungleich geringer an, als es
14
ist; und dies geht sehr natürlich zu, weils unmöglich ist, daß ein
15
anderer, wärs auch ein Seraph, sich, auch nur vom rohen Umriß,
16
einen deutlichen Begrif machen kann. Ich wollte ja gerne geduldig
17
leiden, wenn nur die Leiden mit meiner Kraft auch in schicklichem
18
Verhältnis wären; aber die
Disproportion
bringt meine Ungeduld
19
oft bis zur Wuth, ich wünschte in einer Einöde zu seyn, um, von
20
allen Menschen verlaßen, desto sicherer und geschwinder zu
21
verschmachten, denn ich kann mich dem Übermaas fast nicht mehr
22
entgegenstemmen; zu lang ist zu lang, und zu dick ist zu dick.
23
Liebster Franz! kanst Du die Schneelawine in ihrem Sturz
24
aufhalten, oder den herabrollenden Felsen aus Deinem Pfade
25
wegblasen? Wie soll denn ich Bergen von Leiden, die sich über meine
26
Seele herwälzen, Widerstand thun? hab ich denn die Kraft von
27
vielen Tausenden?
28
So könnte ich noch bis Pfingsten fortreden, denn ich wache und
29
träume beständig solche finstere Gegenstände. Ich reiße mich mit
30
Gewalt davon los, aus Liebe zu Dir. Verzeyhe, daß ich Dich damit
31
quäle! Erleichtern mußte ich mich, sonst hätte ich nicht Luft
32
bekommen, weiter zu schreiben; laß es doch gelten.
33
Mein Körper ist noch in demselben Zustand, wie Du ihn vor
34
2½ Jahren gesehen hast. Seit der Mitte des 9
br
, da der Herr v.
35
Sturmfeder bey mir war, bin ich nicht mehr aus dem Hause, und
36
nur selten ein paar Stunden aus dem Bette gekommen. Fieber
37
habe ich keine mehr, oder doch nur selten, aber die übrige
S. 563
zahlreiche Qualen haben sich noch eher vermehrt. Mehrere Tage muß
2
ich wegen Halskrämpfen ungegeßen zubringen, und dieses ganze
3
Jahr zähle ich kaum 3. Nächte, in welchen ich ein wenig
4
erquiklich schlafen konte. So oft ich auch schon in der Hoffnung zur
5
Beßerung getäuscht worden bin, so habe ich doch zum
6
bevorstehenden Frühling mehr Zutrauen, als zu vielen vorhergegangenen.
7
Wenn doch endlich die Gottheit auch einmal gnädig auf mich
8
blicken und meiner siebenfachen Höllenqual ein Ende machen wollte!
9
Es wäre doch einmal genug! was nützet denn ihr meine Marter
10
und was nüzt sie mich? mich erniedrigt sie allmählig unter das
11
Thier herab, und macht mich zu einem Unding, zu einem
12
Mittelding zwischen Geist und Materie, das zweklos in die Schöpfung
13
hineingeschleudert wurde. hab ich doch mehr gelitten, als manche
14
ganze Nation – ach, es wäre genug! Dann, liebster Franz, dann
15
käme ich zu Dir hinunter, ließ mir von Dir eine neue Seele
16
einhauchen, denn meine jetzige, voller Narben Wunden und Beulen
17
ist keiner schiklichen Form mehr fähig; und würde endlich ein
18
Mensch, dem es nach und nach begreiflich werden könnte,
19
weswegen er da seye. Nur, bitte ich Dich, werde doch unterdeßen selbst
20
gesund, und laß Dich nebst der edlen Marianne in bestem
21
Wohlseyn finden. Ich fürchte nur allzusehr, der ganz besondere Winter
22
habe auch Dich hart mitgenommen; unsere Krankheiten sind der
23
nächste Anverwandte, und so kann ich an mir abnehmen, was
24
Dein Körper gelitten haben werde, nur daß ich, vorzugsweise, alle
25
diese Freuden im
Superlativissimo
zu genießen habe. Aber daß
26
auch die vielgeliebte Marianne, die die personificirte Gesundheit
27
zu seyn schien leidet ist uns allen auffallend, unbegreiflich. Ihr
28
lieben Leute habt die Herzen aller derer mitgenommen, die euch
29
hier kennen lernten; jedermann will von mir euer Befinden wißen,
30
mit Aengstlichkeit fragt mich Schwester, Schwägerin und Bruder,
31
ob Marianne, ob Bucholz wieder wohl sey, ob Du wieder einen
32
Sohn habest? und ich Elender konte dismal selbst nicht fragen.
33
Gelt! hierüber befriedigst Du mich bald, und läßest mich
34
Unschuldigen meine langsame Antwort nicht entgelten. Denn komm ich
35
hinunter, und helfe Dir vollends getreulich Dein Projekt für die
36
Bauren ausführen. Du gibst Herz und Seele dazu her, und ich
37
den Körper. Dann solls schon gehen, da ich von Jugend auf, ohne
S. 564
es selbst zu wißen, das Naturstudium liebte, so gieng ich gerne
2
mit Bauren um, und lernte dadurch ihre Launen und
3
Vorstellungsart kennen. In Berlin bin ich unter des großen Sulzers
4
Anführung selbst schon Schriftsteller für die Bauren gewesen, und
5
zwar mit seinem ganzen Beyfall. Es ist freylich schwerer, als
6
man glaubt, sich zu den Bauren herabzulaßen und ihr Zutrauen
7
zu gewinnen, besonders in Ländern, wo sie leibeigen oder sonst in
8
großem Druck ppp sind.
9
Und nun! was soll ich denn zu Deinem Vorschlag sagen, der mir
10
wieder einer großer Beweiß Deiner Liebe ist? Einiges von meiner
11
Meinung hierüber wirst Du schon von unserem edlen Freund von
12
Lamezan
erfahren haben, und dies beruhigte mich seither doch in
13
etwas. Nun liege ich da, von Krankheit gefesselt, und weiß selbst
14
nicht, was ich weiter darüber sagen soll. Hätte meine Gesundheit
15
seither auch nur einigen Zuwachs erhalten, da ich doch trotz der
16
Behauptung meiner Aerzte, vielmehr das Gegentheil fühle, so
17
könnte ich jezt bestimmter darüber reden. Alles, was ich jezt
18
mehreres davon sagen kann, gilt blos in der Rüksicht auf eine
19
nachdrückliche gute Einwürkung des Frühjahrs auf meine Gesundheit;
20
denn in dem jetzigen Moment, da ich dieses schreibe, könte ich mich
21
nicht, ohne Gefahr zu ersticken, auf 20. Schritte von meinem
22
Bette entfernen; ein schon lang anhaltender Krampf, der vom Wirbel
23
bis auf den Nabel, und bey nahe über den ganzen Körper reicht,
24
macht
und vorzüglich die Brust sehr lieblos zusammen drückt,
25
macht mir diese Stunden sehr bitter. Wärs also, daß mir der
26
Frühling Gesundheit brächte, und ich den Sommer durch mich
27
vorher noch hinlänglich erholen könte, dann sollte mir auf den
28
Herbst hin eine Stelle in Deiner Vaterstadt, in Deiner Nähe,
29
sehr willkommen seyn; ohne dieses würde ich wahrscheinlich
30
Bedenken tragen, mich unter die
Subordination
von Pfaffen zu
31
begeben. Du weißt mein Liebster! daß ich über diesen Artickel sehr
32
kützelich bin, und das Pfaffenjoch für das erschröcklichste und
33
unerträglichste auf Erden halte. – Eben fällt mir ein, daß der HE.
34
von Fürstenberg schwerlich auf meine Wiedergenesung warten
35
wird, gesezt auch, daß keine andere Hinderniße zu meiner
36
Annahme vorwalteten und daß also alles was ich hierüber schreibe,
37
überflüßig ist. Doch, auf alle Fälle will ich noch einiges darüber
S. 565
hersetzen, was ich Dir schon vor einem halben Jahr hätte sagen
2
sollen: daß ich Lutheraner bin, ist freylich eine bitterböse Sache;
3
indeßen kanst Du doch auf Treu und Glauben versichern, daß ich
4
lauter ächt catholische Chemie und Botanik vortragen werde,
5
und daß nichts ketzerisches in meinen Schmelztiegeln und Kolben
6
vorkommen soll, es wäre denn, daß ich zuweilen die Narrheiten
7
der After-Alchymisten, welches offenbare chemische Ketzer sind
ad
8
oculum demonstrir
en wollte. Die liebe schuldlose Botanik läßt
9
gar keine Ketzerey zu, und wenn nicht etwa zuweilen die Gärtner,
10
die man als die Meßdiener im Dienste der Flora ansehen kann,
11
dumme Streiche machten, die auf das würksame geistige der
12
Religion eben keinen großen Einfluß haben. Das siehst Du nun, daß
13
ich bey all meinen Qualen doch noch scherzen kann, denn ich weiß
14
gar wohl, in welchem Sinne Deine Besorgnis wegen meiner
15
Religion gemeint ist.
Attestata
? diese könnte ich in meiner
16
beschriebenen Lage nicht besorgen; aber wäre ich auch gesund
17
gewesen, so hätte Blödigkeit oder (welches mir noch weit wahrscheinlicher
18
ist) Stolz mich abgehalten, sie herbey zu schaffen, so viele ich auch
19
deren aufzutreiben wüßte. Die niedrigste Lebensart ist mir
20
wünschenswerther als eine glänzende, die ich durch Kriechen erkriechen
21
soll. Aber gesezt auch daß ich hierinn weniger
delicat
gewesen
22
wäre, so sind die wichtigsten Männer, deren Zeugnis den größten
23
Nachdruck gehabt hätten, tod. Margraf
chemicus
und Gleditsch
24
botanicus
hätten alle übrige Zeugniße entbehrlich gemacht. Eben
25
so geht es mir mit Männern, die zwar keine der beyden
26
Wißenschaften praktisch getrieben, aber mehr als hinreichenden Geist
27
hatten, einen jeden hierinn zu beurtheilen und anderer Urtheil
28
Nachdruck geben zu können.
Sulzer, Lambert, Mendelsohn
sind
29
tod; alle waren meine Gönner, und ich darf sagen, meine Freunde.
30
Auch
du Roi
mein vorzüglichster botanischer Freund und einer
31
der größten teutschen Botaniker dieses Jahrhunderts ist tod.
32
Leske, der Naturhistoriker ist tod, der Freud und Leid und
33
Wißenschaft mit mir theilte. Sein noch lebender Freund
Hedwig,
der
34
Moos-Vater, kennt mich durch
Lesken
von der botanischen Seite
35
sehr gut. Noch leben in Berlin
Theden,
Selle,
Cothannius,
36
Matt
ießen,
Jediz Gerhard Klapproth
pp, die mich gleichsam
37
von Fuß auf kennen, und beyde Hände zu
atttesta
ten hergeben
S. 566
würden.
Murray,
Weigelin
Greifswalde,
Allioni
in
Turin
2
Hermann
in Strasburg,
Medicus
in Mannheim, die meistens
3
noch alle meine Correspondenten sind, oder doch waren und
4
mehrere andere würden ihr Zeugnis herzlich gerne hergeben. Und
5
wenn auch die Empfehlung einer Dame verlangt würde, so gäbe
6
sie die Gräfin Charlotte von
Solms,
meine Schülerin, die jezt auf
7
ihres Bruders Gütern in Schlesien einen prächtigen botanischen
8
Garten angelegt hat, mit vieler Wärme her. Aber wie gesagt,
9
ich bin unfähig, um
attesta
te zu betteln. kann es übrigens dem
10
HE. von Fürstenberg nicht verdenken, daß er auf Zeugniße dringt.
11
Ich dächte aber, die Mannheimischen wären schon für seine
12
Excellenz
befriedigend genug. Ich habe keines davon gelesen, weiß
13
auch nichts von ihrem Inhalt, bin aber überzeugt, daß sie mit
14
Wärme und Nachdruck geschrieben sind. Und warlich! wenn solche
15
edle Männer (du kennst doch selbst die mehresten) so zeugen
16
konnten, da ich doch in der kurzen Zeit nach der Natur des
17
Gegenstandes (alle andre Nebenhinderniße abgerechnet) so viel nicht seyn
18
konnte, als ich ihnen gerne gewesen wäre, so kann daraus ein
19
Jeder, der mich nicht kennt, leicht
daraus
abstrahir
en, daß ich
20
eine ähnliche Stelle in Münster auch hinlänglich ausfüllen würde.
21
Zum Uberfluß lege ich Dir einen Brief von
Klaproth,
Assessor
22
des
Colleg. med.
meines alten Freundes, in Berlin bey, den du
23
mir gelegentlich wieder zurücksenden wirst. Du siehst daraus, daß
24
man
mir
mich in Berlin vorzüglich werth hielt, Gleditschens
25
große Lücke auszufüllen die wenigstens 2000 münsterischen Geldes
26
abwirft. auch darf ich ohne Eigenliebe hinzusetzen, daß, da ich noch
27
in Berlin war, mich jedermann für Gleditschens Nachfolger hielt,
28
sonst wären meine Freunde nach 6 jähriger Abwesenheit und bey
29
meiner fast gänzlichen Vernachläßigung des Brief-Verkehrs mit
30
ihnen bey diesem Vorfall, ohne alle meine Veranlaßung nicht
31
so thätig gewesen. Als ich diesen Brief erhielt, drükte mich noch
32
neben meinen übrigen Plagen ein Gallenfieber, deßen Folgen mir
33
vollends den ganzen Winter verfinsterten, so daß ich keine Sylbe
34
disfalls nach Berlin schreiben konnte. Zwey Jahre vorher bot mir
35
ein andrer Brief ein Profeßorat der Naturhistorie nebst
36
ansehnlichem Gehalt in Warschau an, bey welchem weiter nichts als mein
37
bloßes Jawort verlangt wurde. Aber gleiche Ursache wie die
S. 567
jetzige, zwang mich, das Anerbieten abzulehnen. Es that mir sehr
2
weh, denn ich hätte gerne eins mit den Sarmaten versucht, ich
3
könnte noch mehrere solche Fälle anführen, die deine Empfehlung
4
bey dem HE. v. Fürstenberg sicher stellen möchten, aber ich werde
5
dich schon mit dem Erzählten mehr als zu viel ermüdet haben.
6
Gesezt auch, daß ich mich auf den Sommer hin gänzlich erholte,
7
welches ich doch schwerlich jemals hoffen kann, und ich, welches
8
noch weniger eintreffen wird, unter Profeßuren wählen könnte, so
9
würde ich immer die Botanik anfangs vorziehen; theils weil sie
10
sich mit einer schwachen Gesundheit beßer verträgt, theils auch,
11
weil sie keine sonderliche Zurüstung und vorherigen Aufwand
12
erfordert, wie die Chymie, zu deren Einrichtung ein paar 100
13
wenigstens und ein Jahr Zeit erfordert werden, besonders in
14
einer Gegend, wo chemische Bedürfniße noch nicht gangbar
15
geworden und schwer zu haben sind.
16
Vom Gehalt versteht es sich von selbst, daß er für alle meine
17
Bedürfniße hinreichen müße. Denn wenn ich die Pflichten meines
18
Amts erfüllen soll, welches eines jeden redlichen Mannes Sache
19
ist, so mag ich nicht dabey darben. Es ist falsch, wenn man glaubt,
20
daß eine mittelmäßige Bezahlung desto mehr ansporne. Das geht
21
bey Handwerkern an, oder bey Aftergelehrten, die gerne zu seyn
22
scheinen wollen, was sie nicht sind ppp. Ohne hinlänglichen
23
Gehalt bleibe ich lieber in meiner bisherigen Finsternis unabhängig,
24
und thue deswegen doch, so viel ich kann; in einem Amte hingegen
25
muß ich der
Convention
wegen allerley Aufwand machen, dem
26
ich jezt ohne Anstrengung ausweichen kann. Doch dies alles weißt
27
du beßer als ich selbst. Aber sage mir doch, wie’s bey euch in den
28
Collegien gehalten wird? Ich bin ein Erzfeind alles Ceremoniels
29
und würde mich in meinen jetzigen alten Tagen schwerlich mehr
30
dazu bequemen können, Gelegenheits-Reden,
epistolas
31
gratulatorias, programmata
und Schnickschnack auszufertigen. Und in
32
welchem Verhältnis wäre ich denn mit der lieben Clerisey? Ich
33
bin gerne unter ihr, nur soll sie mir nichts befehlen, sonst strömt
34
an allen Ecken Feuer aus mir hervor. Es will ja verlauten, daß
35
auch bey Euch da unten der Teufel in einer Jesuitenmütze wie
36
ein brüllender Löwe umher gehe, und suche, welchen er verschlinge.
37
Sollte es möglich seyn, daß die Bayerische Finsternis sich bis
S. 568
Münster verbreitet habe? Das würde ich schwerlich verdauen
2
können; wenigstens halte ich es für eine sehr löbliche fromme List
3
vom ehrwürdigen Pater Forkenbeck, daß er eine dicke Liste
4
verbotener sehr guter Bücher herausgegeben hat. Als ein großer Kenner
5
des menschlichen Herzens, das immer am liebsten nach dem
6
Verbotenen greift, will er dadurch dem lesenden Publikum auf eine
7
neue Art eine Kenntnis guter Bücher beybringen, zu welcher es sonsten
8
nur langsam gekommen wäre. Das muß ein braver Mann seyn;
9
wenn ich hinunter komme, so will ich ihn für diesen klugen Streich
10
mit ganzer Wärme umarmen. Bist du nicht auch meiner
11
Meinung? Wenigstens läßt es sich nicht denken, daß ein vernünftiger
12
Mann vernünftigen Männern vernünftige Bücher entziehen
13
sollte; womit sollten jene denn ihrer Seele Nahrung geben?
14
Dadurch würde ja nach und nach das Salz der Erde ganz
15
Capuzinisch dumm; womit sollte man zulezt salzen? – womit???
16
Geschrieben habe ich unter meinem Namen noch nichts, was
17
mich empfehlen könte außer daß ich des
Toaldo:
Witterungslehre
18
für den Feldbau aus dem Ital. übersezt habe. Ein Buch, das
19
wenigstens Sachkenntnis, das heißt: Astronomie, Chemie und
20
Botanik voraussezt, ohne welche sonst keine Ubersetzung möglich
21
gewesen wäre. Vor ein paar Jahren hat es die dritte Auflage
22
erlebt. Während meiner Krankheit wälze ich einen embryon eines
23
Buchs in meinem Kopfe herum, das nichts weniger enthalten
24
sollte, wenns nehmlich jemals zur Welt käme, als: die vergangene
25
und zukünftige Geschichte der Oberfläche des Erdbodens im
26
Großen. Freylich wäre es nur ein bloser Versuch; doch glaube ich,
27
daß ich die bisherigen Systeme der Geologie sehr leicht
zu
28
widerlegen würde; ob aber dasjenige, was ich dafür
substitu
irte,
29
besser Stich hielte, ist eine andere Frage. Wenigstens gieng ich
30
von einen einfachen natürlichen Punkt aus, auf welchen sich alles
31
ganz ungezwungen
reduzi
rt. und thue keine Machtsprüche, deren
32
sich alle meine Vorgänger schuldig gemacht haben. Es würden
33
Dir alle Haare zu Berge stehen, wenn du es je einst lesen solltest,
34
wie ich da mit Jahrtausenden um mich werfe, als wären es nur
35
Wochen und Monate; aber ohne solchen großen Maasstab läßt
36
sich in diesem Fach unmöglich etwas Vernünftiges und
Solid
es
37
aufbauen. Es wird aber diesem Buche gehen wie dem Deinigen –
S. 569
es wird
in petto
bleiben. Es versteht sich übrigens, daß mir das
2
Bücherschreiben in meiner gräulich langen und harten Krankheit
3
nur aus einer Art von Verzweiflung ankam; und eben daher
4
entspringen auch meine fürchterlich lange Briefe.
5
Ach, da regnet und stürmt es wieder gewaltig, preßt mir Brust
6
und Gedärme zusammen, und erinnert mich wieder an Deine und
7
Mariannens Gesundheit. Ihr guten Leute müßet diesen Winter
8
über vieles gelitten haben. Gott gebe! daß der jetzige Sohn (ein
9
Sohn ists doch wieder?) Euch die Leiden versüße und vergeßen
10
mache. Auch hoffe ich, die Gegenwart des HerzensMannes
11
Haman werde viele Unpäßlichkeit vor deiner Thüre abgewiesen
12
haben. Bey Empfang Deines Briefs hofte ich meine
13
Wiedergenesung so beschleunigen zu können, daß ich bey meiner Ankunft
14
bey Dir, die ich für ganz ausgemacht hielt, ihn noch antreffen,
15
und mich in seiner Gesellschaft noch würde laben können. Siehe
16
doch, wie viel du glücklicher als andere, tausend andere, bist, wie
17
viel Du Dir Seelenschmäuße bereiten kanst, während das andere
18
hungern müssen. Ich bin, in dieser Rüksicht, seit langer Zeit her
19
in einer arabischen Wüste, und nähre mich, wie ein zweyter Elias,
20
meistentheils von dem was mir die Raben, die Postillons,
21
schriftliches und seelenschmausbares mitbringen. Wenn diesem edlen
22
Manne an einem Gruß von einem Unbekanten, der ihn liebt und
23
hochschäzt, etwas gelegen seyn kann, so überbringe ihn. Der Gruß
24
von meinem lieben Kraus hat mich sehr erfreut. Es ist ein lieber
25
herrlicher Mann von seelenvoller Seele,
und sein
ohne alle
26
praetension
und sein warmes liebevolles Herz umfaßt seinen
27
Freund ganz. Er ist nur von sehr wenigen erkannt, und das ist
28
sehr natürlich. Du würdest ihn lieben, sehr lieben, mehr lieben als
29
mich, wenn Du ihn kenntest. Noch hab ich ihm seit 1½ Jahren
30
auf einen heißen Freundschaftsbrief nicht antworten können;
31
bedenke, wie mich dieses martern müße!
32
Ich schrieb diese leztere Seiten unter tausend Herzensangst. Die
33
Frau meines jüngsten Bruders, die auf den May hin ihrem
34
Manne den siebenden Knaben schenken wollte, ist todtkrank an
35
einem Gallenfieber, die
medici
befürchten, das Dasein einer
36
innerlichen
inflamation
. Ich zittere vor jedem, der sich meinem Bette
37
nähert, aus Furcht, es sey ein Todesbote. Was noch schlimmer
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ist; so wird dieser Fall wahrscheinlich den Tod meines armen
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Bruders nach sich ziehen; er ist ganz zerdrükt, und bey nahe schon
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so krank als sie. So gefaßt er sonsten auch ist, so hält es eben
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einem durch langwierige Krankheiten zermalmten Körper schwer,
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solche Stöße auszuhalten. Dies bedenken gesunde Tröster nicht;
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sie fordern eine gleiche Faßung als sie freylich bey ihrer
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Gesundheit haben können und doch nur sehr selten haben. Siehe, so viel
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fremdes Leiden muß ich auf meinem Krankenbette noch zu meiner
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eigenen ungeheuren Qual ausstehen. Wie mancher Lieber starb
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mir schon weg, während daß ich liege; und – weh, es ist zuviel! –
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Liebster Franz, es ist zu viel! Gott wolle doch diesem Jammer
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abwenden, er würde meine ganze Familie zermalmen! Ich wollte
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ja gerne das Versühn-Opfer für alle seyn, warum soll ich denn
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bey all meinem Leiden die ganze Familie leiden sehen?
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Heute den 1. März. Die gute Schwägerinn lebt noch, und läßt
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wieder hoffen. Die Nacht war ziemlich erträglich.
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Hast wohl Recht, liebster Mann! das eine Bibel von Dir mehr
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werth für mich hat; sie macht mir viele Freude, und liegt, seit
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ich sie habe, neben meinem Bette. Wenn mir nur auch
gegeben
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wäre, dieses Buch mit deinem Geiste, mit deinem Gefühl zu lesen.
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Kanst Du zu Dir selbst sagen: morgen um 10. Uhr will ich mein
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Herz zu Gott erheben, und mich in seinem Wort erbauen? kanst
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Du Dir Andacht erzwingen? Muß sie Dir nicht
gegeben
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werden? Ich habe vom heiligen Bernhard gelesen, daß er einst etliche
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siebenzig Vaterunser nacheinander gebetet, bis es ihm endlich
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geglükt seye, das leztere mit voller Andacht zu beten. Er hatte
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kurz vorher ein Pferd zum Geschenk bekommen; da kam ihm
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immer bey den vorhergehenden Vaterunsern die Sorge in die
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Queere: woher er nun einen Sattel hernehmen solle? Wenns wahr
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ist, (woran ich doch, weils ohnehin kein GlaubensArtikel ist, noch
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gerne zweifeln mögte) daß dieser,
seiner Zeit
wirklich große
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Mann sich Andacht selbst
erzwingen
konnte, so war es in
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der That viel, sehr viel –; indeßen, wenn ihm die Sorge für einen
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Sattel schon so viele Hinderniße machten, so ist es mir doch auch
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nicht zu verdenken, wenn ich bey for
t
dauernder
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ununterbrochener Qual über Mangel an Andacht klage: denn die Sorgen für
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einen neuen Sattel und Leiden, die die Seele zerreißen, stehen in
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keinem Verhältnis. Es soll dieses keine Apologie für mich seyn;
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mein Zweck hiebey ist vorzüglich dieser Du must aber hiebey vieles
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interpoliren,
sonst findest Du den Faden meiner Ideen nicht
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heraus, daß man sich ja hüten solle, einen andern nach sich zu
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beurtheilen, sich zum Maasstab eines andern zu nehmen. Wenn man
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einen andern richtig ausmeß’en will, muß der Maasstab dazu
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aus dem
individuo
selbst das gemessen werden soll,
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hergenommen werden, sonst mißt man schief. Eine schwer zu erlernende
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Wißenschaft, ob sie gleich, wie die Arzneykunde fast von
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jedermann ausgeübt wird! Kennst Du einen Menschen, der sie versteht,
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so nenne ihn. Es gibt zwar einige wenige, die es weit darin
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gebracht haben; niemand aber übt sie unfehlbar aus, als der
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Allwißende. Ich weiß nicht, ob dieser Artikel in
Montesquieu’s
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Esprit des Loys
oder in unsers Freundes
Lamezan’s
Skizze über
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Gesetzgebung, vorkommt, denn ich habe beyde leider! noch nicht
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gelesen; aber ich glaube, er gehörte wenigstens dahin.
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Die schönen redenden
Silhouett
en haben eine lebhafte
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Sensation
in meiner Familie gemacht. Meine Schwester gieng dabey
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leer aus, denn das Männervolk grif vor; um auch sie zu
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befriedigen, sorgte ich, so geschwind ich konte, für eine
kopie
. Die von
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Palmi
schen, denen deine Grüße getreulich und warm
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ausgerichtet wurden, waren eifersüchtig in Rüksicht meines Vorzugs wegen
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früher erhaltener Schattenriße. Mögen sie’s doch, dachte ich,
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Franz ist mein früherer Freund als der ihrige. Indeßen, weil ich,
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wie Du weißt, bey all meinem Toben ganz ausnehmend gutherzig
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bin, so verfertigte für sie einige Schattenriße nach meiner
façon,
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womit sie sich einsweilen trösten können, bis Deine versprochene
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ankommen. Ich lege Dir von jenen einige zum Beweise bey, wie
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jämmerlich es manchmal in meiner Seele müße ausgesehen haben.
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Siehe! diese elende Beschäftigung, die mir blos durch die
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Neuheit, vorzügl. aber durch die bearbeitete Gegenstände angenehm
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ward, milderte mir manche schwarze Momente, in welchen ich zu
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allem unfähig war, und vielleicht ein Raub meines Unmuths
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geworden wäre. Laß es aus diesem Grunde für eine Erfindung
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gelten, die jezt schon ihren wesentlichen Nutzen hatte, und keines
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andern bedarf, und nimm diese Blätter für ein Frühlingsgeschenk
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an, es ist das einzige, was ich Dir zu geben weiß. Gesezt, sie
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gefielen Dir und Du wünschtest noch mehrere zu haben, so sag mir’s
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nur; sie sind zwar etwas mühsam zu machen, aber für Dich ist
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alle Arbeit Wollust. Vielleicht hast Du einige Freunde und
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Freundinnen, deren Schattenriße dir auf diese Art werth wären. In
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diesem Fall müßte ich mir die
Silhouett
en gut ausgeschnitten
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ausbitten und zwar von jedem Gegenstand und von jeder Größe
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etliche. Es laßen sich zwar auf größere Blätter, als
Platanus,
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Ahorn, Eichen p noch größere Figuren anbringen, doch hält es
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alsdenn wegen den stärkeren Rippen der Blätter mit der
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Umkränzung schwerer. Dagegen aber läßt sich bey größern Figuren
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die Aehnlichkeit weit leichter erreichen, als bey kleineren, weil sich
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bey dieser Arbeit weder die Schärfe des Pinsels noch der Schere
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anwenden und erwarten läßt, und ohnehin ist oft unter mehreren
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Blättern kaum eines tauglich. Schade, daß die Farbe nicht gut
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hält; mich dünkt die schwarzen nahmen sich am besten aus: der
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alte Kopf ist der Herr
von Haller
in seinen lezten Jahren. Der
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jüngere umkränzte ist mein Freund Kraus; die beyden andern sind
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Ideen. Unter den kleinern Köpfen sollen ein paar unsern lieben
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Lamezan
vorstellen, aber gleicht nicht sonderlich, ich habe
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keine gute
Silhouett
e. Die Buchstaben bedeuten
Franz
und
Marianne
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Haman
und
Bucholz
sind aber nicht gut geworden.
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Aber gelt ich soll endlich aufhören? 16. dick voll geschriebene
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Seiten werden dich abgeschrecken mir so bald wieder zu antworten.
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Das sollen sie aber nicht; denn eben daraus siehst du die
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Nothwendigkeit, mich so schleunig als möglich zu heilen. Überzeuge mich
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doch daß Gott meine Martern wisse und
wolle
, und Du nimmst
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mir die Hälfte meiner Qualen. Dann, vielleicht alsdann käme ich
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wieder in die Gemeinschaft mit Gott, in welcher zu seyn ich
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ehedem mich fühlte, aus der durch die ungeheure Kette von Martern
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daraus verdrängt und weggeschleppt worden bin. O, thue es doch,
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wenn Du kannst
, und bitte Vater
Haman
um Unterstützung
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dabey. (aber siehe nicht nur auf dem Umriß, sondern auch in den
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Abgrund meiner Qualen) damit ich mein verhaßtes motto
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umändern und dafür ausrufen kann:
mein Daseyn ist Liebe,
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mein Leben fortdauernder Genuß.
Wenigstens gelte doch
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dieses für Dich, liebster Franz und für Mariannen, die ich so wie
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Dich tausendmal umarme. Dies thut auch meine ganze Familie,
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ein jegliches nach seiner Art. Leb wohl, liebster Franz, lebt wohl,
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liebste Leute! Euer ewiger Freund, Steudel. Abgeschikt den
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4. März, und zwar unversiegelt an unsern Freund
Lamezan,
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weil’s auch zugleich Antwort auf seine Briefe. Siehe doch, wie
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erfinderisch ich seyn muß, um in jetziger Lage nur einigermaßen
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meiner Correspondenten-Pflicht zu genügen. Meine Schwägerinn
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lebt noch samt dem Kinde unter ihrem Herzen. Gottlob! das
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ärgste ist vorüber, und wir hoffen alles.
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 66.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 410–421.
ZH VII 456–461, Nr. 1154.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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459/22 |
Mr. |
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: Mr. |
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460/23 |
Wunderstern ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Wunderstein |
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460/24 |
facti |
Geändert nach der Handschrift; ZH: facti. |
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556/31 |
Umriß, ]
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Geändert nach dem Negativ in Münster; ZH: Umriß |
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557/5 |
der |
Geändert nach dem Negativ in Münster; ZH: der |
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557/7 |
/ ]
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Geändert nach dem Negativ in Münster: Absatzwechsel. |