1164
484/14
Vermerk von Jacobi:

15
Hamann.
Münster den 22
ten
May 88.

16
empf den 26
ten
  beantw den 27
ten

17
M. den 22 May
88.

18
Gestern Abend kam unsere holde Fürstin mit einem Dutzend Zahnstocher

19
und einem
Etwas
in der Tasche, das ich errathen sollte. Kurz es war von

20
der Elise. Wir fielen darüber her, und lasen beyde wie Du die Zueignung an

21
den verehrungswürdigen
Charon
Bode von dem sie jeden Schritt ihres

22
litterarischen Lebens gebilligt zu sehen wünschte – den mit Deductionen und

23
Urkunden oder Belägen schwer beladenen Vorbericht des Herrn Verlegers

24
und fanden gleich im Eingange des
Etwas
einen reichen Stoff zur Kritik.

25
Es gieng zum Abendbrodt. Frantz bat mich, daß ich meiner schone und nicht

26
die Nacht mir verderben. Ich versprach und hielt Wort, machte diesen

27
Morgen im Bette einen zweiten Versuch
ab ouo
anzufangen und das gelesene zu

28
widerholen, mit nüchternem wachenden Auge das Ganze im Zusammenhange

29
anzusehen. Ich sahe eben daßelbige was der Freund St. darinn gesehen hatte

30
den Held und die Muse in ihrer Blöße und Lebensgröße. Da ich beyde

31
persönlich kenne und genauer kenne als mich, mittelbar und unmittelbar: so

32
kanst Du mir zutrauen, daß in dem
Etwas
so viel Wahrheit liegt als in der

33
Caricatur des medicinischen Politikers und Hypochondrischen Enthusiasten.

34
Mit Deiner Behandlung einer Schwester im Apoll ist keiner zufrieden. Man

35
muß Kunst nicht Scharfrichter seyn – die Verhältniße der Natur im

S. 485
Geschlecht und Stande niemals aus dem Gesichte verlieren und – da alles was

2
ins Ohr gesagt wird auf den Dächern des Publici und den Zinnen der heil.

3
Litteratur Gefahr läuft ausposaunt zu werden und der jüngste Tag anfängt

4
von den neuen Kirchenlehrern
anticipi
rt zu werden, mit Furcht und Zittern

5
seinen litterarischen Wandel
anzustellen
suchen, und sich immer erinnern

6
durch Zufälle die keine menschl. Klugheit voraussehen kann, zur

7
Verantwortung und Rechenschaft gezogen werden zu können. Stark hat weder den

8
Dialect
noch den Geist der wahren Kritik, die gleich der
ανωθεν σοφια,
sagt

9
Dein apostolischer Namensvetter in seinem Hirtenbriefe
Cap
3. zuerst – die

10
Vulgata
ist jetzt meine Lieblingsübersetzung
pudica,
sich mit keinen
Catins

11
einläßt,
deinde pacifica, modesta, suadibilis, bonis consentiens (Trosve

12
Rutulusve fuat) plena misericordia et fructibus bonis,
αδιακριτος και

13
ανυποκριτος.
Der Renomist unser Freund in Carlsruhe hat mehr Recht zur

14
Nothwehr oder Selbsterklärung und Vertheidigung als irgend jemand von

15
den Antiberlinern. Also
suum cuique,
m
ne mittas in alienam messem

16
falcem tuam.
Das
Etwas
ist immer mehr wie nichts, aber so wichtig ist

17
es in meinen Augen nicht, wie es dem lieben Grafen vorkommt, daß die

18
Layen zu einem Kreutzzuge gegen die
Moslems
aufgeboten werden müsten.

19
Der kluge Märtyrer Nicolai erwartet ruhig bis sich der Nebel nach und nach

20
wird gelegt haben, durch welchen der reine Strahl der
Warheit
aus dem

21
geläuterten
Protestantismus
jetzt hin und wider noch nicht durchdringen kann.

22
s
Sic repente
träumt sich ein schnaubender Märterer zu einem eben so

23
eifrigen Blutzeugen; und
so empfindlich ist der Staub den Augen, an dem unsere

24
eigene muthwillige Füße und Maasreguln schuld haben.
Sapienti sat.
Hier

25
will ich aufhören, und wenn noch etwas vorfallen sollte, es übermorgen

26
hinzufügen.


27
den 23 –

28
Ich kam gestern später, wie ich wollte, doch früher als die andern zu

29
unserer Holden, die mit der Elise Buch beschäftigt war und eben so voll von

30
Unwillen über ihr Geschwätz als ich mit der Absicht diese Blätter in Schutz

31
zu nehmen. Ach liebster Jonathan! wie wenig wir von Wahrheit zu errathen

32
im stande seyn, wenn es nicht
Kinder
u
Narren
auf der Welt gebe,

33
die ohne es zu wißen sich selbst verrathen, unterdeßen die Weisen in ihrem

34
Harnisch
oder
Deckmantel
der
Klugheit
die
Feigen und

35
leichtgläubigen und ehrlichen Leute, die alles nach den Worten nehmen und wie ein

36
Evangelium in sich schlucken, überlisten oder zum besten haben. Ohne mich

37
an den Menschlichkeiten eines Schwärmers oder Schwärmerin zu stoßen und

S. 486
zu ärgern, nehm ich ihre Schwachheiten als einen von ihnen selbst gegebnen

2
Maasstab an, ihre Worte und Handlungen
cum grano salis
zu verstehen,

3
und ihre Blindheit ist mir nützlicher als die schönste Aufklärung der so

4
genannten
beaux-esprits
und
esprits forts,
die bey aller ihrer moralischen

5
Engelgestalt, in meinen Augen Lügenapostel sind.

6
Gestern habe ich den
Gagliani della Moneta
wider angefangen, den ich

7
ohne Dollmetscher u Gebrauch
der
Wörterbuchs aus Mangel der Zeit

8
durchgepeitscht habe, und bin entschloßen ihn zum
zweiten
mal beßer zu

9
brauchen, wenn ich auch andere Arbeiten darüber aufgeben solte.
Es ist mir mehr

10
daran gelegen den Gang mancher blendender Irrthümer, ihre
Genesin
und

11
apocalypsin
zu
kennen;
weil ihr Ursprung und ihre Wurzel mehrentheils

12
in
Wahrheiten
liegt, die man nicht
recht verstanden
oder
falsch

13
angewandt
hat. Worinn liegt dieser Misbrauch? Das ist ein Problem

14
von Wichtigkeit für mich. Die Ketzergeschichte ist der wichtigste Theil

15
pragmatischer Kirchenhistorie, wie das
Böse eine Haupttriebfeder der
besten

16
Welt
. Nicht Dornen u Disteln auszurotten – das überlaß ich gern den

17
bewaffneten Händen der Elise, sondern meine Muse braucht ihre schwache

18
Augen, Sinnen und Verstand, die natürl. Geschichte des Unkrauts zu beobachten

19
– und dasjenige was andere verwerfen, ohne sich die Mühe und Zeit zu

20
nehmen, zu untersuchen, nicht nach Erscheinungen und Zeichen, sondern nach

21
andern Verhältnißen der Natur und Kunst zu beurtheilen, ohne Einbildung

22
und Leidenschaft. Daher meine so paradox scheinende Urtheile über so viele

23
Bücher z. E. des güldenen Hahns. Ich verstand von dem Kornhandel sehr

24
wenig und die Materie gieng mich noch weniger an; aber die Form war

25
hinreißend. Voltaire und der deutsche Mercur urtheilten wie das Publicum und

26
jeder
Laye
.
Was
Morellet
bewiesen hat, ahndete mir, und wünschte es zu

27
erleben.
Die Sache gieng mich nichts an, aber die
Methode
desto mehr, weil

28
sie der Weg aller Hypothese ist
, zu denen immer mehr Kraft gehört als zum

29
orthodoxen Nachbeten und heterodoxen Widerspruch. Wie rein, bescheiden

30
und beynahe göttlich philosophirte
Gagliani
als ein junger Mensch in seinem

31
Vaterlande – und wie
petit-maitre
und Virtuosenmäßig ist dieser fruchtbare

32
Kopf im gallicanischen Babel
ausgeartet
und verwildert. Wäre ein anderer

33
Boden ohne so vortrefliche Anlagen dazu fähig gewesen? ohne ausstechende

34
Gaben, ohne gemisbrauchtes Nachdenken wäre dies nicht möglich gewesen –

35
und ohne Philosophie kann man kein Sophist werden. Siehe doch durch Dohms

36
Schwiegervater den Uebersetzer der
Gagliani
schen Dialogen zu erfahren
.

37
Er machte sich auch anheischig dies Werk zu übersetzen, das es eben so

S. 487
verdient als das parisische Product.
Wen
Du einmal die Anekdoten des
Espion

2
devalisé
von diesem
monstro
lesen wirst, so kannst Du beßer vielleicht den

3
Zusammenhang meiner Gesinnungen beßer einsehen über diesen
Zwerg

4
und Riesen
– denn er ist zu beiden von der Mutter Natur bestimmt,

5
deren Ausnahmen eben so sehr unsere Aufmerksamkeit verdienen als ihre

6
Regeln und Muster.
Auch in ihren Launen liegt
Weisheit
und
Kraft
,

7
die uns nicht verächtlich sondern lehrreich seyn muß.
Lust
u
Liebe

8
überwindt den sinnlichen Eckel der Vernunft und Nasenweisheit – des Geschmacks

9
und Geruch, die nicht
iudices competentes
für den Geist sind.


10
den 24 –

11
Eben erhalte Deinen Brief und freue mich mit der
Beyl
. wenigstens Franz

12
einen Gefallen thun zu können, der sie gern lesen wollte. Ich brütete eben

13
über
Condillacs
Theorie der Systeme und konnte nicht eher Halt! machen

14
als beym
X
Kap. über den
Spinozisme,
wo ich meine Gedanken ein wenig

15
anstrengen will. Ich bin mit seinem engl. Geschmack sehr zufrieden und

16
empfehle Dir diesen Autor,
der
facta
zu seinem Text und Grundlage macht,

17
und
facta
beruhen auf
Glauben
; dieser ist
actio
– und kein abstractes

18
Kunstwort, kein Zankapfel. Ich kenne
mich selbst
nicht, geschweige
Dich
,

19
mein Herzens lieber Fritz Jonathan. Gedult ist das
θειον
der Freundschaft,

20
und Menschen oder Nächstenliebe. Bisweilen wünschte ich Dir meinen

21
Briefwechsel vereckeln zu können, und sehe
schlechte
Federn und Materialien

22
als Mittel der Vorsehung an; weil mir mehr an dem, was Dir nützlich ist,

23
als meinem sinnl. Genuß Deiner Liebe und Güte gelegen ist, die dem Geber

24
und Nehmer nachtheilig seyn kann und beyde bisweilen verwöhnt.
Ich weiß

25
nicht mehr welches
Rescript
des nordischen Salomo zu der Stelle im

26
Schiblemini Anlaß gegeben. Die Worte
und Beystand
sind in meinem

27
Exemplar ausgestrichen.
Das
par la Grace de Dieu
ist zwar auf den Münzen

28
aber nicht in den
Edicten
ausgelaßen.
Je mehr meine Augen abnehmen,

29
desto kleiner wird meine Handschrift, und ich werde kaum im stande seyn

30
das
Corpus delicti
herzustellen. Habe ich Dich nicht
praeveni
rt, daß an

31
allen Stellen
nichts gelegen ist, die Dir Mühe kosten. Es ist mir lieb daß

32
St. sich seines Beichtkindes erinnert nach 11 Jahren. Aber ich fürchte mich

33
vor seinem
lustigen Glimpf
und seinem
Dialog.
Ein witziger
φφ
e

34
nennt die Satyre
les armes de la mauvaise cause.
Weh ihm wenn er in der

35
Kunst zu lügen die Muse und
nicolaiti
sche
Pythia
aussticht! Gestern

36
speiste die Holde Mittag mit uns und reiset heute ab; ich wills Gott, morgen

37
nach
Ihrem
Tabernakel oder Zelt.
Dii Deaeque me perdant,
sagte jener

S. 488
Kunstrichter, wenn ich weiß was ich geschrieben habe um Abbitte in Deßau

2
nothig zu haben oder Beyfall in Neuburg zu erwarten. Alles was ich mit

3
dem Ende dieses Monats erhalten, bringe am
liebsten
selbst mit ohne

4
ausdrückl. Vorschrift des Gegentheils.

5
Ich habe das neue Trauerspiel, Göthens Egmont, durchblättern müßen

6
und bin nicht im stande Deinen Brief zu beantworten noch zu schreiben.

7
Vielleicht wird es künftigen Monath mündlich beßer gehen. Ich muß noch in der

8
nächsten Woche alles bestreiten was möglich ist, um den Driburger trinken zu

9
können. Tausend Grüße und Küße von uns allen an Mama,
Tante,
fromme

10
Kinder, getreue Nachbarn und alles was zum tägl. Brodte in Pempelfort

11
gehört. Lebe wohl bis zum Widersehen, lieber Jonathan! Dein eben so

12
treuer als

13
weicher Joh. Ge.


14
Adresse:

15
An / Herrn Geheimen Rath
Jacobi
/
zu
/ Düßeldorf.

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 424–428.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 665–669.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 7: November 1787 bis Juni 1788. Hg. von Jürgen Weyenschops, unter Mitarbeit von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2012, 233–236.

ZH VII 484–488, Nr. 1164.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
484/17
88.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
88
485/20
Warheit
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Wahrheit
485/23
–24
so […] haben.]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
485/32
u
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
und
485/34
die
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
die die
486/9
–15
Es […] das]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
486/11
kennen;
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
kennen,
486/15
–487/9
Böse […] sind.]
Die Passage ist in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert.
486/26
Laye
.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Laye.
486/27
Methode
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Methode
486/27
–28
Die […] ist]
In der Handschrift zusätzlich von Jacobi unterstrichen.
486/32
ausgeartet
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ausgartet

Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1979):
lies:
ausg
e
artet
487/1
Wen
]
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1979):
lies:
Wen
n
487/5
–6
deren […] Muster.]
In der Handschrift zusätzlich von Jacobi unterstrichen.
487/7
–9
Lust […] sind.]
In der Handschrift zusätzlich von Jacobi unterstrichen.
487/16
–24
der […] verwöhnt.]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
487/21
schlechte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
schlechterdings
487/27
–28
Das […] ausgelaßen.]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
487/35
nicolaiti
sche
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
die
nicolaiti
sche
487/37
Ihrem
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
ihrem
488/15
An […] Düßeldorf.]
Hinzugefügt nach der Handschrift.