833
429/14
Kgsb. den 8
May Exaudi!
85.
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Alter liebster Freund, Landsmann und Gevatter,
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Heute brachte mir mein Sohn Ihren Brief von der Post mit zur Vorkost.
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Der Anblick Ihrer Hand machte mir Freude, aber der Innhalt läßt mich an
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Ihrer Unruhe zu viel Antheil nehmen, daß ich nicht gleich darauf antworten
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sollte. Meine Hypochondrie ist aufs höchste – und ich bin gegen alles was ich
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rede und schreibe, mistrauisch.
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Um alles in der Welt willen beschwöre ich Sie, nicht die geringste
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Erwartung
meiner zu haben. Erwarten Sie wenigstens keine
Freude
noch
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Zufriedenheit
von meinem Widersehn, sondern alle mögl. Last eines Besuchs von
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einem Menschen, mit dem nichts anzufangen ist, man mag es angreifen von
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welchem Ende man wolle – und der selbst nicht weiß, was ihm fehlt.
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Es wäre unverantwortlich, wenn Sie die geringste Rücksicht auf meine
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blinde
molimina
zu reisen nehmen wollten zum geringsten Nachtheil so
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wesentlicher Pflichten als Gesundheit und Geschäfte uns auflegen. Noch ist es gar
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nicht ausgemacht,
ob ich reise
, ob ich
Erlaubnis dazu
und
besonders
aus
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dem
Lande zu gehen
erhalte. Erstere Erlaubnis hängt ledigl. von der
Gen.
31
Adm.
letztere unmittelbar vom Könige ab. Was anderen so leicht fällt, ist für
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mich mit
Schwierigkeiten
verbunden, die theils von meiner Phantasie, theils
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von meinem besondern Schicksal abhängen – und
beide
von Kleinigkeiten
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welche niemand zu sehen noch zu fühlen im stande ist.
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Unterdeßen ist es mir lieb, daß Sie mir genau Ihre ganze Lage und den
S. 430
beqvemsten Zeitpunct bestimmten; denn falls ich reise, bin ich der gröste Freyherr
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auf deutschem Grund und Boden, mich darnach zu richten, und wenn
peracti
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labores iucundi,
würde ich mehr Ruhe in Ihrer Probstey auf dem Rück- als
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Hinwege oder im Mittelpunct meiner
Excursion
genießen.
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Setzen Sie also keine Feder weder nach Münster noch Düßeldorf deshalb an,
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sondern laßen Sie der Vorsehung Ihren Lauf, und meinem Vorspann ihren
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Gang – damit das Spiel nicht verdorben werde, wie bey der Tenne
Nachon.
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Gott fördere Ihre
Expedienda,
und laße die Brunnenkur Ihnen und Ihrer
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lieben
Madonna
gedeylich seyn – Der Nachtisch wird wol kommen, wie die
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heutige Vorkost. Es waren Linsen, von denen ich zum Erstaunen meiner
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Hausgesellschaft 3 Suppenteller einnahm, und noch Raum gnug für eine gebratene
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Schweinskeule übrig behielt.
Hinc illae lacrymae!
Alle Begierden und Kräfte
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meiner Seele scheinen in den Magen übergegangen zu seyn, und in diesem
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objectiven Irrthum liegt vielleicht das ganze Uebel meiner gegenwärtigen und
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vergangenen Unthätigkeit und Sinnlosigkeit. Ich hoffe bald beßere Gegenstände
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meines Hungers und Durstes zu finden, und die Diät der Bewegung wird auch
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die Schärfe meiner stockenden Säfte ein wenig mildern. Aus Mangel beßerer
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Einsichten und Mittel muß ich mich an einem etwas türkschen Glauben, so gut
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ich kann, fest halten. Soll ich kommen; so komm ich – Soll ich nicht; so scheitern
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auch die besten Maasreguln im Schooß des Herzens – und in dieser
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Voraussetzung biethe ich der ganzen Kakodämonologie Trotz.
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Meinen Unsichtbaren zu kennen und zu sprechen, dies ist eigentlich mein
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Berufs- und Hauptgeschäfte, von dem alle übrigen Freuden oder Leiden dieses und
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der folgenden Jahre abhängen. Seit dem 2
April
habe keine Zeile weder aus
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Münster noch Düßeldorf erhalten. J. meldete mir den 22 März auf einem kl.
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Zedelchen, daß er seit 4 Wochen krank wäre, ohne mir seine Genesung gemeldet
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zu haben, meiner inständigen Bitte zu folge. Ich denke zu keinem
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Misverständniße Anlaß gegeben zu haben. Sein Nachbar in M. ist nicht so
frey von
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Geschäften und
oneribus
,
als Sie voraussetzen – und ich möchte ihn ungern in
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seinen über
hol
legten Entwürfen gestört sehen, sehe es auch als meine Pflicht
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an, mich so viel möglich leidend zu verhalten.
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Seine Absicht war den 16 Apr. eine Reise anzutreten – ich vermuthe aber auch,
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daß Wege und Witterung diesen Termin möchten verschoben haben. Aus
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Manheim wollte er mir den Fortgang seines dasigen Geschäftes melden. Ich werde
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bis Pfingsten warten –
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Unser Jonathan in D. hat uns alle verwirrt gemacht, und ich hätte ein eben
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solcher
abstemius
bleiben sollen im Briefschreiben an Ihn. – Aber meine
S. 431
Verlegenheit in Ansehung der Berl. Kunstrichter, sein Waßer auf meine Mühle
2
durch die Mittheilung der Handschriften über Leßing, das
Intermezzo
mit der
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Fürstin G. und meine eigene Bedürfnis wenigstens Einen Vertrauten
dort in
4
der Nähe
zu haben – und mein Unverstand im Reden und Schweigen, und der
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gänzl. Mangel eines Augenmaaßes in beyden – kurz den 23 April erhielt ich
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einen Brief von
Claudius,
um mich gleich nach Empfang deßelben auf die Post
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oder zu Schiff zu setzen, und ja die Pfingsthochzeit seiner jüngsten Schwägerinn
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nicht zu versäumen, und denn meine Reise ins hollsteinsche mit ihm anzutreten
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unter der Aussicht einer fröhlichen Zurückkunft. Auf jeden Fall wird mir ein
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noch so schwüler August angenehmer seyn, als ein so kalter May wie der heurige.
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Wird dies Jahr aus meiner Reise nichts; so meld ich es Ihnen, und eben so,
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wenn ich
fertig
dazu werden sollte – auch welchen Tag des lieben
Augusts
ich
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eintreffen werde mit meinem Reisegefährten, um nichts als
Sie und Ihr
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Haus
zu genießen. Beynahe wünschte ich, daß Sie den ganzen
Junius
und
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Julius
nicht einmal an Ihren Freund, Gevatter u Landsmann von trauriger
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Gestalt
nicht einmal
denken möchten; aber die Freude der Ueberraschung ist
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irreparable
und ich habe nicht die kleinste poetische Ader zur Täuschung –
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wenigstens nicht zur angenehmen.
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Ich fieng gl. den 24
pr.
eine Antwort an
Claudius
an, die aber mit der ersten
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Seite in Stecken gerathen, und bisher liegen geblieben. Sollte es mir mögl.
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seyn selbige zu Ende zu bringen, so erlauben Sie mir wohl sie beyzulegen und
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wenn es Ihnen an Zeit fehlt einige Zeilen zur Erläuterung meiner
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Verlegenheit hinzuzufügen, so wie sie ist, zu befördern.
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Hartknoch hat eine so mühseelige u langweilige Reise gehabt, daß er vielleicht
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keinen Augenblick übrig gehabt. Er soll 20 mal umgeworfen worden seyn und
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Hartung der einen Posttag nach ihm abfuhr, hat wider umkehren müßen. Ich
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vermuthe, daß ersterer sehr in seiner Gesundheit und Geschäften zurückgesetzt
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worden und daher einige Nachsicht und Mitleiden verdient.
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Ihrem Päckchen mit der Post seh ich mit Ungedult entgegen, und danke im
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voraus für die Freude, welche ich bey Empfang deßelben haben werde. Hofr.
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Metzger hat sich schon bey meinem Sohn nach dem 2ten Theil der Ideen
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erkundigt. Er hört leider! mir zu Gefallen des erstern Vorlesungen über Sellens
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Einl. in das Studium der Natur- u Arzneywißenschaften – nichts als eigentl.
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Vorlesungen aus dem gedruckten Buche, das er schon bis in die Mitte und
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drüber vorgelesen. Was aus der andern Hälfte bis Michaelis werden wird,
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begreif ich nicht.
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Unser Hintz ist Stadtsekretair in Pernau geworden und hat vermuthl. auch
S. 432
schon seine Ehe vollzogen, wo ich nicht irre mit einer Anverwandtin von
D.
2
Hummius, die bey Hartknoch gewesen.
3
Collin
heist der Künstler, welcher die Abgüße macht in
terra cotta.
Hippel
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verschenkt blos seine an sehr wenige Freunde, und jeder bewundert die
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Ähnlichkeit. Den seel. Kreutzfeld fieng er auch an – aber er starb darüber. Jetzt ist die
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Reihe an meiner runden Perrücke. Ob selbige gerathen wird, weiß ich nicht.
7
Ein sehr geschickter Maler HE.
Darbés
hat sich hier aufgehalten um das
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Kayserlingsche Haus zu mahlen, wo er auch logirte. Er nimmt 20 # für jedes
9
Portrait
– Ich hab mich bey ihm nicht eben als einen Kenner seiner Kunst und
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virtù
empfohlen – fand aber an dem
Capriccio,
Geist und Umgange dieses
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Mannes viel Geschmack. Er ist ein großer Verehrer und Freund der
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Kammerherrin von der Reck – und ich wünschte, daß er zu einer guten Stunde Sie in
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Weimar besuchte, wie er sich vorgenommen zu
thun
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Ihre Erklärung in Ansehung des Steincabinets thut mir völlig Gnüge, und
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ich wollte nicht gern Hartknoch damit belästigen. Den Steinhungrigen Freund
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denke Ihnen mündlich zu nennen.
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Ich habe Ihre Ideen seitdem 2 mal gelesen, habe aber nicht selbige zu Haus
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gehabt um sie mit der Recension der Allg. Litteraturz. vergleichen zu können.
19
Dem Mann in Jena scheint es beynahe wie meinem lieben
Heimcke
zu gehen.
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Der junge Most scheint ihnen in den Kopf gestiegen zu seyn, und ich glaube daß
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die Leute
bona fide
bewundern, was sie nicht verstehen. Kant hat mich auch
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durch
Erkenntlichkeit
für Meinen Sohn gefeßelt, um eben wie Sie jedes
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Misverhältnis zu vermeiden. Den
alten Adam
seiner Autorschaft bey Seite
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gesetzt, ist er wirklich ein dienstfertiger, uneigennütziger und im Grunde gut-
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und edelgesinnter Mann von Talenten und Verdiensten – In Ihren Ideen sind
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manche Stellen, die auf ihn und sein System wie
Pfeile
gerichtet zu seyn
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scheinen, ohne daß Sie an ihn gedacht haben mögen – und ich vermuthe eben so,
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daß in seiner Recension manches nicht so arg gemeint gewesen seyn mag, als
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es vielleicht von Ihnen misverstanden
wird
oder gedeutet wird. Ja ich
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mach
t
e tägl. in meinem Hause die Erfahrung, daß man aus 2
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Gesichtspuncten sich immer einander widersprechen
muß
, und niemals einig werden
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kann
.
,
und daß es unmöglich ist diese Gesichtspuncte, ohne sich die gröste
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Gewalt anzuthun, umzuwechseln.
Unser Wißen ist Stückwerk
– diese große
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Wahrheit ist kein Dogmatiker recht im stande zu fühlen, wenn er seine Rolle,
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und noch dazu gut spielen soll, und durch einen unvermeidl. Zirkel der reinen
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Vernunft wird die
Σκεψις
selbst zum
dogma –
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Ist denn keine Fortsetzung von
Monboddo
erschienen? Ich erwarte alle
S. 433
Tage die 4 Theile des
Harris
mit einem Schiffer aus Engl. ich meine seine
2
Philosophical Arrangements
u
Philological Enquiries.
3
Ihre Pfingstgaben werden hoffentl. diese Woche auch eintreffen. Wo ich aber
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eine für Sie hernehmen soll?
Denn mein Herz ist dürr wie Sand
– Nichts
5
wie Miswachs in der Wüsten! Alle milde Gottesregen können einen solchen
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Boden nicht fruchtbar machen –
7
Gott begleite Sie und Ihre würdige Freundin mit der ganzen Fülle seines
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Seegens ins Bad, schenke Ihnen gute Witterung und gute Gesellschaft zu
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Ihrer Cur, und bringe Sie zufrieden und verjüngt wieder zurück. Ihre
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Nachrichten von dem Fortgang Ihres Erstgebornen und dem Geschmack meines
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lieben Pathchens haben mich herzl. gefreut. Mein junger Student versteht noch
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nichts von Composition – und ich bin nicht im stande weder selbst diesem
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Mangel abzuhelfen noch durch anderer Handleitung selbigen zu ersetzen. An
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Lust und Fähigkeit zu lernen fehlt es ihm eben nicht – und wenigstens werden
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unsere Kinder und Söhne Freude an einander haben und die Freundschaft Ihrer
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Väter fortsetzen und vollenden können. Von meiner ältesten Tochter hör ich
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mehr Gutes als ich erwartet und vermuthet. Gott laße alles wahr und erfüllt
18
werden. Der Bruder hat seine beyde jüngste Schwestern heute in die Comödie
19
geführt um
Cabale
und
Liebe
aufführen zu sehen.
20
Ich hoffe Ihnen liebster Herder! alles zu Ihrer völligen Beruhigung gesagt
21
zu haben, und eben so lieb ist es mir, in Ansehung Ihrer Maasreguln für
22
Gesundheit und Leben
unterrichtet zu seyn. Wenn ich nicht als ein freyer
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ungebundener Mensch reisen kann, so verlang ich gar nicht auch zu meiner Cur mir
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die geringste Motion zu machen. Es wird also lediglich von mir abhängen, die
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2 oder 3 Monathe nach unserer beyderseitigen
Convenance
anzuwenden, und
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wie Sie selbst mit Grund muthmaaßen, konnte sich die ganze Sache von selbst
27
verzögern, und unwegbare Witterung schon den ersten
Termin
des 16 Aprils
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verlängert haben. Bey aller meiner Unvermögenheit zu schreiben werde ich
29
nichts versäumen Sie an allem Antheil nehmen zu laßen, zu seiner Zeit – Ich
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tappe aber noch selbst wie ein Blinder im Finstern, und weiß von der
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Hauptsache nichts, bin auch nichts im stande zum voraus zu
sehn
, sondern überlaße
32
mich bey aller Unruhe, noch ruhiger meinem Schutzgeiste. Wie Du auch führst
33
und führen wirst, so will ich gerne gehen. Gezogen darf ich auch nicht werden;
34
denn Laufen wird mir leichter als das Gehen, und diesen Jugendfehler hat
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mein grauer Kopf noch nicht gantz verleugnet.
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Ich umarme Sie und bitte mich Ihrer verehrungswürdigen
Donna
unter
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den besten Wünschen Ihrer völligen Genesung zu empfehlen. Ich grüße u küße
S. 434
die lieben Ihrigen, Pathchen, seinen
großen
und jüngern Bruder, nebst der
2
kleinen einzigen
Bibi.
Alle Angst und Sorge sey überstanden – und bleibe fern
3
von Ihrem Hause! Daß ich alles nach Herzenswunsch
selbst
finden, sehen und
4
mich deßen erfreuen möge. Gott schenke uns allen einen holdseeligen August –
5
und geb uns einen
neuen gewißen Geist
! Amen
6
Den 9 May.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. Germ. quart. 1304, 280–281.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 245–247.
ZH V 429–434, Nr. 833.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
429/33 |
beide ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: beyde |
|
432/13 |
thun ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: thun. |
|
432/19 |
Heimcke ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Heincke |
|
432/32 |
kann . , ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: kann , |
|
432/36 |
Σκεψις ]
|
Korrekturvorschlag ZH 1. Aufl. (1965): lies Σκηπσις |
|
433/31 |
sehn ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: sehen |