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den 11 Febr. 85.

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HöchstzuEhrender Freund,

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Ohngeachtet die
tormenta
Ihrer letzten Zuschrift nicht anzusehen sind; will

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ich doch gern wie Sie, mit schlechteren Briefen für lieb nehmen, lieber ohne

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Kopfschmerzen als mit Talenten leben. Ich hoffe und wünsche, daß Ihre

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Gesundheit wider hergestellt seyn wird. Wenn das Fasten mir nicht zu sauer würde,

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möchte ich selbiges der
Ipecacuanha
vorziehen. Mir fallen alle Erleichterungen

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von oben sehr schwer, und ich traue den weithergeholten Mitteln nicht viel,

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wegen der unvermeidlichen Verfälschungen.

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Von unserm Reichardt habe gestern die Nachricht erhalten, daß er nach

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London geht mit vieler Eilfertigkeit. Er bittet mir um einige Empfehlungsschreiben

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von hiesigen Freunden. Zwey habe heute erhalten und erwarte noch einige oder

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keine von dem Hause, das er mir eigentlich angewiesen. Claudius soll eine

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Pension vom dänischen Hofe erhalten haben; er selbst hat ihm in 3 Briefen

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nichts davon gemeldt. Ich zweifele daher auch noch dran.

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Vorgestern ist auf der Stelle an einem Stichfluß unser akademische Kanzler

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Crim.rath Jester gestorben – wie man sagt in traurigen Umständen für seine

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Familie.

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Heute habe eine andere Uebersetzung von
Coleri
Leben des Spinoza erhalten,

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vor welcher eine Predigt über die Wahrheit der Auferstehung J. C. steht. Sie ist

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in eben dem
ein Jahr später zu Lemgo bey Meyer 734 herausgekommen. Der

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Uebersetzer nennt sich
Wigand Käster
hat das holl. Original mit der

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französischen Uebersetzung verglichen, mehr Anmerkungen zur Predigt als zum

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Leben gemacht. Er rügt 2 Fehler seines Vorgängers, der 2 Prediger an der

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deutschen SavoyKirche in London für Minister des Savoyischen Hofes

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gehalten.

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Die 2 Theile bestehen im
Tractatu Theologico-politico,
(von dem ich eine

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besondere Ausgabe erhalten, deren Titel ich noch gar nicht angeführt gefunden

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habe) – und in
Opp. posthumis
– Hätte ich die beyden Bücher
aus der

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Rathsbibl
. so würden Sie näher Recht dazu haben als ich. Ich vermuthe aber, daß

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Pr. Kant die
Opp. posthuma,
in denen die
Ethica
den Anfang macht, haben

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und sie gern leyhen wird.

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Also hoffe ich Ihnen dienen zu können, ohne die Bedingung, welche in

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meinen Augen zu bedenklich ist, brechen zu dürfen in Ansehung der beyden mir

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unter der Hand und ohne förmliche Erlaubnis anvertrauten Bücher zu meinem

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einzelnen nothdürftigen Gebrauch. Wenn jemand mir zu Gefallen eine

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Ausnahme von
Gesetzen
macht: so bin ich doppelt besorgt für ihn und für mich –

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und such es mir selbst zu verheelen.

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Die beyden spanischen Bücher habe Montags erhalten, und sag Ihnen für

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Ihre freundschaftl. Vorsorge mein spanisches Fach zu vermehren den

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herzlichsten Dank. Des Cervantes Erzählungen habe mir längst gewünscht – aber

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es geht mir wie dem Geitzigen, dem mehr am Haben als Gebrauchen gelegen ist.

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Vielleicht schenkt mir Gott einen jungen Freund, wie mein
Hill
war, oder

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bringt ihn bald wider zurück, wenn er noch lebt; denn sein Stillschweigen macht

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mich von Tag zu Tag unruhiger.

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Ich denke, die Fürstin wird an den 21 Heften gnug haben. Nicht für Sie

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sondern einen
mir viel nähern Freund
muß ich mein eigenes letztes Exemplar

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der
Hirtenbriefe
abtreten und beruhige mich deshalb mit Ihrer geneigten

2
Anerbietung – zum behuf der neuen Ausgabe.

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Ich habe wirklich schon mehr wie Einmal daran gedacht – auch an Herz hätte

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es mir nicht gefehlt Sie darum anzusprechen. Ich habe aber immer geglaubt,

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daß die Scheidewand unsers
Geschmacks
zu groß wäre. Nicht nur Persius

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sondern auch Petron sind meine erste Lieblingsautoren gewesen. – Ich habe

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sehr spät den
Horatz
lesen gelernt, und ich habe ihn Jahre lang in einem Zuge,

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ohne seiner müde werden zu können, Tag für Tag widerholt. Ohngeachtet ich

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alle 3 ausgeschwitzt: so haben sie doch in meine
schedia Lucilianae humilitatis

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vielen Einfluß gehabt und mich auf die
effectus artis seuerae
und die

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Handhabung
atrocis styli
aufmerksam gemacht.

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Es ist für mich wirklich eine herculische Arbeit gewesen, was ich von 59 –

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bis
83 geschrieben durchzugehen, weil sich alles auf die wirkliche Lagen meines

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Lebens bezieht, auf Augenblicke, falsche, schiefe, verwelkte Eindrücke, die ich

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mir nicht zu erneuern im stande bin. Ich versteh mich selbst nicht mehr, gantz

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anders wie damals, manches beßer, manches schlechter. Was man nicht

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versteht, läßt man lieber ungelesen – und sollte auch
ungeschrieben
geblieben

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seyn – und noch weniger
wider aufgelegt
werden.

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Dennoch wünschten die damaligen Hohenpriester der neusten Litteratur eine

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neue Auflage der sokratischen Denkw. die ich geschrieben hatte ohne andere

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Qvellen als des Thomasii Uebersetzung von Charpentier und Coopers engl.

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Lebensbeschreibung des Socrates. – Wie mir aber bei Lesung des Plato zu

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Muthe gewesen, davon ist Hintz mehr als einmal Zeuge gewesen, gesetzt daß es

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mir auch wie den Auslegern der Physiognomie des Mondes gegangen, und der

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halbe Plato eine Widererinnerung meiner socratischen Hirngespinste zu seyn

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schien. Diese gantz
e
entgegengesetzte
Wirkungen
auf mein eigen Gemüth

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und das Urtheil der Recensenten sind wenigstens für mich Ahndungen für die

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Energie ihres
zureichenden Grundes
so wol vom Werth als Unwerth meiner

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Arbeiten, und daß selbige nicht vergeblich gewesen sind.

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Ich
hab mich
bin einmal an Hartknoch verhaftet und will alles thun, mein

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Wort zu halten. An meinem Namen oder Ruff ist nichts gelegen; aber

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Gewißenshalber kann ich weder einem Verleger noch dem
Publico
zumuthen

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unverständliches Zeug zu lesen. Gott versteht mich, sagte wo ich nicht irre,

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Sancho Pancha; aber ich möcht mich doch auch wenigstens verstehen, und mein

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Nächster
. Von den Zween (Kant u Berens) hat mich letzterer fast zu innig

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verstanden, wovon ich noch ein starkes schriftl. Document in Händen zu haben

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glaube. Daß alle gleich viel verstehen sollen, ist unmöglich; aber doch jeder

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etwas und nach seinem Maas, das er selbst hat und ich ihm weder geben kann

2
noch mag.

3
Wenn Sie also, höchstzuEhrender Freund, sich wie Virgil an dem
stercore

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Ennii
nicht ekeln noch grauen laßen; so halt ich Sie beym Wort und käm es auf

5
einen Versuch an.
Haben Sie die Sokratische Denkw
.? so übersende ich

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Ihnen von jedem Abschnitt ein Verzeichnis der Druckfehler u Correcturen und

7
Anmerkungen, die Sie sich die Mühe geben würden in Ihr Exemplar

8
einzutragen oder damit zu vergleichen – und ich bäte mir blos eine kleine Note
über

9
jede Stelle aus
, die Sie nicht verstünden, um wenigstens mir selbst darüber

10
Rechenschaft geben zu können.

11
Haben Sie keine sokr. Denkw. so ist dies eine
conditio sine qua non
für mich.

12
Denn kann ich nicht vom Ey anfangen: so kommt es nicht zu den Aepfeln.

13
Die beyden
Tomos Pasquillorum
wünschte wol zum Ansehen herzuhaben

14
und eine Nachweisung über die Seltenheit dieses Buchs. – Das übrige ist jetzt

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mit Kraus in Ordnung: außer daß er sich einen Belag oder Qvittung zum

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Belage seiner Rechnung wünscht, welches aber bis zur Entscheidung der Pasquill.

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ausgesetzt bleiben und auf einmal abgemacht werden kann. HE Meyer hat

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längst seinen Moser zurück.

19
D.
Biester erwartet von mir eine Erklärung, was mir vom vorigen Jahrgange

20
fehlt, die ich nicht Lust habe zu thun, weil mir nur an seiner Erklärung in

21
Ansehung des vorhergegangenen gelegen war. Unterdeßen werde für den
braunen

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Mann
so wohl als die Monatsschrift durch einen andern Canal sorgen.

23
Lehne Käthe erhielt einen Sechser; der
pollnische
Name Sczostack ist mir

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ich weiß nicht warum? geläufiger, wie Tympf kürzer.

25
Totius Medicinae idea nova
ist der
Tractatus Theologico-politicus;
der

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zweite Theil aber nicht von Sp. sondern Meier dem Herausgeber der
Opp.

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posthuma,
den ich im
Mst.
holl. besitze, aber noch nicht ansehen können, wie ich

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die Qvelle des Sp. den Cartes und Hobbs schon wochenlang vor mir liegen

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habe, weder Zeit noch Lust.

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Ohne mathematische Figuren findt keine mathematische Methode statt; und

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es ist für mich eine mathematische Wahrheit, gleich der, daß jede Größe sich

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selber gleich ist: Aus Wörtern u Erklärungen läst sich weder mehr noch weniger

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herausbringen, als jeder darinn legen will, oder gelegt hat. Die ganze

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Gewißheit der Mathematik hängt von der Natur ihrer Sprache ab, und ihrer

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Schreiberey. Die Nothwendigkeit aller Beweise aber, von der poetischen Licentz

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metaphysische Puncte, Linien und Flächen zu denken, die physisch unmöglich sind.

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Was Demosthenes
Actio
– Engel Mimik – Batteux Nachahmung der schönen

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Natur nennt, ist für mich
Sprache
– das
Organon
und
Criterion
der

2
Vernunft, wie Young sagt. Hier liegt
reine Vernunft
und zugl. ihre
Kritik

3
und die ewigen Gränzstreitigkeiten werden so lange währen, bis die Sprachen

4
aufhören mit Weißagungen und Erkenntnis.

5
Die gütige Frau Kriegsräthin thut mir zuviel Ehre, wenn Sie mich eines B.

6
Patriotismus fähig hält. Es war keine Engelzunge, die mich mit Punsch

7
kützelte – sondern ein unruhiges Uebel voll tödlichen Gift, wie St. Jacob sagt:

8
durch sie loben wir Gott den Vater und durch sie fluchen wir den
Menschen

9
nach dem Bilde Gottes gemacht
.

10
Je länger ein Rehabeam lebt, desto ärger wird er selbst fühlen die

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Scorpionen, womit er seine alte Unterthanen gezüchtigt und sich seiner welschen

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Projecte schämen müßen – doch der schämt sich ewig nicht – die Wurzel alles

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Uebels in der besten Welt! und in der neusten Aufklärung – Sie glauben kein

14
gegebenes
Aergernis. Das böse ist also, (wie Sp. sagt)
causa sui
(effectus)

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causa sui.
Ach! das Recept und
Arcanum
zu Ihrer Friedensdose! Ich eile zu

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meinem Kopf- und Schlafpolster.

Provenienz

Druck ZH vmtl. nach einer nicht mehr überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas oder einem Typoskript Walther Ziesemers. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Preußisches Staatsarchiv Königsberg, Nachlass Johann George Scheffner.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 212–217.

ZH V 356–360, Nr. 808.