823
404/17
Kgsb. den 31 März 85.
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Herzlich geliebter Freund J.
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Ihre mir wegen der guten Nachrichten von Ihrer Gesundheit und
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Erleichterungen erfreuliche Zuschrift vom 22
pr.
erhielt den 5 d. auf dem Bette, und bin
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auch noch nicht gantz von einem faulen Magenfieber hergestellt, das lange in
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meinen Eingeweiden gelauscht und von mir verwahrloset worden.
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Die überschwengliche Huld der Fürstl. Urkunde – und die abschriftliche Beyl.
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von der
guten Hand
eines Ihrem Blut und Muth so ähnlichen und würdigen
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Frauenzimmers vermehren unendlich meine Furcht und Schaam, in dem
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schmutzigen Meßgewande meiner Autorschaft selbst zu erscheinen – wie dort
27
Josua unreine Kleider
anhatte
und stund vor dem Engel. Zach.
III
3. Nun ich
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stelle es Ihrer Freundschaft und Weltkunde anheim der Dollmetscher meines
29
tiefen
ehrerbietigen Stillschweigens und tief gebeugten Erkenntlichkeit zu seyn
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– und wünschte nur die unangenehmen Eindrücke, welche meine
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Unvorsichtigkeit gegen das von K… Haus veranlaßt, wenigstens gemildert zu sehen, da ich
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demselben sehr gute Gesinnungen gegen mich zuzutrauen verpflichtet bin. Da
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die Erl. Fürstin schon 15 meiner Hefte ich weiß nicht wie aufgetrieben, so
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zweifele ob das hinzugekommene ¼ der Fracht und übrigen Kosten werth seyn wird.
S. 405
In der Voraussetzung eines jungen Prinzen habe ich den von mir besorgten
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Abdruck eines
kleinen
lateinschen Briefwechsels aus einem von Engl.
3
mitgebrachten kleinen Buch
s
e beygelegt, für deßen Gemeinmachung ich manchen
4
unverdienten Dank erhalten, weil die Idee dazu eigentl. unserm Minister u
5
Kanzler von Korff gehört.
/
Am Charfreytage, da ich eben den Anfang machte
6
wider aufzustehen wurde ich mit Ihrem Päckchen erfreut, in dem aber nichts als
7
einen Zedel der 8 enthaltenen Bücher
fand
.
,
die mir eine unaussprechl. Freude
8
gemacht. Von
Necker
ist nur ein einziges Exemplar hier gewesen, das ein
9
Officier,
der alles Neue franz. Gut kapert, bekommen, und ich habe in meiner
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Krankheit gnug an Kanäle gedacht, es von ihm geliehen zu erhalten. Bin aber,
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wider meine Gewohnheit, erst noch im zweiten Theil, wegen meines matten
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schwachen Kopfs und so mancher zufälligen Zerstreuungen. Außer den
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Erinnerungen, zu deren beßeren Verstande ich aber das Museum, wie mir schon längst
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vorgenommen, zu Hülfe nehmen muß und der Erzählung Ihres HErrn
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Bruders habe ich von den 3 übrigen blos den Anblick bisher genoßen. Ungeachtet
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das Lesen mein Element ist, das öfters mehr zur Erstickung als Erholung
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gedeyt, – bleibt doch noch alles Geschmack- und Kraftlos für mich.
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Mit der Ethik, wobey ich zugl. die deutsche Uebersetzung verglichen, bin ich
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erst in meiner Unpäßlichkeit fertig geworden, um blos eine allgemeine Uebersicht
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des Ganzen zu haben. Ich hoffe daß mir mein zweiter
Cursus,
den ich mit den
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überschickten
Principiis
anfangen werde, beßer gelingen wird
das
punctum
22
saliens
dieses im Grunde fanatischen
Pantheismi
zu entdecken.
Mendelssohn
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arbeitet frisch drauf los an einer Vertheidigung der Gottheit, wie man mir
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gesagt – und soll seinen Zwist mit dem Prediger des zureichenden Grundes und
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dem in der Wüsten ungefehr mit der Verlegenheit des Vater Abrahams
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vergleichen, wenn er von seiner Sara wegen Unvermögenheit, und der ägyptischen
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Magd wegen Beschwängerung angeklagt worden wäre, weil er beyden
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Beschuldigungen Recht geben müste.
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Leßings theologischer Nachlaß hat meine meiste Aufmerksamkeit auf sich
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gezogen. Ich habe ihn 2mal hinter einander gelesen. Schade um die verlorne
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Anmerkungen zum Kanzeldialog und um so manches unvollendete Bruchstück.
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Unterdeßen fehlt es nicht an Spuren, daß das Resultat seiner Untersuchung des
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Christentums eben nicht günstig demselben gewesen seyn muß. Daher auch
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manche Kritteley und Sophisterey.
Christi Religion
war Gehorsam bis zum
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Tode und die
christl
.
Religion
ist nichts als Erkenntnis, Bekenntnis und
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Anbetung seines Namens, der über alle Namen ist, und verdient
herrlich
,
37
heilig
und
bekannt
zu werden
–
S. 406
Am Oster heil. Abend erhielt ganz unvermuthet zu meiner großen
2
Beruhigung einen Brief aus Rom von meinem jungen Freund Hill, an deßen Leben
3
ich beynahe schon verzweifelt hatte wegen seines mir unerklärl. Stillschweigens
4
seit
med. Sept.
Ihr Freund Bölling zu Fr. am Mayn hat sehr grosmüthige
5
Gesinnungen gegen ihn geäußert. Claudius hat ihn dahin empfohlen, und
mit
6
meinen herzl. Dank dafür an Sie zurückgewiesen, den ich hiemit
nachhole
.
,
7
wiewol ich keine Gelegenheit noch Mittel absehen kann zu irgend einiger
8
Herzenserleichterung durch
reel
le Gegenwirkungen meiner Erkenntlichkeit. Auch an
9
unsern lieben Bruder in Wandsbeck hat die Vorsehung gedacht auf eine Art, die
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ihm wie ich hoffe gefallen muß. Gott gebe, daß die Nachricht von einem guten
11
Einfall der Kammerher
r
in von der Reck auch wahr seyn möge. Ich erhielte von
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ihm einen sehr zärtl. Brief zum Neuenjahr nebst einer Marsch
route
– auf die ich
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sehr flüchtig geantwortet, weil ich mitten im Schreiben durch einen Brief vom
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Kapellmeister Reichardt gestört wurde, ihm einige hiesige Empfehlungen zu
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seiner Fahrt nach Engl. in der Geschwindigkeit zu verschaffen.
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Was die
molimina
meiner Reise betrifft: so hat sich die Gährung meines
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Gemüths, während meiner Krankheit, ein wenig gelegt. Es ist weder Leichtsinn
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noch Wankelmuth – Wie sonst, schreib ich auch jetzt, aus der Fülle meines
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Herzens – Mein ernster Wunsch und Vorsatz ist unverändert, so
der HErr will,
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und so wir leben
. Erlauben Sie mir aber alles dasjenige wider
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zurück zu nehmen
was meine
pituita molesta
in meinen Briefen Ihnen vorgeschäumt.
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Zum Laufen hilft nicht schnell seyn – Ich will das Spiel der Vorsehung durch
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keinen übereilten Schritt verderben. Wer es angefangen hat, (nicht ich) mag es
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auch vollenden.
Mein deutsches Ja! und herzliches Amen! soll von keiner
pica
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meiner Lüsternheit oder guten Willens, sondern von männlichern Grundsätzen
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der Freundschaft und Pflicht, und von näheren Umständen und
Datis
der
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Vorsehung und ihrer Mittelsperson abhängen
, deren Entwickelung und Aufklärung
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ich tägl. erwarte. Ich bin noch bis auf diese Stunde in der
Hauptsache
völlig
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im Dunkeln. „Wer aber des Nachts wandelt der stößt sich, denn es ist kein Licht
30
in ihm
“
Joh
XI.
10.
31
den 4 April
32
Vorgestern des Morgens erhielt Ihre kleine Einlage unter Einschluß des
33
Mannes, den Sie auch lieben und mir jetzt der
Nächste
ist, nicht durch seine
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Wohlthat allein, sondern noch mehr durch die
Zeichen
seines Characters – die
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mein erstes
Ευρηκα
! der Ahndung bestätigen. Ich hätte mit keiner magischen
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Laterne noch Brille diesen Einen unter Tausend finden können, wenn ihm ein
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guter Gott oder sein Engel nicht ins Herz gegeben
hätte
mich zu suchen – und
S. 407
mir die Ohren aufgethan hätte. Da sprach ich, statt aller Hekatomben und
2
Gelübde: Siehe ich komme –
3
Er hat sich selbst gegen Sie, Herzenslieber J. erklärt, und Sie scheinen sich
4
einander zu verstehen. Ich widerhole Ihnen also blos, was ich Herdern geschrieben
5
habe: Der Mann wird nicht ruhen, er bringts denn heuer zustande Ruth
III.
18.
6
Mein Haus ist diese paar Tage wie ein Taubenschlag gewesen, und morgen
7
erwarte ich meinen lieben unartigen Johann Michel, von dem ich seit einigen
8
Wochen keine Zeile erhalten, welches mich zu beunruhigen anfieng, wenn
ihn
9
ein guter Freund mir nicht gemeldet ihn gesund aber gantz im
Tacito
vertieft
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vorige Woche gesehen zu haben. Er soll nun seinen
Cursum academicum
mit
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seinem jungen Freunde
Ernst Deutsch
hier anfangen.
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Nun ich wünsche und hoffe, daß sich das Blatt auch mit Ihrer leidigen
13
Migraine
gewandt haben wird beym Empfang des gegenwärtigen, welches erst
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leicht das Uebel ärger machen könnte. Vom Kopfweh
bin bisher
beynahe
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gantz verschont geblieben, aber mein geerbter Schwindel macht ihn bisweilen so
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leer, stumpf und wüste, daß alles in mir und um mich herum zur Wüste, Einöde
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und fürchterl.
Chaos
wird. Dachte diesmal an die Hämorrhoiden, an die mein
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seel. Vater als ein Stahlianer glaubte, ohne selbige erlebt zu haben; scheint
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aber ein eitler Verdacht gewesen zu seyn. Ein baldiger Brief von Ihrer Hand
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wird mir zugl. ein angenehmes Unterpfand Ihrer Widerherstellung und
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Gesundheit seyn.
22
Sie wundern sich, liebster J. daß der späte lange Winter alles
hart
und
kalt
23
macht. Unser innerer Mensch ist dem Wechsel oder vielmehr dem Bunde der
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Jahreszeiten eben so unterworfen, als der äußere Erdensohn. Ich antworte Ihrer
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übeln Laune aus dem hohen Liede: Siehe
ist
der Winter ist vergangen, der Schnee
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ist weg und dahin, die Blumen kommen hervor, der Lenz ist da und die Lerche
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läßt sich hören im Lande – der harte kalte Boden, wider weich und warm –
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Ich muß abbrechen, weil ich noch viel zu schreiben und nachzuholen habe, mit
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Feder und Dinte es auch nicht recht fort will – da Ihre würdige Schwester
30
Helene
Ihnen zu Gefallen einer fürstlichen Hand meinen ziemlich gangbaren
31
Namen so oft nachschreiben müßen: so wird Selbige die Empfehlung Ihres
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dafür erkenntlichen Freundes nicht übel aufnehmen, und ich hoffe, daß unsere
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Söhne auch dem Beyspiel Ihrer Väter in gegenseitigen Gesinnungen
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nachahmen
werden. Gott
seegne Sie und Ihr ganzes Haus! und mache uns
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beide zu
Quasimodo-genitos
zum gesunden und fröhligen Genuß des nahen Frühlings und
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Consorten der lieben schönen guten Natur, die, wie die Sonne alle Tage auf- und
S. 408
untergeht, jedes Jahr zum Besten ihrer Kinder stirbt und widergeboren wird.
Vale et
2
scribe vt Te
videam
!
3
Johann Georg H.
4
Adresse mit Siegelrest:
5
An / HErrn Geheimten Rath Jacobi / zu /
Düßeldorf
.
6
Vermerk von Jacobi:
7
Königsberg den 31
ten
März u 4
ten
April
1785
8
J. G. Hamann
9
empfangen den 23
ten
Apr.
10
beantw. den 26
ten
April.
11
u 20
ten
May 1785.
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 41–46.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 69–73.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 62–65.
ZH V 404–408, Nr. 823.
Zusätze fremder Hand
|
408/7 –11
|
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
404/27 |
anhatte ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: anhatte, |
|
405/5 |
/ ]
|
Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel. |
|
405/7 |
fand . , ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: fand, |
|
405/21 –22
|
das […] Pantheismi] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
405/22 –28
|
Mendelssohn arbeitet […] müste.] |
Die Zeilen sind in der Handschrift von Jacobi am Rand markiert. |
|
405/34 –37
|
Christi […] werden] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
406/21 |
zurück zu nehmen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: zurückzunehmen |
|
406/24 –27
|
Mein […] abhängen] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
407/14 |
bin bisher ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: bin ich bisher |
|
407/34 |
werden. Gott ]
|
Geändert nach der Handschrift; in ZH Absatz nach „werden.“ |
|
408/7 |
1785 ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: 1785. |