818
392/2
Kgsbg den 9 März 85. auf dem Bette.
3
Mein auserwählter, mein gewünschter Sohn, Ihren lieben Brief vom 17
pr.
4
habe den 5
ten
d. erhalten und ein paar Stunden vorher einen von unserm J. aus
5
D. vom 22
p.
worinn er mir meldt, „daß Sie ihm auch geschrieben, sich als den
6
Mann bekannt, aber zugl. gebeten die Princeßin darüber in Zweifel zu laßen,
7
welches, so viel an mir ist, geschehen soll“ – sind seine
ipsissima verba.
Sie
8
hätten der Princeßin gesagt, daß Sie mich vom 1
Julii
an den ganzen Sommer
9
durch in Münster erwarten würden. Der kurze Brief ist nur ein Umschlag zur
10
Mittheilung der Abschrift eines desto größeren und längeren, den die Fürstin
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unter dem 17 Febr. an ihn über mich und mich allein geschrieben. In was für
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gantz natürliche Verlegenheiten ich durch diesen zuvorkommenden Eifer unsers
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J. mich zu sehen und die Herunterlaßung der Fürstin zu meinem Geschmack,
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Rechtfertigung deßelben, jetzigen Wünschen und Bedürfnißen – gesetzt werde,
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können Sie sich leicht vorstellen, da ich nichts in und an mir finde, das solche
n
16
günstige
n
Vorurtheile
n
beantworten könnte. Sie haben mir in Ihrem letzten
17
Schreiben auch den
Trost
entzogen, an ihrem
Hauptbriefe
nicht
gedacht zu
18
haben, zu dem Sie mir in
jedem
Ihrer vorigen Briefe Hoffnung gegeben. Auf
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die Beantwortung Ihres letzten zu kommen: so ist der Empfang nicht nur der
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Kupfer, sondern auch des ganzen L. Päckchens bereits von mir bescheinigt
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worden. Ich bin in Ansehung des guten lieben L. eben so sehr beschämt als in
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Ansehung seines Freundes Pfenninger, daß ich noch nicht die geringste
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Gegengefälligkeit Ihnen bisher habe erwiedern können. Gott schenke ihm Gesundheit
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und Geist zur Vollendung des schönsten und grösten Heldengedichts und den er
25
besungen, kröne ihn!
dafür
!
26
Gottlob! daß Ihre Krankheit ohne Schmerzen ist! Vorigen Sonntag
27
Laetare
erhielte einen Brief von meinem
D.
Lindner aus Halle. Er denkt nicht
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an seine Abreise wohl aber an eine Lustreise zur Ostermeße. Was ich an eben dem
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Sonntag über
Matth XIX
gedacht habe, muß ich Ihnen auch noch mittheilen.
30
Ich habe auch bisweilen
noch einen
höheren
Sinn gesucht, halte aber jetzt den
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nächsten und einzigen
da
für
den höchsten oder hoch gnug.
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Der HErr verwies seine Versucher auf die
Genesin
und den Ursprung des
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Ehstandes – Die Jünger machten daraus einen Schluß, der
auf eine andere
34
Art
von einer andern Seite jener Urkunde wiedersprach. Dort hieß es: Es ist
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nicht gut, daß der Mensch allein sey – Die Jünger schlüßen: es ist allso nicht gut
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ehelich zu werden. –
Allerdings, nicht gut, für Verschnittene
. Diese
S. 393
Wahrheit ist einleuchtend. Es giebt aber drey Arten von Verschnittenen. Einige
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werden schon aus Mutterleib unvermögend geboren – wie es blind geborne p
3
giebt, und dergl. sind wohl die seltensten. Andere werden von Menschen
4
verschnitten. Dies geschah wol nicht im jüdischen Lande, aber desto mehr im ganzen
5
Orient, wo eine solche Verstümmelung zugl. zu großen Ehren- und Hofstellen
6
qualifici
rte, und für ein solches Opfer schadlos hielte. Die dritte Art sind
7
diejenigen, welche sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs
8
willen
. Ohngeachtet Jesaias
LVI.
3. 5 schon von der Glückseeligkeit solcher
9
evangelisch-verschnittenen geweißagt hatte; muste doch das
10
Selbstverschneiden
um des Himmelreichs willen ein Wort seyn, welches kein jüdischer Kopf
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noch jüdischer Geschmack zu faßen imstande war – Sein rechtes Auge ausreißen,
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seine rechte Hand oder Fuß abhauen, konnte nicht so hart in ihren Ohren seyn
13
weil ihnen meines Wißens nicht einmal die Verstümmelung der Thiere erlaubt
14
ist, und fruchtbare Ehen mit rechter Eyfersucht von ihnen geschätzt wurden.
15
Dem Apostel Paulus wurde es
gegeben
, dies Wort seines HErrn eigentlich zu
16
faßen und der Gemeine zu Korinth 1.
VII.
mitzutheilen:
Es ist dem
17
Menschen gut
,
daß er kein Weib berühre
– und dies ganze Kapitel ist ein
18
Commentarius voller didactischen Weisheit über den Spruch Christi. Sich selbst
19
verschneiden erklärt Paulus: wenn sich
jemand fest vornimmt, weil er
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ungezwungen
und
seinen freyen Willen
hat, und es
in seinem Herzen
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beschleust
seine Jungfrauschaft so bleiben zu laßen – Wie Moses den
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Scheidebrief einführte um der Juden Herzenshärtigkeit willen: so rieth Paulus zum
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Cölibat an durch sein eigen Beyspiel und Gründe – um der damaligen Noth
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willen – Zu was für abscheulichen Gräueln u Misbräuchen hat aber die
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Heiligkeit des ehelosen Lebens Anlaß gegeben – und zu was für einem hohen Ideal
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unsers mit Christo in Gott verborgenen Lebens hat eben derselbe Apostel den
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Ehstand aufgerichtet!
28
Nach dieser Stellung der Begriffe finde ich in der Antwort Jesu eine solche
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Einheit, Vollständigkeit, Bündigkeit, einen so leichten Uebergang oder vielmehr
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Schwung vom Natürl. aufs Geistliche, ein solch genaues harmonisches
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Verhältnis so wol zu dem, was schon in einem alten Propheten geschrieben stand,
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als zu dem, was von dem jüngsten Apostel noch geschrieben werden sollte: daß
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ich keine Neugierde nach einem höhern Sinn mehr brauche. Denn damals war
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es weder Zeit zu
fasten
, weil der Bräutigam bey den Jüngern war, noch
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weniger an Verschneidung zu denken als mit einem:
capiat qui capiat!
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Ich weiß nicht, in wie weit dieses Sie befriedigen wird. Diese Stelle hat
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immer meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Meine Darstellung entspricht
S. 394
nicht einmal recht meinen eigenen Eindrücken; wie den Ihrigen, wünscht ich zu
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wißen – oder allenfalls diese lange Episode –
velut aegri somnia
zu
3
entschuldigen
4
den 10 –
5
Ich wurde gestern von Besuchen und zuletzt durch einen unerwarteten Brief
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aus Weimar unterbrochen, der auf meine Lebensgeister, nach einem von allen
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fieberhaften Anwandelungen und Krämpfen fast gantz freyen Tage, und auf
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meine Nachtruhe ein wenig Eingriff gethan. Mit meiner Beßerung geht es
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Gottlob! Berg auf – hoffe mit dem Ende der Woche aufzustehen – hab mich
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bisher auf Habergrütze u Kümmelsuppe eingeschränkt, seit 2 Tagen wider Brodt zu
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eßen angefangen und morgen vielleicht ein wenig Fleisch –
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Herder und seine würdige Frau bezeugen mir beide ihre Mitfreude so herzlich
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so innig als wenn sie ihnen selbst widerfahren wäre, und sind dadurch in ihrer
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eigenen Lage so aufgerichtet so gestärket, so erleichtert, daß ich durch unser
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sympathetisches Wechselgefühl ungemein gerührt worden bin. Beunruhigt durch
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einige hieroglyphische Winke, wie er es nennt, unsers Jacobi, entschuldigt er
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sich mich nicht nach Düßeld. begleiten zu können, weil er das Karlsbad mit
18
seiner Frau und einigen Kindern schlechterdings diesen Sommer brauchen
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müßte.
20
Die Fürstin erbietet sich auch schon durch die Pr. von Oranien beym Pr. von
21
Pr,
und
oder durch den Grafen von Schmettau der ihr leibl. Bruder und
22
Kammerherr in Berl. den besten Kanal auszumitteln zu Erhaltung eines
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Urlaubs. Claudius mit dem ich Jahrlang gescherzt ihn zu besuchen, gab mir schon
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zum Neuen Jahr eine Marschroute nach Lübeck zu kommen, von da er mich nach
25
W. abholen und mich nach Düßeldorf begleiten würde.
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Ich bin freylich an dieser gantzen Gährung durch ein wenig Sauerteig schuld,
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den ich in
meinem Briefe
zu sorglos habe einfließen laßen – für diese
28
Verwahrlosung bin ich gestraft gnug, daß ich in ein wüstes weites Feld von
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Grillenfängereyen gerathen bin, von dem ich weder Anfang noch Ende mehr abzusehen,
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und auf keine einzige Frage weder Ja! noch Nein! zu sagen weiß.
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Eine Leidenschaft, der Sie, mein auserwählter, mein gewünschter Sohn! den
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Krieg ankündigen möchten, so menschlich, so philosophisch sie auch ist, hat auch
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vielleicht in mich gewirkt – und noch eine Leidenschaft kindischer, weibischer
34
Seelen –
Ungedult
!
35
Ich möchte vor Ungedult und Neugierde mit Ihnen selbst einen Krieg
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anfangen über die Auslegung Ihrer eigenen Worte. Denkt man nicht beym
S. 395
Zugleichmarschiren eher an
neben
als
gegen
einander? Ihr Kopf und Herz sind
2
mir gleich den Reihen zu Mahanaim.
3
Wegen meiner Einl. nach Düßeldorf hatte ich die Grille mir einzubilden, daß
4
das
Couvert
zu kurz geschnitten und J. vielleicht das Unglück haben würde bey
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Eröfnung seines Briefes den Ihrigen zu erbrechen, welches mir der
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unangenehmste verdrüslichste Zufall von der Welt gewesen wäre. Durch dieses
7
Hirngespinst wurde ich aufmerksam an Ihren beyden vorletzten Briefen zu
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beobachten, daß der Zuschnitt Ihrer
Couverts
so reich war und nur 2 Ende faßte,
9
wodurch die beyden entgegengesetzten vom Siegel unberührt bleiben, und
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also leicht eröfnet werden können. Ich habe immer durch meinen J. der
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ein sehr rechtschaffener Mann ist und von dem ich keine Niederträchtigkeit zu
12
besorgen habe, die Briefe immer gl. bey Ankunft der Post und mit einem
13
Blättchen Papier, welches
d
ie
en
Fehler des Zuschnitts am
Couvert
zudeckte
14
erhalten. Der letzte Brief war förmlich versiegelt. Gott lob! unser Postwesen
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ist aber keinem dergl. Misbräuche wie in Rußl. ausgesetzt, wo man mir
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damals wenigstens einbilden wollte, daß alle
particulier
Briefe erst
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untersucht würden, welches aber weder glaubl. noch mögl. ist. Ich führe dies
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zum Theil deshalb an, um meine kindische Besorgnis nicht unmittelbar an
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Sie zu schreiben, gegenwärtig zu widerruffen, weil Ihre Vorsicht mir unter
20
meines hiesigen Freundes Umschlag bisher zu schreiben darauf zu beruhen
21
scheint.
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Eben weil ich den Zweck nicht im äußeren Werk suche: sehne ich mich – desto
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mehr bey meinem gegenwärtigen Irrsaal – nach einem festen Standpunct, nach
24
Ihrer Haupterklärung, um aus meinem eigenen Wirrwarr so bald wie möglich
25
herauszukommen.
26
Ich halte mich mit Trost und Zuversicht und freudigen Muthe an dem Mann,
27
an den Sie mir wegen meiner abzulegenden Rechnung und Dankbarkeit weisen.
28
Er laße Ihnen die
Seeligkeit
ei
des
Gebers
, nach einem seiner von Paulo
29
aufbewahrten Sprüche, nicht nur reichlich, sondern auch
lauter
und
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unbetrübt
schmecken und lange genießen. – J. hat noch 2 Briefe von mir zu
31
beantworten, und ich bin theils wegen meiner Unpäßlichkeit, theils wegen meiner
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Bedenklichkeit nicht im stande an ihn zu schreiben.
33
Gott seegne Sie mit den Zeichen und Wundern Seiner Liebe, wie Er durch
34
Sie an mich gedacht und das Heer schwarzer, ängstender, freßender Sorgen mit
35
einem Reihen süßer, leichter, heiterer unterhaltender Sorgen abgelößt hat!
36
– – non ego perfidum
37
Dixi sacramentum: ibimus; ibimus
S. 396
Vtcunque praecedes, supremum
2
Carpere iter comites parati.
3
Johann Georg H.
4
Adresse von fremder Hand, mit Siegelrest:
5
Herrn / Herrn Franz Buchholz / Herr von Welbergen / wohnhaft zu /
6
Münster
/ in Westphalen.
7
den 9. Merz 85.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841 f.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 227–232.
Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 47–53.
Siegfried Sudhof (Hg.): Der Kreis von Münster, 1. Teil, 1. Hälfte. Münster 1962, 209–210.
ZH V 392–396, Nr. 818.
Zusätze fremder Hand
|
396/5 –7
|
Unbekannt |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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392/30 |
noch einen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: nach einem |
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392/31 |
da für ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: den für |
|
393/8 |
LVI. |
Geändert nach der Handschrift; ZH: LVI |
|
393/21 |
beschleust |
Geändert nach der Handschrift; ZH: beschleust , |
|
394/3 |
entschuldigen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: entschuldigen. |
|
394/27 |
meinem Briefe ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: meinen Brief |
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395/13 |
zudeckte ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: zudeckte, |
|
395/13 |
d ie en ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: den |