826
414/6
Kgsberg den 10 April
Dom.
Mis. Dom.
85.

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Herzenslieber Lavater,

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Der letzte Tag des ersten Monaths dieses laufenden Jahres wurde für mich

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sehr eindrücklich, weil ich an demselben durch unsern guten B. Ihre herrliche

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Meßiade nebst der Herzenserleichterung erhielt. Letztere hatte mir selbst schon

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angeschafft wegen so mancher individuellen Züge unserer
Ahnligkeit
und

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Verschiedenheit. Die erste war mir fast ganz unbekannt geblieben – Zwar wurde ich

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lüstern gemacht, da Klopstock mir seine für die Scherflein verehrt, auch um Ihre

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anzuhalten. Die Pracht der Kupfer hätte mich aber abgeschreckt, und ich hätte

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mich gern an dem bloßen Text begnügt. Desto herzlicher wurde von Ihrer

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zuvorkommenden Freygebigkeit und freundschaftlichen Ahndung meiner Wünsche

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gerührt. Gott schenke Ihnen Gesundheit und Geisteskräfte zur Vollendung des

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schönen Denkmals und zur Verklärung des frommen Menschensohns, der

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keinen Becher kaltes Wassers unbelohnt läßt – mir aber Gelegenheit, Ihnen

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auch einmal eine Gegenfreude, ich weiß leider! nicht womit? machen zu können.

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Am Oster Heil. Abend wurde mit einem langen Briefe aus Rom
dd
den

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12–16 Febr. von meinem Hill erfreut, an deßen Erhaltung ich beynahe schon

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ganz zu verzagen anfieng. Sein Brief ist voll Gefühl und Erkenntlichkeit für

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alles das Gute, was er besonders in der Schweitz genoßen und Ihren

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Empfehlungen noch in Welschland zu verdanken gehabt. Gott vergelte es Ihnen, Ihren

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und meinen Freunden in seinem und meinem Namen! Wegen der schriftl.

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Tabelle, die unser Pf. ihm mitgegeben, berichtet er, daß er mit den Sachen nicht

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bekannt gnug wäre, sich an keinem Orte
lange
gnug aufgehalten hätte. Ein Prof

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der
Chymie
Graf Carburi in Padua hätte gemeint, daß man von da Beitrag

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verschaffen könnte, aber auch Zeit dazu nöthig wäre. Was ihm Ihr Freund Heße

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an mich aufgetragen, hat er mir auch mitgetheilt. Einigkeit des Geistes hebt
alle
die

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Mannigfaltigkeit der Sprachen nicht auf, die alle in ihrem Zweck

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übereinkommen.

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Hill, der keiner muthwilligen Lüge fähig ist, versichert mir, die ganze Reise

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den Aufenthalt in Rom vom 6 Jänner bis zum 12 Febr. mit der fast

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unglaublichen Kleinigkeit von 16 # bestritten zu haben, und wenn er nicht das Unglück

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gehabt auf der
Banque
von Venedig 6 u 12 # durch die bösen Römer auf die

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schlaueste und heilloseste Art zu verlieren, wäre
er
entweder nach

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Constantinopel oder durch Frankreich über Engl. zurück gekommen. Dieser für ihn

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ansehnliche Verlust zwingt ihn durch den nächsten Weg zurückzueilen, daß er im

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Monat
Junii
auch vielleicht eher wider hier zu seyn hoft.
/
Sollte der arme

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Nathanael durch neue Zufälle vor Anker liegen müßen, oder HE Tischbein nähere

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Nachricht von seinem gegenwärtigen Aufenthalt und Umständen haben und

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durch Vorschuß nach Verhältnis obgemeldten Verlustes ihm zu helfen im stande

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seyn: so soll jede Ausgabe sogl. ersetzt werden, wozu sich auch Freund

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Hartknoch, der diese Einl. mitnimmt, erbietet. Zu der Wallfahrt nach der Türkey

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kann und will ich eben nicht anräthig seyn; desto lieber behülflich zu seiner

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Widerkunft. Unterstützen Sie daher meine Antwort und Bitte an HE T. der

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mir die Wahl durch Sie oder über Weimar zu antworten überlaßen auf seine

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von u zu Herzen mir willkommene Zeilen und Grüße.


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den 11 –

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Eben wie mich gestern Morgens mein Verleger und Freund Hartknoch

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besuchte, erhielt ich eins der ersten Exempl. von unsers Kants
Grundlegung

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zur Metaphysik der Sitten
, die ich bey meinem kranken Kopfe in ein paar

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Stunden durchgelesen. Mein Sohn ist auch diese Woche vom Lande

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eingekommen, und hat heute den Anfang gemacht mit seinem jungen Freunde
Ernst

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Deutsch
die akademische Vorlesungen zu besuchen. Meine älteste Tochter war

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auch zum Besuche hier und macht mir durch ihre stille Sittsamkeit mehr Freude

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und Hoffnung, – daß ich sie gleich nach erhaltenem Seegen in
Pension
gegeben,

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hab ich Ihnen schon gemeldet. Uebermorgen denke ich erst mein
telonium
zu

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besuchen, nachdem ich mich über einen Monath mit einem faulen Magenfieber

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geqvält.

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Nachdem ich schon alle, Jahre lang umsonst gemachte, Reiseplane

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aufgegeben, erfüllt Gott auch meine Wünsche durch eine mir angenehme Aussicht,

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wo nicht dieses Jahr, doch in einem bevorstehenden selbige ausführen zu können

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– denn am liebsten wär es mir doch meinen Wohlthäter, deßen Briefwechsel

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immer befriedigender und zugleich reitzender für mich wird, in meinem

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traurigen Vaterlande zu sehen und kennen zu lernen.

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Doch ich will dieses ganze Spiel der Vorsehung ihrer eigenen weisen und

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gütigen Entwickelung überlaßen. Mein alter Kopf geht also voller Grundeis,

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daß ich wenig Zusammenhängendes zu denken im stande bin. Ich würde mir

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auch ein Gewißen draus machen, liebster L. Sie mit einem so leeren und

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zerstreuten Briefe zu unterbrechen,
wenn ich nicht müste
. Vielleicht ist einer

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unserer Freunde so gut Ihnen die Mühe meiner Hand, vor der mir selbst eckelt,

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durch Vorlesen zu ersparen.

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Mendelssohn
soll
an einer Vertheidigung der Gottheit arbeiten gegen den

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Prediger des zureichenden Grundes
Schultz. Dem in der Wüsten ist es

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ziemlich verargt worden unsern alten gemeinschaftlichen israelitischen Freund

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eines
atheistischen Fanatismi
beschuldigt zu haben. Schade um so manche

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Lücke in Leßings theol. Nachlaß, den ich auf dem Bette gelesen! Arbeiten
nicht

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unsere Philosophen, nicht mehr an
Aufrichtung
eines
neuen Pabstums

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ohne es zu wißen, als die Ex-Jesuiten beschuldigt werden das alte auszubreiten?

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Gott seegne Sie und die lieben Ihrigen. Empfehlen Sie mich Pf. und allen

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übrigen Freunden, die sich um Hill und mich durch Liebe, Nachsicht und

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Sorgfalt verdient gemacht haben – und wenn ein Vorschuß zu seiner Beförderung

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möglich seyn sollte, so wird
an
zu der Erstattung dieser Auslage kein

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Augenblick von mir versäumt werden nach beliebiger Vorschrift, oder durch den

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geschwindesten sichersten Weg. Ich bin Zeitlebens und gantz der Ihrige.
Johann

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Georg Hamann.

Provenienz

Zürich, Zentralbibliothek, Signatur: FA Lav Ms 510.279.

Bisherige Drucke

Heinrich Funck: Briefwechsel zwischen Hamann und Lavater. In: Altpreußische Monatsschrift 31 (1894), 139–142.

ZH V 414–416, Nr. 826.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
414/6
Dom.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Dom
414/6
85.
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
85
414/11
Ahnligkeit
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Aehnligkeit
414/28
lange
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
lang
414/29
Chymie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Chymie,
414/31
alle
die
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
die
415/6
/
]
Geändert nach der Handschrift: Absatzwechsel.