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Kgsb. den 17 May Pfingstdienst. 85.

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Mein Herzenslieber Jacobi und Jonathan! Ich hatte eben einige

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kümmerl. Zeilen, an denen ich fast den ganzen Tag
gestern

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geschrieben, selbst auf die Post gebracht, und eilte wieder auf meine

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Amtsstube wie mir Ihr Brief zu meiner großen Freude und Beruhigung

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entgegen kam – denn ich habe von Posttag zu Posttag auf einen Laut aus Ihrer

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Gegend gewartet, und bin mehr für Ihre
Gesundheit
als
Misverständniß

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besorgt gewesen, weil letzteres leichter zu heben als jene widerherzustellen ist.

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Mein Vorsatz war diese Woche an Sie zu schreiben, und mich erst mit Ihnen ein

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wenig zu zanken, weil ein wenig Galle mir Appetit zum Eßen und Raisonniren

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macht, und denn mich wider mit Ihnen noch herzlicher auszusöhnen. Aber Ihr

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freundschaftlicher und zärtlicher Brief beschämt mich, und überhebt mich aller

18
Umschweife.

19
Vorigen Freytag besuchte ich unsere gute Gräfin v Kays. und ließ mich an

20
Ihrer Freude über die Antwort Ihrer vortreflichen Fürstin den innigsten

21
Antheil nehmen, den ich zu
blöde
und
unfähig
bin mündlich und schriftlich

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auszudrücken. – Den Tag drauf, am Pfingst heil. Abend, wurde ich von unserm

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Bischof in Weimar mit einem Dedications Exemplar seiner
zerstreuten

24
Blätter
erfreut, und daß Sie nicht nur
gesund
, sondern auch
fleißig
wären,

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daß ihm auch, wie mir, Ihre
Disceptation Waßer auf die Mühle
wäre.

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Er ist auch meiner Meinung, daß mit unserm beiderseitigen Gegner nicht

27
füglich
zu disputiren wäre
, weil
in seinen Worterklärungen
alles
schon

28
fertig läge, was er brauche
– und daß er blos
durch Ihre Arbeit

29
veranlaßt seyn wollte
, ein
Anti-Spinoza zu werden
. Zu diesem

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Verdacht bin ich auch geneigt. Ich wünschte daher,
wenn
daß Sie eine Anspielung

31
ausdrückl. berühren möchten, die ich in der Berl. Monathsschrift angetroffen,

32
und die mir vorkam auf Sie gezielt zu seyn, die
vertraul. Gespräche
der

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Verstorbenen nicht
gemein zu machen
. Uebrigens befinde ich mich beynahe

34
im gl. Fall mit meinem alten Freunde M. eine Parasitenpflanze zu seyn. Ihr

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Aufsatz ist mir sehr willkommen; ich habe ihn schon gantz durchgelaufen, und

S. 440
werde ihn auch durchstudieren;
denn ich habe die Gabe wie ein Raubvogel und

2
wie ein Krebs oder Schnecke zu lesen
; aber mein
mürber Kopf
ist gegenwärtig

3
zu nichts aufgelegt. Ich bin mit der
Ethik
endlich fertig geworden, und die

4
Briefe
habe auch mehr wie einmal durchgegangen wie auch das Fragment
de

5
Intellectus emendatione
aber noch nicht das vorherstehende des
Tr. Politici

6
Auch Ihre
Principia
des
Cartesii
– Aber mein Gedächtnis ist lauter Löschpapier,

7
und meine Säfte lauter zäher Schleim. Was
Jarige
über den
Spinozisme

8
geschrieben, habe auch in den
Memoires
der
Academie
zu Berl. aufgesucht. Es

9
fehlt aber der
dritte
Abschnitt, und in seinem
Eloge
ist gar nicht daran

10
gedacht.
Kant
hat mich auf diese Abhandl.
Aufmerksam
gemacht. Er ist aber nicht

11
Verf. der kleinen Schrift über das Fundament der Kräfte, sondern ein Herr

12
von Elditten
(auf Wickerau) deßen Familie ich in meiner Kindheit genau

13
gekannt habe, und unser Kritiker soll nicht zufrieden gewesen seyn, sondern alle

14
Anführungen seines
Organi
castrirt haben, ich weiß nicht ob als
Censor

15
publicus
oder
als Freund
privatus
des Verf. Ich sahe diesen Bogen an, wie sie aus

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der Preße gekommen waren, und es ist mir lieb, daß Sie mich daran erinnern.

17
Uebrigens hab ich so wenig Geschmack als unser Herder und der Pfarrer im

18
Merkur an das Schulidol dieser ganzen Wißenschaft – Ob es mir je glücken

19
wird Sie von dem abgeschmackten und leeren Wortkram im Aristoteles, Cartes

20
und Spinoza zu überführen, wird die Zeit lehren. Hier liegt der
Erbschade

21
unserer
Psilosophie
und
Psilologie
, wie ich
reine Vernunft
übersetzt

22
habe
– ich kann aber mit meinen Begriffen darüber auch nicht ins reine kommen.

23
Gestern Abend schickte mir meine Freundin
Me
Courtan,
welche auch mit

24
einer Reise nach Riga ihrer Gesundheit wegen schwanger geht
No
86 der

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allgemeinen LitteraturZeitung zu, wo Schibl. recensirt wird auf eine Art, die völlig

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nach meinem Geschmack ist. Die im
Altonaischen Mercur
wurde mir auch

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von einem Freunde mitgetheilt, und ich habe so laut
über meinen
mir

28
untergeschobenen Unsinn gelacht als über die Uebersetzung des Flögels von dem engl.

29
Wort
Cant
in
Kantschen Styl
.

30
Meine Freude des heutigen Morgens über Ihren Brief habe Ihnen schon

31
gemeldet. Befördern Sie und unterhalten selbige durch Erfüllung Ihres

32
geneigten Versprechens mir aus Münster zu schreiben, ob unser Alcibiades gesund

33
und daheim ist, weil er auf 14 Tage eine kleine Ausflucht thun wollte, – ob er

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Ihre Umarmung in meine Seele beantwortet – ob die erlauchte Aspasie das

35
Päckchen bereits erhalten, und ob das Langweilige meiner Autorschaft durch

36
das Lächerliche derselben und meines
guten Willens
, den unser Kant zum

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Grunde seiner Metaphysik der Sitten legt, wenigstens gemildert worden –

S. 441
Ist das Original von Hemsterhuis
Simon
noch nicht heraus? Daß ich auf

2
seine Antwort auf Ihr
Schreiben
neugierig bin, können Sie, liebster Freund!

3
leicht erachten. Was meynen Sie aber mit dem daselbst angeführten Articul

4
Spinoza
– kann man darauf
sub sigillo confessionis,
das mir heilig ist, nicht

5
Ansprüche machen?

6
Zu Ihrer Darstellung muß ich jede Anführung vergleichen, auf die Sie sich in

7
des Sp. Ethik vorzügl. beziehen; ehe hab ich nicht das Herz ein einziges Wort

8
darüber fallen zu laßen. Ich brauche dazu nicht nur Zeit, sondern auch eine Art

9
von Laune und Heiterkeit, der ich jetzt nicht fähig bin. Meinen Dank für
Necker

10
muß ich Ihnen widerholen, wenn ich auch nichts mehr als das kleine Kapitel

11
de l’esprit de Systeme
darinn gefunden hätte, an dem ich mich nicht satt lesen

12
können. Auch alle meine Freunde beynahe haben sich an diesem Meisterstück von

13
Beredsamkeit und Philosophie
erquickt,
gegen den
Raynal
nichts als ein

14
compilirender, declamirender Sophist ist. Was für ein herrliches
Enchiridion
ließe

15
sich aus der Einleitung, den
locis communibus
und dem Schluß, für einen

16
deutschen Fürsten ausziehen! Wenn solche Wahrheiten, solche Schönheiten

17
nicht zu einer kleinen Arbeit aufmuntern können: so können Sie sich leicht

18
vorstellen, wie mir bey einem Knochengerippe eines geometrischen Sittenlehrers zu

19
Muth seyn muß.
Causam immanentem, vt ait, non vero transeuntem statuit;

20
und mir gefällt mehr ein sich einspinnendes als ausspinnendes Insect
.


21
den 21 –

22
Ich bin nicht im stande gewesen seit Dienstags die Feder in die Hand zu

23
nehmen, liebster Freund J. und damit ich nicht noch einen Posttag versäume,

24
versuche ich wenigstens zu schließen; doch habe ich mich an den zerstreuten

25
Blättern erquickt, und sie zweymal nach einander durchgelesen, ohne daß ich

26
weiter mehr davon sagen kann, als das Wort der Theano:
sie haben mir

27
wohlgethan
!

28
Sie können sich meinen trostlosen Zustand nicht vorstellen, und wie ich an mir

29
selbst verzage, weil ich keines gesunden, vernünftigen Gedankens mir bewußt

30
und gantz thierisch bin. Heute haben wir Gottlob! ein Gewitter gehabt, und die

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rauhe kalte harte Luft scheint sich ein wenig gereinigt und auch mich erleichtert zu

32
haben. Die
Molimina
meiner Reise haben bereits das ganze christl. Israel zu

33
Weimar u. Wandsbeck irre gemacht. Sie lieben mich und freuen sich auf mich

34
ohne Ursache
. Eine eben so drückende Lage, als ohne Ursache gehaßt zu

35
werden. Ja, ja, ich werde meinen Freunden so willkommen seyn, wie einem

36
Hausvater ein Dieb in der Nacht.


S. 442
den 23.

2
Auf jeden Fall, besuchte gestern, wo ich nicht irre, zum ersten mal in diesem

3
Jahre meinen nächsten Nachbar, den
Provincial Director
Stockmar, um mir

4
seinen Rath und Beystand zu Erhaltung eines Reisepaßes zu erbitten. Weil ich

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gern überhoben seyn möchte an die
Gen. Adm.
selbst zu schreiben, übernahm er

6
es für mich zu thun, wenn ich bey ihm blos deshalb eine Vorstellung

7
einreichte. Er rieth mir aber die Sache bis auf den Anfang des
Junii
auszusetzen,

8
weil man in Berl. alle Hände voll zu thun hätte mit dem Abschluß der

9
Jahresrechnung, der den 25 d. geschieht. Zufällig muste ich an eben dem
Dato
67

10
meinen Dienst antreten, ohne noch ein neues Finanzjahr erlebt zu haben.

11
Gestern bin ich den ganzen Nachmittag und eben so diesen Vormittag von

12
einem Besuch nach dem andern gestört worden, als wenn die Vorsicht mir

13
selbst Hülfsmittel zur Zerstreuung entgegen werfen wollte.

14
Meine einzige Bitte besteht noch mir aus Münster zu melden, ob Krankheit an

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dem Stillschweigen schuld ist. Drey lange Wochen werde ich doch auf Antwort

16
warten müßen – Der König kommt gewiß nach Graudenz, wenn ich nur erst

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meiner Sachen gewiß wäre! Gestern erhielt noch gantz spät
No
90. der
A.L.Z.

18
und ich hoffe daß unser
Herder
mit der
Recension
seiner
zerstreuten Blätter

19
eben so zufrieden seyn kann, wie ich mit der meinigen – Der Verleger seiner Ideen

20
wird alle Tage hier erwartet – Verzeyhen Sie, wenn ich Ihrer zuvorkommenden

21
Freundschaft und den
zu günstigen Vorurtheilen Ihres Würkungs- und

22
Lebenskreises
– nicht wie ich
sollte
und
gerne
wollte
, beantworten kann.
Dum tacet,

23
clamat
– Gott gebe Ihnen Gesundheit, Ruhe und bey allen hausväterlichen

24
Sorgen eben so viel kindliche Freuden ländlicher Heiterkeit. Muß eilen um Einl. zu

25
befördern – und meinen Johann Michel aus dem Thor begleiten, der auf mich

26
wartet, und dem am Fortgange der Reise auch gelegen ist – der Mittelpunct meiner

27
Trägheit oder inneren Energie. Was weiß ich? Leben Sie wohl und haben Sie

28
Mitleiden mit Ihrem alten Grillenfänger und
Heautontimorumeno
– H, der sich

29
auch bald fürchtet, bald freut wie ein Kind. Auf baldige Nachricht aus M. oder

30
Pempelfort, wo alles zu Ihrem Empfang grü
h
ne und blühe!
Ainsi soit-il!


31
Adresse mit Siegelrest:

32
Des / HErrn Geheimen Raths
Jacobi
/ Wolgeboren / zu /
Pempelfort
/

33
bey Düßeldorf.
F
co
Wesel


34
Vermerk von Jacobi:

35
Königsberg den 23
ten
May 1785.

36
J. G. Hamann

37
empf den 2
ten
Juni

Provenienz

Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.

Bisherige Drucke

Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 46–50.

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 73–77.

Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 95–99.

ZH V 439–442, Nr. 837.

Zusätze fremder Hand

442/33
Unbekannt

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
439/7
–8
Mein […] Tag]
Geändert nach der Handschrift; in ZH Absatz nach „Jonathan!“
440/1
–2
denn […] lesen]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
440/10
Aufmerksam
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
aufmerksam
440/20
–22
Erbschadeunserer […] übersetzt habe]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
440/20
Erbschade
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Erbschade
440/21
Psilosophie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Psilosophie
440/21
Psilologie
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Psilologie
440/23
Me
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Me.
440/24
No
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
No
440/27
über meinen
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
über einen

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): über meinen
441/13
erquickt,
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
erquickt;
441/19
–20
Causam […] Insect]
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen.
442/17
No
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
No
442/21
–22
zu […] und Lebenskreises]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
zu günstigen Vorurtheilen Ihres Würkungs- und Lebenskreises

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
zu günstigen Vorurtheilen Ihres Würkungs- und Lebenskreises
442/22
gerne
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
gern

Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988):
gerne
442/32
Jacobi
]
Geändert nach der Handschrift; ZH:
Jacobi
442/33
F
co
Wesel
]
Hinzugefügt nach der Handschrift.