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439/6
Kgsb. den 17 May Pfingstdienst. 85.
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Mein Herzenslieber Jacobi und Jonathan! Ich hatte eben einige
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kümmerl. Zeilen, an denen ich fast den ganzen Tag
gestern
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geschrieben, selbst auf die Post gebracht, und eilte wieder auf meine
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Amtsstube wie mir Ihr Brief zu meiner großen Freude und Beruhigung
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entgegen kam – denn ich habe von Posttag zu Posttag auf einen Laut aus Ihrer
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Gegend gewartet, und bin mehr für Ihre
Gesundheit
als
Misverständniß
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besorgt gewesen, weil letzteres leichter zu heben als jene widerherzustellen ist.
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Mein Vorsatz war diese Woche an Sie zu schreiben, und mich erst mit Ihnen ein
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wenig zu zanken, weil ein wenig Galle mir Appetit zum Eßen und Raisonniren
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macht, und denn mich wider mit Ihnen noch herzlicher auszusöhnen. Aber Ihr
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freundschaftlicher und zärtlicher Brief beschämt mich, und überhebt mich aller
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Umschweife.
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Vorigen Freytag besuchte ich unsere gute Gräfin v Kays. und ließ mich an
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Ihrer Freude über die Antwort Ihrer vortreflichen Fürstin den innigsten
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Antheil nehmen, den ich zu
blöde
und
unfähig
bin mündlich und schriftlich
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auszudrücken. – Den Tag drauf, am Pfingst heil. Abend, wurde ich von unserm
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Bischof in Weimar mit einem Dedications Exemplar seiner
zerstreuten
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Blätter
erfreut, und daß Sie nicht nur
gesund
, sondern auch
fleißig
wären,
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daß ihm auch, wie mir, Ihre
Disceptation Waßer auf die Mühle
wäre.
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Er ist auch meiner Meinung, daß mit unserm beiderseitigen Gegner nicht
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füglich
zu disputiren wäre
, weil
in seinen Worterklärungen
alles
schon
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fertig läge, was er brauche
– und daß er blos
durch Ihre Arbeit
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veranlaßt seyn wollte
, ein
Anti-Spinoza zu werden
. Zu diesem
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Verdacht bin ich auch geneigt. Ich wünschte daher,
wenn
daß Sie eine Anspielung
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ausdrückl. berühren möchten, die ich in der Berl. Monathsschrift angetroffen,
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und die mir vorkam auf Sie gezielt zu seyn, die
vertraul. Gespräche
der
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Verstorbenen nicht
gemein zu machen
. Uebrigens befinde ich mich beynahe
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im gl. Fall mit meinem alten Freunde M. eine Parasitenpflanze zu seyn. Ihr
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Aufsatz ist mir sehr willkommen; ich habe ihn schon gantz durchgelaufen, und
S. 440
werde ihn auch durchstudieren;
denn ich habe die Gabe wie ein Raubvogel und
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wie ein Krebs oder Schnecke zu lesen
; aber mein
mürber Kopf
ist gegenwärtig
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zu nichts aufgelegt. Ich bin mit der
Ethik
endlich fertig geworden, und die
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Briefe
habe auch mehr wie einmal durchgegangen wie auch das Fragment
de
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Intellectus emendatione
aber noch nicht das vorherstehende des
Tr. Politici
–
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Auch Ihre
Principia
des
Cartesii
– Aber mein Gedächtnis ist lauter Löschpapier,
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und meine Säfte lauter zäher Schleim. Was
Jarige
über den
Spinozisme
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geschrieben, habe auch in den
Memoires
der
Academie
zu Berl. aufgesucht. Es
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fehlt aber der
dritte
Abschnitt, und in seinem
Eloge
ist gar nicht daran
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gedacht.
Kant
hat mich auf diese Abhandl.
Aufmerksam
gemacht. Er ist aber nicht
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Verf. der kleinen Schrift über das Fundament der Kräfte, sondern ein Herr
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von Elditten
(auf Wickerau) deßen Familie ich in meiner Kindheit genau
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gekannt habe, und unser Kritiker soll nicht zufrieden gewesen seyn, sondern alle
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Anführungen seines
Organi
castrirt haben, ich weiß nicht ob als
Censor
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publicus
oder
als Freund
privatus
des Verf. Ich sahe diesen Bogen an, wie sie aus
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der Preße gekommen waren, und es ist mir lieb, daß Sie mich daran erinnern.
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Uebrigens hab ich so wenig Geschmack als unser Herder und der Pfarrer im
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Merkur an das Schulidol dieser ganzen Wißenschaft – Ob es mir je glücken
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wird Sie von dem abgeschmackten und leeren Wortkram im Aristoteles, Cartes
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und Spinoza zu überführen, wird die Zeit lehren. Hier liegt der
Erbschade
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unserer
Psilosophie
und
Psilologie
, wie ich
reine Vernunft
übersetzt
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habe
– ich kann aber mit meinen Begriffen darüber auch nicht ins reine kommen.
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Gestern Abend schickte mir meine Freundin
Me
Courtan,
welche auch mit
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einer Reise nach Riga ihrer Gesundheit wegen schwanger geht
No
86 der
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allgemeinen LitteraturZeitung zu, wo Schibl. recensirt wird auf eine Art, die völlig
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nach meinem Geschmack ist. Die im
Altonaischen Mercur
wurde mir auch
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von einem Freunde mitgetheilt, und ich habe so laut
über meinen
mir
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untergeschobenen Unsinn gelacht als über die Uebersetzung des Flögels von dem engl.
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Wort
Cant
in
Kantschen Styl
.
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Meine Freude des heutigen Morgens über Ihren Brief habe Ihnen schon
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gemeldet. Befördern Sie und unterhalten selbige durch Erfüllung Ihres
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geneigten Versprechens mir aus Münster zu schreiben, ob unser Alcibiades gesund
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und daheim ist, weil er auf 14 Tage eine kleine Ausflucht thun wollte, – ob er
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Ihre Umarmung in meine Seele beantwortet – ob die erlauchte Aspasie das
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Päckchen bereits erhalten, und ob das Langweilige meiner Autorschaft durch
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das Lächerliche derselben und meines
guten Willens
, den unser Kant zum
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Grunde seiner Metaphysik der Sitten legt, wenigstens gemildert worden –
S. 441
Ist das Original von Hemsterhuis
Simon
noch nicht heraus? Daß ich auf
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seine Antwort auf Ihr
Schreiben
neugierig bin, können Sie, liebster Freund!
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leicht erachten. Was meynen Sie aber mit dem daselbst angeführten Articul
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Spinoza
– kann man darauf
sub sigillo confessionis,
das mir heilig ist, nicht
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Ansprüche machen?
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Zu Ihrer Darstellung muß ich jede Anführung vergleichen, auf die Sie sich in
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des Sp. Ethik vorzügl. beziehen; ehe hab ich nicht das Herz ein einziges Wort
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darüber fallen zu laßen. Ich brauche dazu nicht nur Zeit, sondern auch eine Art
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von Laune und Heiterkeit, der ich jetzt nicht fähig bin. Meinen Dank für
Necker
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muß ich Ihnen widerholen, wenn ich auch nichts mehr als das kleine Kapitel
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de l’esprit de Systeme
darinn gefunden hätte, an dem ich mich nicht satt lesen
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können. Auch alle meine Freunde beynahe haben sich an diesem Meisterstück von
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Beredsamkeit und Philosophie
erquickt,
gegen den
Raynal
nichts als ein
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compilirender, declamirender Sophist ist. Was für ein herrliches
Enchiridion
ließe
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sich aus der Einleitung, den
locis communibus
und dem Schluß, für einen
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deutschen Fürsten ausziehen! Wenn solche Wahrheiten, solche Schönheiten
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nicht zu einer kleinen Arbeit aufmuntern können: so können Sie sich leicht
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vorstellen, wie mir bey einem Knochengerippe eines geometrischen Sittenlehrers zu
19
Muth seyn muß.
Causam immanentem, vt ait, non vero transeuntem statuit;
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und mir gefällt mehr ein sich einspinnendes als ausspinnendes Insect
.
21
den 21 –
22
Ich bin nicht im stande gewesen seit Dienstags die Feder in die Hand zu
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nehmen, liebster Freund J. und damit ich nicht noch einen Posttag versäume,
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versuche ich wenigstens zu schließen; doch habe ich mich an den zerstreuten
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Blättern erquickt, und sie zweymal nach einander durchgelesen, ohne daß ich
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weiter mehr davon sagen kann, als das Wort der Theano:
sie haben mir
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wohlgethan
!
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Sie können sich meinen trostlosen Zustand nicht vorstellen, und wie ich an mir
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selbst verzage, weil ich keines gesunden, vernünftigen Gedankens mir bewußt
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und gantz thierisch bin. Heute haben wir Gottlob! ein Gewitter gehabt, und die
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rauhe kalte harte Luft scheint sich ein wenig gereinigt und auch mich erleichtert zu
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haben. Die
Molimina
meiner Reise haben bereits das ganze christl. Israel zu
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Weimar u. Wandsbeck irre gemacht. Sie lieben mich und freuen sich auf mich
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ohne Ursache
. Eine eben so drückende Lage, als ohne Ursache gehaßt zu
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werden. Ja, ja, ich werde meinen Freunden so willkommen seyn, wie einem
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Hausvater ein Dieb in der Nacht.
S. 442
den 23.
2
Auf jeden Fall, besuchte gestern, wo ich nicht irre, zum ersten mal in diesem
3
Jahre meinen nächsten Nachbar, den
Provincial Director
Stockmar, um mir
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seinen Rath und Beystand zu Erhaltung eines Reisepaßes zu erbitten. Weil ich
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gern überhoben seyn möchte an die
Gen. Adm.
selbst zu schreiben, übernahm er
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es für mich zu thun, wenn ich bey ihm blos deshalb eine Vorstellung
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einreichte. Er rieth mir aber die Sache bis auf den Anfang des
Junii
auszusetzen,
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weil man in Berl. alle Hände voll zu thun hätte mit dem Abschluß der
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Jahresrechnung, der den 25 d. geschieht. Zufällig muste ich an eben dem
Dato
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meinen Dienst antreten, ohne noch ein neues Finanzjahr erlebt zu haben.
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Gestern bin ich den ganzen Nachmittag und eben so diesen Vormittag von
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einem Besuch nach dem andern gestört worden, als wenn die Vorsicht mir
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selbst Hülfsmittel zur Zerstreuung entgegen werfen wollte.
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Meine einzige Bitte besteht noch mir aus Münster zu melden, ob Krankheit an
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dem Stillschweigen schuld ist. Drey lange Wochen werde ich doch auf Antwort
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warten müßen – Der König kommt gewiß nach Graudenz, wenn ich nur erst
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meiner Sachen gewiß wäre! Gestern erhielt noch gantz spät
No
90. der
A.L.Z.
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und ich hoffe daß unser
Herder
mit der
Recension
seiner
zerstreuten Blätter
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eben so zufrieden seyn kann, wie ich mit der meinigen – Der Verleger seiner Ideen
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wird alle Tage hier erwartet – Verzeyhen Sie, wenn ich Ihrer zuvorkommenden
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Freundschaft und den
zu günstigen Vorurtheilen Ihres Würkungs- und
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Lebenskreises
– nicht wie ich
sollte
und
gerne
wollte
, beantworten kann.
Dum tacet,
23
clamat
– Gott gebe Ihnen Gesundheit, Ruhe und bey allen hausväterlichen
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Sorgen eben so viel kindliche Freuden ländlicher Heiterkeit. Muß eilen um Einl. zu
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befördern – und meinen Johann Michel aus dem Thor begleiten, der auf mich
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wartet, und dem am Fortgange der Reise auch gelegen ist – der Mittelpunct meiner
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Trägheit oder inneren Energie. Was weiß ich? Leben Sie wohl und haben Sie
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Mitleiden mit Ihrem alten Grillenfänger und
Heautontimorumeno
– H, der sich
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auch bald fürchtet, bald freut wie ein Kind. Auf baldige Nachricht aus M. oder
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Pempelfort, wo alles zu Ihrem Empfang grü
h
ne und blühe!
Ainsi soit-il!
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Adresse mit Siegelrest:
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Des / HErrn Geheimen Raths
Jacobi
/ Wolgeboren / zu /
Pempelfort
/
33
bey Düßeldorf.
F
co
Wesel
34
Vermerk von Jacobi:
35
Königsberg den 23
ten
May 1785.
36
J. G. Hamann
37
empf den 2
ten
Juni
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 46–50.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 73–77.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 95–99.
ZH V 439–442, Nr. 837.
Zusätze fremder Hand
|
442/33 |
Unbekannt |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
439/7 –8
|
Mein […] Tag] |
Geändert nach der Handschrift; in ZH Absatz nach „Jonathan!“ |
|
440/1 –2
|
denn […] lesen] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
440/10 |
Aufmerksam ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: aufmerksam |
|
440/20 –22
|
Erbschadeunserer […] übersetzt habe] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
440/20 |
Erbschade ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Erbschade |
|
440/21 |
Psilosophie ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Psilosophie |
|
440/21 |
Psilologie ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Psilologie |
|
440/23 |
Me |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Me. |
|
440/24 |
No |
Geändert nach der Handschrift; ZH: No |
|
440/27 |
über meinen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: über einen Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): über meinen |
|
441/13 |
erquickt, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: erquickt; |
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441/19 –20
|
Causam […] Insect] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
442/17 |
No |
Geändert nach der Handschrift; ZH: No |
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442/21 –22
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zu […] und Lebenskreises] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: zu günstigen Vorurtheilen Ihres Würkungs- und Lebenskreises Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): zu günstigen Vorurtheilen Ihres Würkungs- und Lebenskreises |
|
442/22 |
gerne |
Geändert nach der Handschrift; ZH: gern Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): gerne |
|
442/32 |
Jacobi |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Jacobi |
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442/33 |
F co Wesel |
Hinzugefügt nach der Handschrift. |