812
370/24
Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):

25
No
7.


26
Düßeldorf den 22
ten
Febr. 1785

27
Lieber HerzensFreund

28
Ich habe erst am Freytag, da die Preusische Post schon weg war, v der

29
Prinzeßinn von Gallitzin Antwort erhalten. Ich habe aus ihrem Briefe das was

30
Sie angeht durch meine Schwester Helene, mein
alter ego,
abschreiben laßen, u

31
lege es hiebey. Wegen des Mißverstandes Ihre Tochter betreffend, habe ich die

32
Prinzeßinn mit heutiger Post zurecht gewiesen, u sie überhaupt zu beruhigen

33
gesucht. Buchholtz hat mir auch geschrieben, sich als den Mann bekannt, aber

34
zugleich gebeten, die Prinzeßinn darüber im Zweifel zu laßen, welches, so viel

35
an mir ist, geschehen soll. Der Prinzeßinn hat er gesagt, er würde Sie von dem

36
1sten Juli an, den ganzen Sommer durch in Münster erwarten. Was mich

S. 371
betrifft, mein Theuerster, so bin ich fertig Sie von Stund an bey mir zu erwarten.

2
Herder schwur mir zu Weimar, daß er mich ehestens besuchen wollte. Ich habe

3
ihn an seinen Schwur erinnert u dringend ermahnt zu kommen. Wenn ich erst

4
sagen darf daß ich auch Sie erwarte, so
darf
kann ich noch herzhafter sprechen.

5
Säumen Sie nur nicht länger Anstalten zu machen, u melden Sie mir, ob u was

6
wir thun sollen, um Ihnen den erforderlichen Urlaub zu verschaffen. Zugleich,

7
wie Sie Ihre Reise einzurichten gedenken u.s.w.

8
Meinen Brief vom 4
ten
dieses werden Sie erhalten haben, so wie ich den

9
Ihrigen vom 22
ten
Jänner. Tausend Dank, liebster Hamann, für diesen Brief.

10
Beantworten kann ich ihn heute nicht; ich habe mir Kopf u Finger schon weg

11
geschrieben. – Meine Gesundheit ist ziemlich gut, u ich denke sie soll bald noch

12
beßer werden, da ich v gewißen Bekümmernißen, die seit einigen Monathen

13
mein Gemüth ganz niederdrückten, befreyt worden bin. Ich umarme Sie mit

14
wahrer warmer inniger Liebe –

15
F H Jacobi.


16
Adresse mit schwarzem Siegelrest:

17
An Herrn / Herrn Johann Georg Hamann / zu /
Königsberg.


18
Vermerk von Hamann:

19
den 5 März 85.

20
Geantw. den 31 –
4 April
.

Dem Brief lag bei: Ein Auszug eines Briefes der Fürstin Amalia von Gallitzin an Friedrich Heinrich Jacobi, 17. Februar 1785; Abschrift von der Hand Helene Jacobis; Provenienz: Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035:

S. 490
Auszug aus einem Briefe der Fürstin v. Gallitzin an F. H.
Jacobi

2
Münster den 17.
ten
Febr 1785.

3
Wie ich an Hamanns Ebentheuer im Kaiserlingschen Hause die

4
Höchst unschuldige Ursache geworden bin; dieses will ich Ihnen nun

5
Ihrem Verlangen gemäß erklären. Ich las vor ungefähr 8 Monaten

6
das 1
te
Werk v Hamann. Es waren die Sokratischen

7
Denkwürdigkeiten. Manches darinn war mir unverständlich – was ich aber darinn

8
verstand, machte mich begierig alles zu verstehen. Ich las sie zum 2
ten

9
mahl,
verstand mehreres – zum 3
ten
mahl – verstand wieder mehr, u

10
doch sind für mich noch dunkele Stellen
über
darinn, die ich aber zum

11
Theil für Beziehungen auf Bücher halte, die ich (sehr unbelesenes u

12
zum viel lesen untüchtiges Geschöpf) nicht gelesen hatte. – Ich war von

13
manchem in diesem Buche so getroffen – so äußerst angezogen, daß

14
ich mir nun alle Mühe gab, mir je mehr u mehr Werke v.
s
diesem
Mann

15
zu verschaffen. Je mehr ich neue sammlete (ich habe ihrer ungefähr 15)

16
desto mehr entwickelte sich meine
attraction
zum Verfaßer u zugleich die

17
Begierde etwas
naheres
von ihm zu wißen, da ich theils aus seinen

18
Werken, theils durch Menschen die mit ihm im Verhältniß stehen oder

19
gestanden haben, eine ziemliche Menge einzelner, aber ganz

20
unverbundener
data
gesammlet hatte. Zum Beyspiel, daß sein Schicksal nicht

21
glücklich wäre, ohne daß ich von diesem Schicksal etwas bestimmtes

22
erfahren konnte. – was mich
vollens
gewaltig an Haman zog,

23
waren unsere gemeinschaftlichen Freunde: Plato, Homer, Socrates, u vor

24
allen die H. Schrift, v. der sein ganzes Wesen
impregnirt
ist. Mit

25
dieser – mit der Schrift insonderheit, die in den letzteren Jahren für mich

26
die reichste Quelle des Lebens, fast die einzige würkliche Nahrung

27
meiner Seele geworden ist; die mir nach der 20
ten
Lecture
noch eben

28
neu bleibt, u bey jeder ein neues Licht in meiner Seele ansteckt, die mir

29
an u für
sich selbst
ein größeres Wunderwerk ist, als alle Wunder,

30
deren Urkunde sie ist – mit dieser hat Hamann sich in meiner

31
Vorstellung dergestalt, u auf eine Art, die ich mit Worten in einem Briefe nicht

32
zu sagen vermag, eingewebet, daß ich wie an einem heimlichen Ansatz

33
von Liebe zu ihm krank ward, der mich trieb etwas näheres von ihm zu

34
erfahren. Eine der ersten Simptomen der Liebe ist, wie Sie wißen, eine

35
Art von Blödigkeit oder
pudeur
, deshalb wendete ich mich an keinen

36
seiner oder meiner Bekannten; sondern an diese mir so gut als ganz

S. 491
fremde Gräfinn, der ich auch keine Spur v Verhältniß mit H. zumuthete,

2
um meine Neugierde in etwa zu befriedigen. Wie (höre ich
s
Sie
sagen)

3
an eine die mit H. gar kein Verhältniß hat, um H. näher kennen zu

4
lernen? – ja, an eine solche – weil ich von ihr nur Geschichte,
facta
, nicht

5
aber fremdes Urtheil verlangte; jenes konnte mir zur Ergänzung

6
meines eigenen
Urtheils
, dieses aber zu gar nichts dienen. – Also um

7
Geschichte,
facta
, nicht Urtheil v. H. zu erhalten, wendete ich mich mit den

8
Worten:
dites moi quelque chose
de sa maniere d’être
etc.
an die

9
Gräfinn, weil ich glaubte, sie müße doch wohl etwas v diesem Manne

10
gehört haben, oder leicht auskundschaften können, und wollen. Meine

11
Bekantschaft mit ihr beruht auf einer Durchreise. (als ich zwischen 19 bis

12
20 Jahren u erst kürzlich geheiratet nach Petersburg reisete) Wir hielten

13
uns in K: 2 bis 3 Tage in allem auf. Seit dieser Zeit habe ich nicht eher

14
etwas von ihr gesehen oder gehört als vor anderthalb Jahren, da sie,

15
ungebeten, blos weil sie zufälliger weise hörte, ich suchte Kants

16
sämtliche Werke, mir selbige verschafte u mit einem Briefe begleitete, der eine

17
ungeheure Menge Freundschaft u Diensterbietungen enthielt. Da ich

18
nun an letzte am
liebsten
allerleichtesten glaube, weil es mir ein

19
eben so allgemeines
criterium
des eigenthümlichen Menschen scheint,

20
daß ihm das Gefühl seinem Nebenmenschen, auch dem ihm

21
unbekanntesten, dienen zu können, ein angenehmes Gefühl ist, als daß ihm das

22
Gefühl von irgend einem gehaßet zu
werden
ein unangenehmes ist; so

23
nahm ich gar keinen Anstand mich in dieser Gelegenheit an meine

24
freundliche Gräfinn zu wenden. – Alles weise genug
calculirt
, wie Sie

25
sehen, nur an die Tücke des Schicksals hatte ich dabey nicht gedacht,

26
welches mir auch dafür diesen so logisch
calculirt
en Plan auf eine recht

27
indecente
art zerrüttet hat. Was mußte Haman bey jenem Absurden

28
Auftritt fühlen! Da denn die Gräfinn insonderheit,
pour achever de

29
me peindre
; meinen Geschmack an die Hamanische u
Diderot
sche

30
Philosophie so wunderbar
Paarte
, daß sie gewiß eben so verwundert sein

31
mußten sich dort zu begegnen, als es nicht
Diderot
und Hamann’s

32
Geister sein werden wofern sie je zusammentreffen. Den Grund der

33
Beschuldigung dieser Dame da sie außer meinem Reisekleid wenig von mir

34
kennt, weiß ich nicht, es sey denn, daß der Fürst Gallitzin,

35
bekantermaßen ein Anhänger dieser Philosophie war, u ich durch ein
atque
u ein

36
ergo
es als seine Gemahlin auch werden mußte. Doch daran ist wenig

S. 492
u nur
insoweit
gelegen, als H.s Beruhigung damit verknüpft ist. Bloß in

2
dieser Hinsicht habe ich auch nur die sonst gar nicht
interressante

3
Geschichte, meiner höchst unschuldigen Veranlaßung zu diesem seinen

4
Ebentheuer hingeschrieben. – Nun bleibt mir also noch die Frage zu

5
beantworten, in wie weit ich seinem
Anliegen
abzuhelfen behülflich seyn

6
könnte? Wenn er seinen Urlaub durch Hülfe des Prinzen v Preußen

7
erhalten zu können meint, so habe ich zu diesem, in der Prinzeßinn v

8
Oranien
die mir ihre Fürsprache nicht versagen wird, einen sehr sichern u

9
guten Canal. Steht H. der Weg durch den Prinzen
v.
Pr. nicht an, u

10
er denkt
directe
beßer zu fahren, so kann ich mich um die beßeren

11
auszuforschen
an meinen Bruder, der sehr viel Erfahrung u Einfluß hat,

12
wenden. Hier also, Edler Fritz, habe ich Ihnen alles eröffnet, was ich

13
in Beziehung ihrer Fragen wußte, ebenfalls in der festen

14
Ueberzeugung, sie werden davon keinen andern gebrauch machen, als

15
denjenigen der ihren Absichten H. zu beruhigen gemäß wäre.

16
Was er v seiner Tochter schreibt hat mich in so weit ich es recht

17
verstanden habe, ser
interes
sirt. Die darauf sich beziehende Stelle seines

18
Briefes hätte mich beynahe auf den Gedanken gebracht, die Vorsehung

19
habe vielleicht das Tactwiedrige Dumme Betragen der Gräfinn zur

20
veranlaßung eines Bandes zwischen dem Mädchen u mir zugelaßen; wenn

21
mir nicht gestern Buchholz erzählt hätte, Haman habe ihm geschrieben,

22
das Gott einen seiner heimlichsten u zugleich lebhaftesten Wünsche

23
dadurch erfüllt hätte, daß eine gewiße Dame zu K., die er sehr zu schätzen

24
scheint, sich ihrer angenommen.

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 53.

ZH V 370–371, Nr. 812.

Zusätze fremder Hand

/
Helene Jacobi
370/25
Johann Georg Hamann
371/19
–20
Johann Georg Hamann

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
370/25
No
7.
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.
371/17
Königsberg.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Königsberg
371/20
4 April
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
5 April

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): 4 April
490/1
Jacobi
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jacobi
490/9
mahl,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
mahl –
490/14
s
diesem
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
diesem
490/17
naheres
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
näheres
490/22
vollens
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
vollends
491/2
s
Sie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Sie
491/6
Urtheils
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Antheils
491/22
werden
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
werden,
491/30
Paarte
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
paarte
492/1
insoweit
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
so viel
492/2
interressante
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
interessante
492/5
Anliegen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Anliegen,
492/9
v.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
v
492/11
auszuforschen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
auszuforschen,