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Er ist wahrhaftig auferstanden!


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Kgsb. den 28 März am Ostermont. 85.

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Nun, mein Herzenslieber alter Landsmann, Gevatter und Freund! Zwey

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Briefe liegen vor mir die ich Ihnen zu beantworten schuldig bin. Den ersten

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erhielt den 23 Febr. und Einl. an Hartknoch wurde sogl. befördert, lange Zeit

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keine Zeile von ihm erhalten, wird aber mit der nächsten Woche hier erwartet.

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Dieser Brief ist zum Theil schon beantwortet durch meinen, der den Posttag

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drauf eingetroffen seyn mag. Ich wollte mein Stillschweigen wider ersetzen,

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befiel aber den letzten Febr. an einem starken Fluß, und faulen Magenfieber,

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das mich diesen gantzen Monath bettlägerich gehalten, und von dem ich mich

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noch nicht recht erholen kann, und welches mich zu einer völligen Reformation

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meiner bisherigen Lebensart bestimmt. Ich erhielt also Ihren 2ten mir doppelt

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erfreul. Brief den 9 März auf dem Bette – Mein Gemüth ist übrigens so voller

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hypochondrischen Unruhe und Gährung, daß ich nicht zu mir selbst kommen

16
kann, und viel bittern gesaltznen Meeresschaum in mich schlucken muß.

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Unterdeßen in der Ferne ein Uebermaas grosmüthiger Freundschaft, ohn all mein

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Verdienst und Würdigkeit, mich beynahe erstickt und unterdrückt; fühl ich in der

19
Nähe um mich herum ein mir eben so empfindliches Uebergewicht von

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gegebenem u genommenem Aergernis, Eckel und Ueberdruß – daß ich in diesem

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Widerspruch von Täuschungen fast an mir selbst verzage, bey diesem

22
auswendigen Streit und inwendiger Furcht in
num. plurali.
Das klügste und sicherste,

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was ich hiebey thun kann, ist Gedult – nicht Rennen und Laufen ins Gelag

24
hinein und für die lange Weile, wie ich mir einbilde mich durch einen angestrengten

25
trabenden Gang, von dem mir der Kopf raucht, des Schwindels entschlagen zu

26
müßen – sondern
Standhaftigkeit
, die Wege der Vorsehung und

27
entscheidende Umstände
ihres
des Wohlgefallens ruhig abzuwarten. Wie manchem

28
der liebe Sabbath länger wird als die Woche: so ist das Stillesitzen, schweigen,

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sich enthalten vielleicht eine schwerere Lection, und saurere Arbeit als das ewige

30
Wirken, Schaffen und Schwatzen – die
einzige
Theorie von der Ruhe Gottes

31
vielleicht ein köstlicheres Ey als die zahlreichen ausgebrüteten Kosmogonien.

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Ich habe Jahrelang wie ein Maulwurf daran gearbeitet, eine Reise zu meiner

33
Gesundheit und Erholung unternehmen zu können, und um Sie noch Einmal

34
zu sehen, Ihre verehrungswürdige Frau und Ihre lieben Kinder nebst Claudius

35
und die Seinigen kennen zu lernen. Da ich alle Hoffnung dazu schon

36
aufgegeben hatte und mich dem traurigen Schicksal unterwarf hier zu vermodern und

S. 399
zu verwesen; wurde dieser beynah verloschene Funke wie durch einen

2
Wetterstrahl wider aufgeweckt und angezündet. Zu der ebenso natürlichen Sehnsucht

3
meinen unbekannten Wohlthäter kennen zu lernen kam eine ängstliche

4
Besorgnis, daß seine kränkliche und schwache Gesundheit ihm keine so weite Reise

5
erlauben würde, und meine Ungedult dieser Ungemächlichkeit zuvorzukommen.

6
Ebenso zufällig fieng sich hier der für mich so
interessante
und innige

7
Briefwechsel mit unserm J.
Jacobi
an wegen Leßings und Mendelssohns – und die

8
Nachbarschaft seiner Lage, und all das übrige, das Sie auch schon wißen. Was die

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fürstl. Episode betrifft, habe ich nunmehr alles mir nöthige Licht durch unsern

10
Freund erhalten – In Ansehung der Hauptperson warte aber noch immer auf

11
eine nähere Erklärung zur Auskunft, bin noch bis auf die heutige Stunde um

12
keinen einzigen Gran klüger und desto besorgter, den grosmüthigen Mann, ohne

13
auch vielleicht durch meine Schuld ebenso viel Verlegenheiten ausgesetzt zu

14
haben, wie Er mich – Zinsen einzutreiben und auszugeben, darauf verstehe ich

15
mich noch, aber als ein kluger Haushalter ein Capital zu verwalten, sicher

16
unterzubringen, und wie ein frommer und getreuer Knecht damit zu wuchern, davon

17
verstehe ich nichts und werde es kaum in meinem Leben lernen.

18
Die Einziehung der
Fooi
gelder gab mir Anlaß mein Testament zu machen

19
zum Besten meiner Hausmutter, zu deren nothdürftigen Unterhalt eben der

20
Rest meines Vermögens hinreichte. Dies gute Weib, das sich in meines seel.

21
Vaters und meinem Hause, alt, lahm und blind gearbeitet und durch welches

22
mich Gott mit 4 gesunden Kindern begabt und beseeligt hat, in Kummer u

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Dürftigkeit und von anderer Gnade abhängig zurückzulaßen, war in meinen

24
Augen eine schaudernde Ungerechtigkeit. Meine Kinder sollen mir also nichts

25
als meinen kahlen Namen, und was noch vom leibl. Seegen übrig geblieben,

26
ihrer Mutter zu verdanken haben. Nach dieser abgemachten Verfügung war ich

27
entschloßen die
Fooien
Sache aufs äußerste zu treiben; fand aber so viel

28
Widerstand von Seiten der Mitintereßenten, daß mir alle Lust vergieng. Mein Brief

29
ins Cabinet war auch fruchtlos – und Gott schickte mir den jungen Lindner ins

30
Haus auf ¾ Jahr und deßen
Pension
hat mich zwey Jahre erhalten. Als dies

31
Oelkrüglein eben auf die Neige war, und ich in der grösten Furcht mich, an das

32
für meine Hausmutter bereits vermachte
Depot
vergreifen zu müßen, wurde ich

33
auch von dieser meiner Furcht durch das letzte Wunder und Zeichen göttlicher

34
Vorsorge und Liebe erlöset.

35
Dem Eigenthum dieses göttlichen, dem ganzen Geschmack meiner Seele

36
angemeßenen Geschenks, nicht nur durch die Größe der Gabe, sondern noch mehr

37
durch die Würde des Gebers und der gantz originellen, einzigen und

S. 400
sonderbaren Art und Weise – hab ich mit Mund und Herzen entsagt. Als

2
vsufructuarius
und Nießherr, bin aber weder blöde noch müßig gewesen, brachte heute vor

3
3 Monaten gleich meine älteste Tochter zu meiner alten Freundinn der

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Baroneße von Bondeli – gegen das Gutachten meiner beyden Freunde Hip. u Sch.

5
welche den Aufwand für überflüßig und zu stark hielten. Mein gewagter

6
Versuch thut mir aber nicht leid; sondern ich sehe mit Freuden den Trieb dieses in

7
meinem Hause gantz verwahrlosten Mädchens sich selbst zu bilden und bilden zu

8
laßen. Sie ist die 9
te
in einer Gesellschaft
ausgesuchter
adl. u bürgerl.

9
Mädchen – und die beyden
Tanten
(wie sich die Bar. und ihre Freundin eine Fräul.

10
von Morstein, welche zu der kleinen Gemeine der Socinianer gehört, aber sich

11
hier zur reformirten Kirche hält, von ihren Kindern nennen laßen) Muster ihres

12
Geschlechts, wie man sich immer
Beaumont
und
la Roche
in Preußen denken

13
kann – durch
Lecture,
Einsichten, Talente und noch mehr durch Erfahrung des

14
Kreutzes und die güldene
Praxin
gebildet von Grund aus zum täglichen

15
Wachstum im Guten und Wohlthun. Durch eine glückliche Verbindung der Umstände

16
hab ich bey dem seel.
Tr.
Rath zur Miethe wohnen, Lehrmeister im Engl. und

17
ein vertraul. Hausgenoße seyn müßen um dies Glück meiner Tochter erwerben

18
zu können. Die jährl.
Pension
ist 400 fl. Zu einem silbernen Löffel, Meßer und

19
Gabel, welche zum Andenken bleiben, habe 4# bestimmt. In Ansehung der

20
Stunden keine als die Fortsetzung des ital. über mich genommen, welches der

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gute Hill mit seinem Unterricht auf dem Clavier verbunden, und ihm zu

22
Gefallen gern unterhalten möchte. Was die übrigen Lehrmeister und

23
Kleidungsbedürfniße betrifft, alles der Oekonomie und Gutbefinden meiner Freundin

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überlaßen. Wenn also auch die vollen Intereßen in dem ersten Jahre für meine

25
älteste Tochter rein aufgehen sollten: so kann sich Hänschen u seine Schwestern

26
eben so gern wie ich selbst gefallen laßen, weil ich hoffe daß 1 Jahr höchstens 5/4

27
hinreichen werden einen guten Grund für sie selbst zu legen und ihren jüngeren

28
Schwestern nachzuhelfen – und der für das Große gesorgt hat, auch für das

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Kleine sorgen wird, und das Ganze nicht beßer als durch einen

30
verhältnismäßigen Fortgang des Einzelnen
b
gefördert werden kann. Meinen Sohn nebst

31
seinem jungen Freunde Ernst Deutsch erwarte diese oder nächste Woche.

32
Letzterer komt bey Pf. Fischer in Pension, der ihn auch einseegnen wird
privatissime.

33
Meine bisherige
molimina
zur Reise sind ebenso unwillkührlich als blind

34
gewesen. Der Aufschluß, den ich noch immer erwarte, muß erst mein Ja!

35
bestimmen – und ich wünsche Sie nicht anders als in Ihrer Probstey zu sehen, und

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uns einander da ganz zu genießen. Ob diese Freude uns schon im laufenden

37
oder folgenden Jahren bereitet ist, liegt wie unser aller Loos, in Gottes Schooß.

S. 401
Daß ich den mir unbekannten köstlichen Wohlthäter meiner Kinder – denn ich

2
rechne mich selbst nicht mehr, und wenn sie wachsen, will ich gerne abnehmen –

3
von Grund der Seele zu schauen wünsche und mich nach einer persönl.

4
Zusammenkunft sehne und verlange, können Sie leicht erachten. Er hats angefangen,

5
und nicht ich – Ihm will ich auch die Maasreguln, Wege Lauf und Bahn des

6
Ausganges anheimstellen. Sey still, meine Muse, bis Du erfährest wo es hinaus

7
will, denn der Mann wird nicht ruhen, er bringts denn
heuer
zum Ende. Ich

8
werde keinen Augenblick versäumen Ihre theilnehmende Freundschaft zu

9
befriedigen, so bald ich nur selbst so viel Licht habe um meine eigene Schritte

10
unterscheiden zu können.

11
Da haben Sie, alter lieber Freund, meine ganze Lage mit allen Schatten,

12
Dunkelheiten, Bedenklichkeiten und Grillen, deren Umfang und Eindruck Sie

13
leicht ergänzen können aus meiner leutscheuen
ἑαυτοντιμωρου
menischen

14
Hypochondrie. Ich will gern so viel Guts wie ich kann, meinen Kindern
in meinem

15
Leben thun; sie mögen sich aber nach meinem Tode an meinem ehrlichen Namen

16
trotz aller Makuln und Schandflecke deßelben begnügen und sollen meinem

17
letzten Willen weder Gold noch Silber zu verdanken haben, und Gott wird mir

18
die Gnade widerfahren laßen dem Reichtum wie der Armuth zu entgehen; weil

19
ich ersteren mehr fürchte als ich mich vor der letzten gefürcht habe, und beyder

20
Versuchungen unterzuliegen.

21
Den 5 d. habe einen Brief von unserm J. und D. erhalten auf meinem Bette,

22
und am stillen Freytage mit einem Päckchen Bücher erfreuet, das
Necker
2

23
Gespräche des
Hemsterhuys
pp enthielt ohne eine beyl. Zeile. Ich bin noch nicht

24
imstande zu antworten und mich zu bedanken. Am heil. Abend erhielt ich zur

25
neuen Herzensstärkung einen Brief aus Rom von meinem jungen Freund Hill,

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um den ich bereits als einen verlornen Sohn getrauert hatte, mit einigen

27
herzlichen Zeilen eines dasigen jungen Malers Tischbein, vermuthl. aus Karlsruhe.

28
Dieser Brief ist unter Göthe Einschluß über Weimar gegangen. Ein halb

29
Dutzend # hat der arme Pilgrimm auf der
Barca
von Venedig aus verloren und noch

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einmal so viel haben ihm die Römer auf eine heillose Art fortgenommen; sonst

31
wäre er nach Constantinopel oder durch Frankreich über Engl. zu Hause

32
gekommen. Nun ist er aber genöthigt seine Rückkunft zu beschleunigen, nach dem

33
er zum Vesuv gewallfahrtet. Sollte er über Weimar gehen, so bitte diesen

34
Onesimum wie mich selbst aufzunehmen, und wenn er von Geld erblöst wäre,

35
diesem wilden, rohen aber zugl. sehr bescheidnen Menschen, deßen Seele ein wahrer

36
ungeschliffener Edelstein ist, Vorschuß zu geben, der mit der ersten Post von mir

37
ersetzt werden soll, weil er mir noch eine kleine
Casse
zurückgelaßen, und sein

S. 402
reicher
Oncle
der in holl. Diensten zu
Batavia
gewesene Regiments
Chirurgus

2
Miltz, sein
Oncle,
mein guter Freund, Nachbar und zeitiger Artzt ist –

3
Kant hat die 2 Bogen des T. M. vom Februar zugeschickt erhalten und eine

4
kurze Antwort darauf der Litteratur Zeitung eingeschickt. Er arbeitet an neuen

5
Beyträgen zur Berl. Monatsschrift an seiner Metaphysik der Natur und an

6
einer Physik. Das
Principium
seiner Moralität erscheint auch diese Meße. Aus

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dem Anhang gegen Garve scheint nichts geworden zu seyn; vielmehr soll er dies

8
Werk verkürzt haben. Er scheint mir an einer
Diarrhée
zu laboriren und ich

9
besorge, daß er sich um seinen gantzen Autorruhm schreiben wird. Das Stück im

10
Merkur ist vermuthl. von W. selbst und ich hoffe, daß der kleine metaphysische

11
Unfug
Sie
nicht in Ihrem ruhigen heitern Ideengange stöhren wird. Ich habe

12
in meiner Krankheit den ersten Theil 2 mal gelesen und freue mich auf den

13
Fortgang des 2ten Theils, zu dem Ihnen Gott Gesundheit und Glück verleihen wolle.

14
Er hat auch an unsern
Claudius
gedacht; Reichardt gab mir schon längst

15
davon aber einen sehr unsichern Wink und ich hielt es
da
schon für ein

16
Misverständnis Ihrer Nachricht von der Kammerherrin, der ich ein so gutes Werk nicht

17
zugetraut. Desto beßer, wenn beides wahr wäre!

18
Von Thuns
Magnanephthon
weiß gantz und gar nichts, weder was dieser

19
Thun noch der
Magnanephton
ist, letzterer doch vermuthl. der Titel einer Schrift

20
mit seinem Kupfer. Möchte gern etwas näheres hierüber wißen.

21
Ein hier studierender Jude, Namens Euchel, der eine periodische Schrift unter

22
dem Namen des
Sammlers
in seiner Muttersprache herausgiebt, hat nach dem

23
Tode seiner Mutter eine Schwester aus Koppenhagen über Berlin mitgebracht

24
und einen Einfall des Mendelssohn, den er mir nicht selbst mitgetheilt,

25
ungeachtet er mir schon einige mal seit seiner Rückkunft, ich auch ihn besucht.

26
Ich habe ihn erst diese Woche durch die dritte Hand erfahren. Mendelssohn soll

27
seine Verlegenheit zwischen dem Prediger des zureichenden Grundes (Schultz)

28
und dem in der Wüsten mit der Lage eines Ehmannes vergleichen, der von seiner

29
Frau wegen Impotenz und seiner Magd wegen Beschwängerung angeklagt

30
wird, und beyden genöthigt ist Recht zu geben. Wenn mir der Kopf

31
aufgeräumter wäre, so ließe sich aus dieser Sage etwas über den dreyfachen Gesichtspunct

32
der ventilirten Fragen und eben so verschiednen Standpunct
e
der dabey

33
intereßirten Schriftsteller herausbringen. Aber ohne nähere Veranlaßung wird es

34
wol auch hier für mich am besten seyn:
manum de tabula,
die Hand vom Sack!

35
Sonst habe weiter nichts von meinem Schibl. gehört, dem es immerhin wie

36
dem Weitzenkorn im Evangelio gehen möge! Der Schmetterling wenigstens

37
darinn ist mit Haut und Haar bezahlt.

S. 403
Mit dem herzlichsten Dank für den innigen Antheil, den Sie an meiner

2
Autorschaft nehmen, bleibt es bey dem jüngsten Titel, bis mir ein beßerer einfallen

3
wird. Das provinzielle gehört wie das individuelle zum Character meines

4
barocken Geschmacks, den ich wohl nicht zu verleugnen jemals im stande seyn

5
werde. Uebrigens Lette oder Welsche sind beyde gleiche Sünder. Ich bin dem

6
ersten wegen eines einzigen Sprichworts gut, das ich mir zu eigen gemacht.

7
Nenn mich einen Backofen, wirst doch kein Brodt in mir backen. Wird die ganze

8
Sammlung, falls sie zustande komt, nicht wirklich aus lauter Diminutiven

9
bestehen? aus Moos, der an der Wand wächst?

10
Was sagen Sie aber zu Leßings theol. Nachlaß? Es ist Schade um einige

11
Stücke, daß sie nicht gantz sind. Manches ist wohl nicht der Rede werth. Ich

12
hatte mich eben an dem Parasiten und Compilator Hufnagel übel und weh

13
gelesen; fand daher desto mehr Mark, Saft u Kraft an einem Mann, der selbst

14
gedacht, und dem es ein Ernst gewesen eine neue Bahn zu brechen. Unterdeßen

15
ist es doch sonderbar, daß der
Genius
unsers
Seculi
spornstreichs sich in das

16
Pabstum wieder stürzt besonders dadurch, daß man dem Volk die Bibel durch

17
alle mögl. Sophistereyen zu verleiden und aus den Händen zu spielen sucht –


18
Den 31 –

19
Nun mehr kann ich nicht schreiben alter lieber Freund, mit meinem wüsten

20
matten Kopf. Was an Osterfreuden gefehlt, ersetze Gott desto reichlicher durch

21
Pfingstgaben Ihrem diesjährigen Motto und Text zufolge – durch ein reines

22
Herz, einen neuen gewißen und freudigen Geist. Wenn es noch reine Freuden

23
hienieden giebt: so haben sie wenigstens mit den irrdischen, schmutzigen Metallen

24
nichts zu schaffen. Erwerben, haben, erhalten, anwenden und recht brauchen

25
sind mit solchen Martha-Martha-Sorgen und Mühn, Verfolgungen,

26
Versuchungen und Zerstreuungen und ich möchte fast sagen Anfechtungen zur Rechten

27
und Linken verbunden, daß ich mit ebenso viel lebendiger Ueberzeugung als

28
sonst dunkler Ahndung ausruffen kann: Seelig sind die Armen – Mir ist vor

29
den Täuschungen der Nähe und Ferne so angst, daß Sie vielleicht anstatt des

30
zufriednen glückl. Freundes, den Sie erwarten, auch nichts mehr als einen

31
andern
Vulteium Menam – scabrum intonsumque –
und irrenden Ritter

32
trauriger Gestalt an mir finden werden – und daß es meinen übrigen Freunden, die

33
mich gar nicht kennen, sondern zum ersten mal sehen, noch weit schlimmer gehen

34
wird. Mein Gemüth ist so vergällt und verbittert; meine Vorstellungen und

35
Empfindungen mir selbst so überlästig, daß
die
ich die Sympathie und

36
Mitfreude durch keine ausdrückl. Antwort auf die Nachschrift Ihrer liebreichen

S. 404
Theilnehmerin und mir verehrungswürdigen Freundin verderben noch

2
zerstören will. Der Himmel wird sich von selbst wider aufklären und alles schwarze

3
Gewölke ins reine und
liquide
und Heitere bringen. Der uns giebt Leben und

4
Geblüt, wird auch des Lebens Mangel ausfüllen, und vom Seufzen und

5
Geschrey unserer langen Weile erweicht, uns beyden zu Seiner Zeit geben, was uns

6
hoch erfreut und Ihm zur Ehr gereicht.

7
Die Freude unsere Jungen und Buben zusammen zu sehen ist allein eine

8
Reise werth; denn ohn den Kammerdiener, welchen mir die gute Frau Probstin

9
vorschlägt, bin ich unbeholfener kranker alter Mann ohnehin nicht imstande

10
einen so weiten Weg zu thun. Gesundheit Glück und Seegen in Ihrem ganzen

11
Hause und zum Werk Ihrer Ideen! Mein gutgemeintes Stillschweigen

12
entschuldigt sich von selbst und durch Ihre Fürsprache bey der Hälfte Ihres Herzens.

13
Gruß und Kuß an meinen lieben Pathen seine Brüder u die Einzige Ihrer

14
Mutter. Ich umarme und herze Sie im Geist und Wahrheit alter ächter Freundschaft

15
und Liebe nebst herzl. Empfehlung meiner beyden Kleinen u ihrer Mutter –

16
Ihr ewig ergebener Joh. Georg Hamann.

Provenienz

Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 276–277.

Bisherige Drucke

Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 234–240.

ZH V 398–404, Nr. 822.

Zusätze fremder Hand

399/7
Friedrich Heinrich Jacobi

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
399/7
Jacobi
]
In der Handschrift über der Zeile von fremder Hand geschrieben.
401/14
in meinem
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
im