836
437/19
Kgsbg. den 16 May Pfingstmont. 85.
20
Mein auserwählter, mein gewünschter Sohn!
21
So sauer mir auch Schreiben und Reden wird, so sehr auch der böse Geist der
22
Hypochondrie mich fast erstickt, muß ich es Ihnen doch wenigstens merken
23
laßen, daß der 18 März das
Datum
Ihres letzten Briefes gewesen, und heute
24
ein ganzer voller Monath des
eventualiter
bestimmten Termins Ihrer Reise
25
nach Manheim zu Ende läuft – Vielleicht hat die Ueberschwemmung auch die
26
dortigen Wege grundlos gemacht, oder Sie erfahren auch eben die nachtheiligen
27
Einflüße der kalten Witterung auf Ihre Gesundheit und Gemüthslage –
28
Verdenken kann ich es Ihnen auch nicht, weil mein unfruchtbarer und trauriger
29
Briefwechsel eine leider! nur zu treue und wahre Weißagung von meiner Person
30
ist – wenn Ihnen beyde gleichgiltig geworden. Wozu sich den Mühseeligkeiten
31
und Zeitverlust einer so mißlichen Reise aussetzen? wenn es eigentlich von
32
meiner Seite allein ein
Bedürfnis
und
Beruff
ist Sie aufzusuchen. Fallen die
33
Umstände so günstig aus, daß Sie im stande sind
Ihren ganzen Plan
von
34
Zürich bis in meine Heimath zu bestreiten, so wären alle meine Sorgen
35
überflüßig, und Sie hätten das Verdienst, alle Gerechtigkeit erfüllt zu haben. Erhalte
S. 438
ich aber die Nachricht den 1
Jul.
zu Frankf. einzutreffen zu spät, oder die
2
General-Isabel ertheilte mir einen Korb statt eines Reisepaßes oder verzögert
3
denselben: so würde ich vollends untröstlich seyn, und noch mehr wie jetzt
4
durchdrungen vom Gefühl meiner Abhängigkeit. Wäre ich aber schon auf halbem
5
Wege: so würde die Versuchung zu stark seyn wider umzukehren, ohne meinen
6
alten Freund Herder zu sehen oder meinen Gevatter Claudius kennen zu lernen,
7
und in Wandsbeck vielleicht Ihren Nachbar, deßen Winke die beyden ersten zu
8
einer dringenden, sie und mich beunruhigenden Erwartung aufgebracht haben –
9
Auf jeden Fall bin ich allso willens gegen das Ende dieses Monaths um eine
10
Erlaubnis zur Reise anzuhalten, und selbige nach Maasgabe Ihres bestimmten
11
Dati
anzutreten, weil ich Sie am liebsten
zu Hause
bey Sich oder bey mir zu
12
sehen wünsche, und jeder Mittelort
Fremde
für mich ist – Haben Sie Lust
13
einmal eine Reise zu Ihrer Gesundheit nach Norden zu thun, so kann dies ja
14
mit mehr Ruhe nach Versorgung Ihres siechen Freundes geschehen, von Ihrer
15
und meiner Seite.
16
Finden Sie diesen Vorschlag billig, so werde ich gleich zur Thätigkeit schreiten,
17
und giebt Gott Gesundheit und Glück, wie er bisher
otia
geschenkt und
pia
18
desideria
gegeben
erhört hat, eile ich zuförderst mit meinem Begleiter in Ihre
19
Arme und unter Ihr Obdach, wo wir uns am abgeschiedensten einander
20
mittheilen können. Dadurch würde alle Besorgnis einer Reise aufs Gerathe wohl!
21
gehoben, und weder Ihre beßere Geschäfte noch Verbindungen unterbrochen,
22
auch vielleicht eine heilsame Wirkung auf meine Gesundheit und Gemüthsruhe
23
durch eine solche Wallfahrt befördert, unterdeßen eine wankende Ungewißheit
24
eben so sehr meine gespannten als
erschlaften
Nerven angreift.
25
Die Gräfin Kayserlingk lies mich am Ende voriger Woche zu sich ruffen,
26
weil sie eine Antwort auf ihre Zuschrifft erhalten, wodurch ich völlig beruhigt
27
worden bin – und ebenso zufrieden mit den gnädigen Gesinnungen der
28
frommen Fürstin, als mit dem guten Ausgange der ganzen Episode – Aber zur
29
Hauptsache fehlt mir noch immer der Schlüßel Ihres Hauptbriefes – Licht und
30
Wärme auf den Weg. Ich bitte darum!
31
Wenn nur nicht Krankheit die Schuld Ihres zweymonatlichen
32
Stillschweigens ist: so erwarte wenigstens Ihr Ja! oder Nein! auf meinen Vorschlag.
33
Mehr und beßer schreiben kann ich nicht; aber desto stärker an Sie denken
in
34
petto
und
effetto
– in Geist und Wahrheit
35
Ihr
36
ewig treuer und verpfändeter
37
Johann Georg
H‥
S. 439
Adresse mit Siegelrest:
2
HErrn / HErrn Buchholz, / Herrn von Welbergen, / wohnhaft zu /
Münster
/
3
in Westphalen.
4
den 16. May. 85.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841 h.
Bisherige Drucke
Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 60–62.
ZH V 437–439, Nr. 836.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
438/24 |
erschlaften ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: erschlafften |
|
438/37 |
H‥ ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: H. |