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Meine Verehrungswürdige Freundin und Gevatterin,
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Schon vor Empfang Ihres umständlichen Berichts in einer so unangenehmen
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Angelegenheit, hab ich es an einer Vermittelung von meiner Seite nicht fehlen
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laßen, auch nachher, alles was ich gekonnt, angewandt um die Verbitterung
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zwischen beyden alten Freunden zu mildern und zu besänftigen. Bey einer
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verjährten Vertraulichkeit sollte es niemals zu einem solchen Misverständniße
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kommen. Da ich in einer ähnlichen Lage bin und dem selben Mann viele
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Verbindlichkeiten zu verdanken habe: so ist freylich auch der ganze Vorfall für mich
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eine Warnung gewesen. Ich habe mich durch meine Freymüthigkeit der
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unangenehmen Nachfolge eines ähnlichen Schicksals ausgesetzt – und es thäte mir
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wehe einen Vertrauten meiner jüngern Jahren zum Feinde zu haben, um so
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mehr, da ich in der ganzen Sache nicht unparteyisch gnug seyn kann, und sie mir
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wie ein alte
s
r Schaden vorkommt, der lange unter sich gefreßen, ehe er
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aufgebrochen ist.
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In der Freundschaft, wie in der Ehe, liegt die Schuld mehrentheils an beyden
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Theilen. Wenn jeder seinen Fehler erkennte, würde jeder des andern Last leichter
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ertragen, und
sein
das Kreutz auf sich nehmen, das im Handel und Wandel
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unvermeidlich ist. Helfen Sie mir nur, meine Verehrungswürdige Freundin und
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Gevatterin, unsern lieben Autor zur Grosmuth und Gedult in guten Werken
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aufzumuntern: so hoff ich, daß es mir auch noch gelingen soll, den
kränklichen
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alten Verleger zur Billigkeit und Bescheidenheit
eines
fröhlichen Gebers zu
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überreden, und seine gute Laune widerherzustellen – worinn er sich bisher gegen
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mich erhalten.
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O wir Kleingläubigen, die nur immer auf Menschen sehen, und bey Menschen
17
stehen
k
bleiben,
o
ft
hne
sie und uns selbst zu kennen, und ohne zu bedenken, daß
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Gott alles zu ersetzen im stande – was uns Menschen entziehen, und ihr guter
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Wille ohne Seines Seegens Einfluß, ein todtes und leeres Werkzeug ist, ja
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öfters eine Hindernis unsers Glück wird.
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Durch ein wahres Wunder göttlicher Vorsehung und Barmherzigkeit ist
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meinem Hause Heil widerfahren, ohne daß ich noch bis diese Stunde recht weiß
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wie mir geschehen.
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Alle meine Einkünfte waren so beschaffen, daß ich meine Ausgaben mit dem
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Wachstum meiner 4 Kinder einschränken muste. Gegen das Ende 82 verlor ich
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das einzige
Emolument,
als die Hälfte meines Gehalts, das den holländschen
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Namen
Fooi
gelder hat, welches so viel als Trinkgeld bedeutet u in einer Abgabe
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der Schiffer besteht, welche alle halbe Jahr gegen Weynachten u gegen Johannis
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vertheilt wurde. Weil mir das Meßer an die Kehle gesetzt wurde; so wollte die
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Sache aufs höchste treiben. Machte mein Testament u setzte die Mutter meiner
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Kinder zur Erbin, damit sie wenigstens auf ihre alte Tage nicht betteln gehen
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dörfte.
Meine
Maasreguln die allgemeine Sache zu treiben wurden verworfen,
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und ich machte mir alle meine Amtsbrüder zu Feinden, und mich ihnen zum
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Gelächter. Ich ließ sie ihren Weg gehen, und gieng den meinigen. Den 1
Jan.
83
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schrieb ich ins Cabinet, ohne den geringsten Eindruck gemacht zu haben,
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unterdeßen ich auf alles gefaßt war. Denselben Montag schickte ein alter Freund aus
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Curland seinen Sohn bey mir in
Pension
auf ¾
Jahr
und das dabey
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gewonnene Geld gieng eben zu Ende, ohne daß ich eine andere Ausflucht zu finden
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im stande war für die Zukunft. Zu einer
Gratification
war uns Hofnung
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gemacht, die aber Monathe lang verzog.
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Mein Sohn lebt auf dem Lande, sollte aber Ostern seine akademische Stunden
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antreten, für die ich keinen Thaler auszumitteln wuste. An meine älteste Tochter
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hatte
1
rthl monathlich zum ital. unterdeßen gewandt und 1 zum Unterricht
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im Nähen. Diese 2 rthl sollten auch mit dem Ende des Jahrs eingezogen werden.
8
In meiner Diät war nichts zu
reduci
ren als Bier, das ich des Abends trinke,
9
Caffé
und Toback, den ich unmäßiger schnupfe als rauche. Lust u Muth
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vergieng mir zu leben, wenn ich an meine Lage dachte, die mir wie eine öde, leere
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Wüste vorkam bey dem am
Genuß
leider! verwöhnten Geschmack.
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Da kam mir den 15
Xbr.
ein Brief, wie ein Friedensbote vom Himmel des
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Nachts erscheint – mit einer
Assignation
an die hiesige Bank, welche jedes von
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meinen Kindern zu gleichen Theilen
bedenkt
15
Den 27
Xbr
kam mein Sohn vom Lande und die beynahe schon verloren
16
gegebne
Gratification
von Berlin an. Den 28 erbarmte sich eine gute Freundinn
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meine älteste Tochter in ihre Akademie aufzunehmen. Ein Glück das ich mir
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immer gewünscht, aber niemals zu erleben gehofft hatte. Ich hoffe daß ein Jahr
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hinreichen wird dies versäumte Mädchen in eine Art von Gleis zu bringen, auf
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dem sie sich mit Gottes Hülfe wird selbst weiter forthelfen können. Sie ist die
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9te von auserlesenen adlichen und bürgerl. Mädchen, durch deren Umgang und
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Freundschaft allein meine Tochter gebildet werden kann.
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Sie können leicht denken, wie erleichtert mein Gemüth ist und daß ich wie
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neugebohren bin, da mich immer die
T
traurige Nothwendigkeit niederdrückte,
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entweder Schulden zu machen – oder den Nothpfenning meiner nach meinem
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Tod verlaßnen Hausmutter anzugreifen.
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Ich habe jetzt keine andere Sorgen, als das mir anvertraute Unterpfand der
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Vorsehung und unbekannter Freundschaft treu, gewißenhaft und klug zu
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verwalten. Die Zinsen der
unaussprechlichen Gabe
sind für die Erziehung
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meiner Kinder hinreichend. Das
Eigenthum
des Capitals soll von dem
Willen
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des Gebers und der
Dankbarkeit
meiner Kinder und ihrer Aufführung
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abhängen.
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Mein Sohn hat schon vieles zum voraus genoßen an fremden Wohlthaten.
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Die Reyhe komt jetzt an seine älteste Schwester.
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Mit meiner mittelsten Tochter habe auch den 17 Jänner einen glückl. Anfang
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im französischen gemacht, von den Buchstaben an haben wir heute die 25ste
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Erzählung im
Pepliers
zur Leseübung durchgegangen – und mit der Lust zu
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leben nimmt auch die Lust zu arbeiten zu, und der Muth mehr zu unternehmen –
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vielleicht selbst eine so lang erwünschte Reise und Ausflucht zu meiner
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Erholung nach einer beynahe 20jährigen
Quarantaine
in Feßeln u Banden des
4
Kummers.
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Auf daß die überschwengliche Gnade, durch vieler Danksagen,
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Gott reichlich preise
, hat die geheime Geschichte,
ohngeachtet des mir
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aufgelegten Stillschweigens
, hier ruchtbar werden müßen. Es gab
viele
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arme Wittwen zu Elias Zeiten, nur
Eine
in Sarepta – und
viele
Außezige,
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nur der Eine Syrer Naeman wurde durch ein Wunder erhalten, andern zum
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Beyspiel, und zur Nachfolge des Glaubens und Vertrauens auf Göttliche
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Hülfe in der Noth.
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Ich weiß, daß Sie, meine Verehrungswürdige Freundinn und Gevatterin in
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und mit Ihrem Hause auch in der Stille sich freuen, Gott danken und von Ihm
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erwarten werden, was zum wahren Frommen dient.
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Wie
nah bin ich
Ihnen seitdem, ohngeachtet meines Stillschweigens,
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gewesen, wie vollkommen wird meine Freude seyn, (wenn es vollkommene
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Freuden für unsere Erden giebt, so sind sie wie die vollkommenste Weisheit
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eines Salomo,
erhörte
und
erfüllte Träume
) – meinen kleinen
Maler
und
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lieben Pathen und seine Brüder und die Einzige Ihrer Mutter, und meinen
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alten bewährten Landsmann und Dechanten aller ausländischen
Freunde,
die
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mir Gott gegeben hat, zu schauen, zu erkennen und zu finden und diese Freude
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seinen nächsten Nachbarn mitzutheilen. Gott schenke uns allen dazu Leben und
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Gesundheit – und Sein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel! denn Seine
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Gnade ist beßer denn Leben.
Den 7 Februar 85.
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Johann Georg Hamann.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 272–273.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 208–212.
ZH V 353–356, Nr. 807.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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354/13 |
eines ]
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In der Handschrift Wortverdopplung am Zeilenfall: eines | eines |
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354/17 |
o ft hne ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: ohne |
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354/32 |
Meine ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Mein |
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355/6 |
1 ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: 1 |
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355/14 |
bedenkt ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bedenkt. |
|
355/16 |
gegebne ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: gegebene |
|
356/20 |
Freunde, ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Freunde |