838
443/2
Pempelfort den 18
ten
May 1785.
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Vermerk von Hamann (nachträgliche Nummerierung mit roter Tinte):
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No
11
.
Erh. den 1
Junii
5
Geantw
eod.
6
Lieber Vater Hamann
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Sie haben mein Packet vom 26
ten
April, wie ich hoffe glücklich erhalten, aber,
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leider keinen Brief aus Münster. Unser lieber Buchholtz selbst war hieran auf
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mehr als eine Weise Schuld. Ich sollte von einer gewißen Sache die ihn betraf
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keine Erwähnung thun, weil er selbst zuerst Ihnen davon schreiben wollte; das
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störte mich. Es störte mich hauptsächlich deswegen, weil ich nun über Ihr Reise-
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Projeckt mich auch nicht recht heraus laßen konnte. Buchholtz hat Ihnen den
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angenehmen Vorfall nun gewiß berichtet. Ich will aber doch lieber davon noch
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schweigen um ganz sicher zu gehen.
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Wenn Sie den Herbst erst reisen wollten, so könnte Ihnen die Prinzeßinn
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von Gallitzin die Erlaubniß dazu ohne den Kronprinzen verschaffen; wollten
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Sie aber früher reisen, so müßte dieser von Ihnen angegebene Weg
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eingeschlagen werden; u es wäre sodann nur die Frage, was Sie selbst dabey thun
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wollen, u in wie ferne Sie wünschen oder zulaßen mögen, daß Ihnen die
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Prinzeßinn dabey zu Hülfe komme.
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Die Hauptfrage ist, ob Ihnen die Reise zuträglich seyn wird. Buchholtz
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fürchtet wegen der öftern Anfälle von Podagra denen Sie ausgesetzt sind, u ist
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überhaupt besorgt, Sie möchten aus Liebe manches was Ihnen den Entschluß
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zur Reise schwer macht verschweigen, u aus Großmuth zu viel unternehmen –
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„Wir wollen ihn fragen, sagte ich, Hamann ist offenherzig wie ein Kind.“ –
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„In allen Stücken, antwortete Buchholtz, nur in diesem nicht; ich glaube fast,
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daß er aus Liebe gar zu lügen fähig wäre.“ – Dem sey wie ihm wolle: ich will
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fragen, u auch meine eigene Meynung nicht verschweigen. Claudius, Herder,
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Ihre Freunde so viel ich deren kenne, sind der einhelligen Meynung, daß nichts
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in der Welt Ihnen so zuträglich seyn würde als eine Reise. Kleuker sprach mir
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vor drey Jahren schon davon, u ich war damahls gleich darauf bedacht, wie so
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etwas für Sie einzuleiten wäre. Wie man nicht wohl aus der Stelle kommen
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kann, begreiffe ich nur gar zu gut, u glaube desto eher mir erlauben zu dürfen,
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etwas dringend zu seyn. Buchholtz meinte, es würde Ihren Entschluß
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erleichtern, wenn Sie Ihren ältesten Sohn mitnehmen könnten. Sollten die größeren
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Reisekosten hiezu nur im Wege stehen, so wäre dieses Hinderniß mit einem
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Worte aus dem Wege zu
raumen
. Und in Wahrheit es geht mir dabey wie
S. 444
Cäsarn mit dem Tribun: Es kostet mich weniger zu thun als zu sagen. Da wir
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aber einmahl auf dieses Capitel gerathen sind, so muß ich Sie an den Schluß
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meines Briefes vom jüngsten October erinnern. Ich weiß nicht ob Sie
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errathen haben, wo ich hinaus wollte. Unsere Bekanntschaft war damahls noch
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zu jung, als daß ich mir hätte anmaßen dürfen, deutlicher zu reden. Von denen
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Mitteln u Wegen welche eine so genannte Delikateße einzuschlagen pflegt, bin
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ich kein sonderlicher Freund. Ich will überhaupt gar keinen Dank, u eben
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deswegen mag ich wohl daß man mich sieht. Es gilt in einem hohen Grade v mir,
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was Tacitus v den alten Deutschen sagt:
muneribus gaudent, sed nec data
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imputant, nec acceptis obligantur.
Darum mache ich ungern Schulden; aber
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wer zu schenken weiß, der schenke mir so viel er will u mag. – Genug hievon,
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wiewohl mir Herz u Mund voll von Dingen ist die ich darüber noch zu sagen
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hätte. – Gebe Gott daß Sie sich zur Reise entschließen! In diesem Wunsche
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liegt viel viel unausgesprochenes.
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Es ist der Prinzeßinn von Gallitzinn geschrieben worden,
daß
wenn Sie ein
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andres Amt zu haben wünschten, als das Sie gegenwärtig bekleiden, man
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Ihnen leicht dazu würde verhelfen können. Es käme darauf an daß Sie etwas
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schickliches anzugeben wüßten.
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Buchholtz ist mir unaussprechlich lieb geworden. Er setzt seine Geschichte für
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Sie auf, die auch ich zu lesen bekommen soll. Bald soll ich einen Besuch v ihm
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erhalten. Zu Münster waren wir sehr gestört; hier werden wir einander in
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Freyheit genießen. O, daß ich auch Sie einmahl unter meinen Bäumen hätte!
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Sie haben in meinem Briefe vom
Oct
den Fingerzeig auf Ihre †Züge S. 184
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nicht finden können. Das wundert mich, da ich die Stelle aus dem 73 Psalm,
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(daß in den †Zügen der 83 Psalm v 21. 22. angeführt wird, hielt ich, u halte ich
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noch für einen Druckfehler, so auch Buchholtz) auf die Sie in der Note
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hinwiesen, wörtlich einrückte. Sie antworteten: „Das Kind, das nichts weiß, ist
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deswegen kein Narr, noch Thier, sondern bleibt immer ein Mensch
in spe.
“
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Ihre jüngsten Briefe enthalten manches, worüber ich Erläuterung wünschte;
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das ich nicht verstehe, oder nicht reimen kann: aber ich mag Sie nicht
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unaufhörlich plagen. Vielleicht erhalte ich neues Licht, wenn Sie mir auf meinen
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zweyten
letzten Brief an Mendelssohn etwas sagen.
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Leßings Theologischen Nachlaß habe ich erst vor 4 Tagen erhalten, u mit
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großem Intereße gelesen. In Beziehung auf meinen Handel mit Mendelssohn,
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war mir der Aufsatz
N
o
12, über das
Χ
stenthum der Vernunft sehr
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willkommen. Daß sich die Anmerkungen zu dem Kanzeldialog nicht gefunden haben, ist
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mir unbegreiflich u herzl leid.
S. 445
Mein zweyter Sohn, Georg Arnold, ein 17jähriger Knabe, der mir schon viel
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Sorge gemacht hat, u noch immer viel Sorge macht, geht auf den Herbst nach
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Zelle zu meinem guten Onkel, dem
General Superintendenten
. Ich suchte einen
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Hofmeister, der meinen Sohn noch ein Jahr unter meinen Augen unterrichten,
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u dann nach Göttingen begleiten sollte. Den Hofmeister hat mir der Onkel
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ernstlich abgerathen, u dabey
den
das höchst freundschaftliche
n Vorschlag
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Anerbieten
gethan, meinen Sohn auf einige Monathe zu sich ins Haus zu
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nehmen, u ihn nachher in Begleitung zweyer seiner Enkelsöhne,
ganz
die
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äußerst wackere
Jünglich
Jünglinge seyn sollen, nach
Gottingen
reisen zu
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laßen. Von diesen beyden Jünglingen studiert der eine Theologie, der
andre
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die Arzeney, mein Sohn
die
Rechte:
Es wäre schön, wenn Sie für gut finden
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könnten, Ihren Johann Michael den 4
ten
Mann seyn zu laßen! –
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An den guten Nachrichten die Sie von Ihrem Hill aus Rom erhalten haben,
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nehme ich herzlichen Antheil. Ich bedaure daß ihn sein Weg nicht über
15
Düßeldorf geführt hat, u wundre mich fast darüber, da er in Zelle u in Frankfurt war.
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Den Versuch über die Existenz einer materiellen Welt habe ich mit großem
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Vergnügen gelesen. Mit dem Buche des Jesus Sirach für jedermann habe ich
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hingegen nicht fertig werden können, u nachdem ich hin u wieder ein paar
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Seiten drin gelesen hatte, es für immer weggeworfen.
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Haben Sie in der Allgemeinen die Rezension meines
Etwas
gelesen? In
21
dem
IV
ten
Theile des Anhangs sind endlich auch meine vermischte Schriften
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beurtheilt worden; ziemlich gnädig, aber mit einem albernen Hiebe begleitet,
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der vermuthlich Herdern treffen soll.
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Mein Befinden ist ganz leidlich. Aber Leni ist mir auf der Reise krank
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geworden, u kann sich noch nicht recht wieder erhohlen. Wir giengen von Münster
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nach Langendreher, dem Rittersitz des
Schwedi
hollandischen Gesandten am
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Schwedischen Hofe,
von der Borch
,
deßen rechtschaffene fromme Frau mir vor
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3 Jahren durch Lavater empfolen wurde. Ich hoffte den HE v Reck, der in der
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Nachbarschaft wohnt, dort zu sehen; er war aber
verreist
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Leben Sie wohl, Mein trauter lieber Hamann, u schreiben Sie bald Ihrem
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Freunde F. Jacobi
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 50 f.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 77 f.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 99–102.
ZH V 443–445, Nr. 838.
Zusätze fremder Hand
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443/4 –5
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Johann Georg Hamann |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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443/4 |
No 11 . ]
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Hinzugefügt nach der Handschrift. |
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443/37 |
raumen ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: räumen |
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444/15 |
daß ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: daß, |
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444/23 |
Oct |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Oct |
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444/35 |
N o |
Geändert nach der Handschrift; ZH: No |
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445/3 |
General […] Superintendenten] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: GeneralSuperintendenten |
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445/7 |
Anerbieten ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Anerbiethen |
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445/9 |
Gottingen ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Göttingen |
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445/10 |
andre ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: andere |
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445/11 |
Rechte: ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: Rechte. |
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445/27 |
von der Borch |
Geändert nach der Handschrift; ZH: van der Borch |
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445/29 |
verreist ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: verreist. |