840
446/13
Kgsb. den 1
Junii
85.
14
Herzenslieber Jacobi-Jonathan, Ihr Brief fand mich, wie ein angenehmes
15
Frühstück,
sedentem in telonio,
da ich den ersten Tag des ersten Monats
16
vielleicht für das ganze Jahr gearbeitet habe. Die ganze Einnahme meines
17
Lagergeldes macht kaum ⅓ meines Gehalts, und die heutige fast ⅓ des ganzen
18
vorigen Jahrs, wenn alles baar eingeht, was ich zu Papier gebracht; denn noch
19
ist kein Heller in der
Caße
. Dem sey wie ihm wolle; so versprech ich mir von
20
diesen
auspiciis
ein wunderbares
Jahr
21
Meine Bittschrift um einen Urlaub von 3 Monathen
höchstens
war schon
22
gestern fertig, nachdem mein Freund Hippel sein
fiat copia
dazu gegeben, und
23
wurde heute bey unserm
Provincial-Director
eingereicht, sehr liebreich wider
24
Erwarten aufgenommen, mit der Versicherung, daß es mit der ersten Post
25
unter Begleitung eines günstigen Berichts
abgehen
und die
Resolution
mir
26
allsobald mitgetheilt werden sollte. Diesen Abend begegnete mir einer der
27
Directions-Secretaire,
u meldete mir von selbst, das alles schon zur
Expedition
28
wäre. Die Sache ist nun also einmal im Gange, und ich gehe gerade zu.
29
Ich habe die ganze Lage der Umstände zum Grunde gelegt, und die reine
30
Wahrheit zur Einkleidung des gantzen Rätzels gebraucht. Wegen meiner
31
Gesundheit, die zum Leben gehört, gehe ich nach Halle einen Artzt zu Rath zu
32
ziehen, zu dem ich Vertrauen habe, weil ich ihn liebe – nach Frankfurt an der
33
Oder, weil mich einer meiner nächsten Freunde daselbst zu Anfang
Julii
34
erwartet, mit dem ich wichtige häusl. Angelegenheiten abzumachen habe. Dies ist
35
auch wahr, weil ich das mir anvertraute bisher blos zum Besten meiner Kinder
S. 447
verwaltet habe und diese Gabe der Vorsehung zu nichts als diesem Behuf beßer
2
und sicherer anwenden kann. – So liegt alles nach der
letzten Abrede
und so
3
hab ich es zu Erreichung meiner Absicht angewandt. So bald ich Erlaubnis
4
erhalte, gehe ich gerade zu meinem
Ziel
, den ich als meinen
Beruff
ansehe.
5
Sollte wider Jedermanns Vermuthen die Antwort der
Gen. Administration
6
mir Schwierigkeiten in den
Weg legen;
so würde mir kein Bedenken machen zu
7
der grosmüthigen Prinzeßin meine Zuflucht zu nehmen. Gott lob! daß ich in
8
Ansehung des
Stillschweigens
durch Ihre Nachrichten beruhigt worden
9
bin, und daß weder Krankheit noch Verdruß oder Misverständnis daran schuld
10
sind – sondern angenehmere Vorfälle. Wenn der Wind zu meiner Reise so
11
günstig bleibt, wie er jetzt meine ganze Seele durchweht – so will ich nichts
12
wißen, verlange keinen Buchstaben noch Heller mehr. So wenig ich bedenklich
13
gewesen die
Zinsen
für meine Kinder
anzuwenden;
mit eben so wenig
14
Gewißen werde ich, und mit eben so viel Oekonomie, als ich fähig bin, den
15
Hauptstock zum Bedarf meiner
Reise
angreifen. Sie wird in jedem Fall
Cur
für
16
Leib und Kopf seyn, wenn nicht währendes Gebrauchs, gewiß in der Folge zu
17
meiner Erholung wohlthätig werden.
18
Der Apostel Ihres Namens sagt: Siehe
ein klein Feuer, welch einen
19
Wald zündets an
! Wie leicht ein
Wald von Grillen
in meinem Gemüthe
20
aufschießt durch die Feerie meiner dithyrambischen Einbildungskraft, ist mir
21
noch unbegreiflicher. Außer der hypochondrischen Furcht wegen meines
22
Reisepaßes,
quälte ich mich mit der getäuschten Erwartung bey der wirklichen
23
Erscheinung meiner lächerl. Gestalt, und leeren Figur, daß ich mich selbst nicht
24
auszustehen und zu leiden im stande bin – und je m
an
ehr man mir
25
zuvorkommt, desto verstockter und ärgerl. über mich selbst werde, und an allem irre,
26
was mich umgiebt. Ist noch einige Erleichterung von diesem
Radical
Uebel
27
möglich, so bin ich auch der einhelligen Meinung, daß nichts in der Welt mir so
28
zuträglich seyn wird, als der
Vor
- und
Nachschmack
einer solchen Wallfahrt
29
und heil. Kreuzzuges, der seit so viel Jahren wie ein
Embryo
in meinem
30
Gemüthe die tollsten
molimina
und
saltus
gemacht –
31
den 2
Junii
auf der Loge.
32
Den guten Empfang Ihrer Handschrift habe bereits bescheinigt, und um
33
Gedult gebeten. Ich
zweifele
daß es weder Ihnen noch mir glücken wird von
34
Mend. verstanden zu werden. Wie schwer wird es mir, mich bisweilen selbst zu
35
verstehen – geschweige einen andern. Hier liegt der Knoten, mit dem man erst
36
fertig seyn muß; sonst ist es beßer
schweigen
und sich
enthalten
, wozu sich
37
auch Mendelssohn entschloßen haben soll und eine Erklärung davon
S. 448
herausgeben wird. Ein Frauenzimmer in Böhmen übersetzt seine Schriften ins Ital.
2
und hat
sich
ihm die erste Nachricht von der in Prag gedruckten Abhandl.
3
gegeben, die damals eben unter der Preße gewesen. Da komt es heraus, daß sie
4
ihm von einem gewißen
E
i
yerle
ungefehr dem Namen nach gestolen
5
worden, der seine Bibliothek einmal in Ordnung gebracht haben soll. Wegen seiner
6
neuen Schrift an der er arbeitet habe auch neue Nachrichten, die aber verschieden
7
sind; Morgengedanken über Gott und Schöpfung – oder über das Daseyn u die
8
Eigenschaften Gottes.
9
Kant fand gestern bei HE
Green,
einem engl. Kaufmann, wo er alle
10
Nachmittage bis 7 Uhr zubringt. Er sagte mir mit dem HE von
Elditten
über sein
11
Fundament der Kräfte
correspond
irt
zu haben, der sich die Freyheit genommen
12
Stellen aus seinem Briefe einzurücken, ohne ihn um seine Erlaubnis gefragt
13
zu haben. Als
Decanus
hatte er zum Glück die
Censur
dieser Schrift gehabt und
14
hätte diesen Unfug verboten. Die Schrift selbst ist mir versprochen worden, und
15
gehört zu meiner jetzigen Samml. Die Stelle aus meinen †zügen ist eine
16
meiner liebsten Ideen,
an denen ich brüte
; ich vermuthe daß ich selbige dem
17
Character in
Rousseau Eloise
zu verdanken habe. Der Druckfehler in der Zahl
18
des
Ψ
ist in meinem Exemplar corrigirt und vielleicht auch in dem nach Münster
19
geschickten. Habe endl. einmal des
Harris
,
(deßen
Hermes
oder philosophische
20
Sprachlehre ich besitze) Werk über die
Praedicamente, Philosophical
21
Arrangements,
nach denen ich schon Jahre lang neugierig gewesen nebst seinen
22
Philological Inquiries
zu sehen bekommen und habe Hoffnung auch des
Monboddo
23
Ancient Metaphysicks
diesen Herbst zu erhalten, mit deßen Werk über die
24
Sprache ich eben nicht zufrieden bin. Lauter Elemente zu einer
Metakritik
25
der Vernunft
, von der ich ohne
Erfahrung u Ueberlieferung
keinen
26
Begriff habe. Nicht
Cogito; ergo sum,
sondern umgekehrt, oder noch
27
Hebräischer
Est; ergo cogito,
und mit der
Inuersion
eines so einfachen
Principii
28
bekommt vielleicht das ganze System eine andere Sprache, und Richtung
.
29
Die letzten Bände der Allg. Bibl. sind mir fast gantz unbekannt und fremde
30
geworden – auch das Museum ist mir noch nicht aufgestoßen; weil eine Art von
31
Schicksal und Zufall
auch über meine Lectür waltet und schaltet.
32
Erlauben Sie mir daher, weil es Ihnen auch zuweilen so geht, Sie auf die
33
Werke des
Duval
aufmerksam zu machen. Die Nürnbergsche gelehrte Zeitung
34
hat den Schiblemini auch recensirt auf eine für mich sehr schmeichelhafte Art,
35
welche der Recensent wohl nicht gefühlt hat. Die allgemeine
LitteraturZeitung
36
ist die einzige, welche ich ordentl. zu lesen oder anzusehen bekomme und sie
37
durch meinen Sohn dem Pr Kant, deßen Zuhörer er ist sogl. zufertige.
S. 449
Ich habe nur den Einen Sohn und er ist der älteste von meinen 4 Kindern.
2
Der Junge hat leider! auch eine gelähmte u gebrochene Aussprache. Er ist mir
3
unentbehrlich zu meiner Reise, und ich habe gleich dies
halbe Jahr seines
4
Studierens für einen verlornen Versuch gehalten, es ihm selbst und seinen
5
Lehrern gemeldt, und ihn sich selbst überlaßen. An Neigung zum Studiren
6
fehlt es ihm nicht, auch nicht an Fähigkeit. Er hat das Glück geliebt zu werden
7
und, möcht ich auch sagen, mehr geachtet, als er es mir noch zu verdienen
8
scheint – auch hierinn Seinem Vater ähnlich. Aber keins meiner Kinder hat das
9
Vertrauen
zu mir, – und durch einen eignen
Contract
verheelen Sie mir
10
manche gute Seite, die sie haben, und zeigen mir immer die unangenehmste – –
11
Gesetzt aber, daß meine Gesundheit auch nicht durch eine Reise gebeßert
12
würde; so habe ich desto mehr Vertrauen von dem Nutzen, den mein
Johann
13
Michael
davon haben wird, und von dem Vergnügen, das auf ihn wartet, und
14
auf die Väter unserer Freundschaft fortgepflanzt und zu rechter Zeit
15
eingepfropft zu sehen.
16
Da kamen 3 jüdische Kinder aus Berlin in Gesellschaft eines Boker oder
17
Lehrmeisters, mit dem ich Umgang gehabt habe, und der sie wider nach Hause
18
begleiten wird. – Zu Mittag bin ich auch eingeladen zum Kriegsrath Hippel –
19
und der gestern
auspicieuse
Tag hätte sich leicht mit einem großen Unglück
20
endigen können, weil 2 Kisten von
Vitriol
Oel, da der Packhof jetzt an Waaren
21
erstickt, und ihr Innhalt durch die Aufschrift von Olitäten unbekannt gewesen,
22
sich entzündet, aber gleich ins freye gebracht, und der Schreck gleich gelöscht
23
gewesen
worden
.
Um die Einl. nicht mit dieser Post zu verspäten, muß ich in
24
Besorgung neuer Hinderniße schließen. Das wesentl. meiner eilfertigen
25
Antwort besteht in der mitgetheilten Nachricht von dem
ersten Schritt
den ich zu
26
meiner Reise gethan, deßen Erfolg wir ruhig abwarten müßen. Der Reisewagen
27
ist bereits
geschmiert
und ich habe deshalb nicht die
geringste Sorge
, noch
28
unzeitige Bedenklichkeit. Daß ich mich
weder zu einem Amte noch
29
gesellschaftl. Leben schicke
, werden Sie selbst bald beurtheilen können. Unter allen
30
mögl. Posten ist mein
gegenwärtiger
der
einzige u beste
, dem ich mit gutem
31
Gewißen vorstehen kann. Wären unsere
Fooi-
gelder geblieben: wo würde ich
32
wie der reiche Mann im vorigen SonntagsEvangelio leben können, alle Tage
33
herrlich u in Freuden. Dieser ungerechte Raub drückt meine Brüder nach dem Fleisch
34
mehr (auch vielleicht
weniger
) als mich, u. der
Antheil
den ich daran nehme,
35
ist vielleicht im Grunde patriotische Schwärmerey – oder sympathetische Grille.
36
Herder schreibt mir von
Leßings Evangelisten
, nach dem er begierig ist,
37
ohn daß ich weiß was er damit sagen will oder darunter versteht. –
S. 450
Der Mittag hat sehr lange für mich gewährt; ich lief bey HE. Comm. Rath
2
Fischer an um zu
wißen, wenn
er seine Briefe zumachte; ich kam aber so
3
erschöpft, so schläfrich nach Hause – auch geht mir die kalte Witterung wider so
4
nahe, daß ich keiner Gedanken und Zusammenhanges fähig bin. Mein jüngstes
5
Mädchen ist mir auch bettlägerich an einem so starken Husten, daß das Weiße
6
in beyden Augen blutroth ist. Alles geht in meinem Hause und Oberstübchen so
7
durcheinander – wie es diesem Briefe anzusehen ist. Verleger Hartknoch wird
8
auch heute erwartet – ich aber sehne mich noch bey hellem Abend nach meinem
9
Lager.
10
Gesundheit, Ruhe, Freude und Wärme beglücke Ihr Tempe, und mache
11
Ihren Aufenthalt daselbst angenehm und gedeylich. Daß alles zu Münster nach
12
Wunsch geht, vermehrt meine
Ungedult
da zu seyn, als Augenzeuge und
13
Mitgenoße. Was betrübst du dich meine Seele! und bist so unruhig in mir –
14
Harre auf Gott, denn ich werde Ihm noch danken – Vielleicht ist meine
15
ungezogene, ohnmächtige Ungedult selbst ein stotternder Dank.
16
Gottes Seegen über Sie, Ihr ganzes Haus und alles was Ihnen lieb und werth
17
ist. Das dies der letzte Brief sey in gegenwärtiger Lage von Ihrem alten Freund
18
u Diener
JGH!
der alles Schreiben für das schaalste, leerste, elend jämmerlichste
19
Ding des menschl. Lebens hält – nicht mehr Liebhaber dieser Furie, weiland Muse! –
20
Adresse mit Siegelrest:
21
An / HErrn Geheimen Rath
Jacobi
/ zu /
Pempelfort
.
22
Vermerk von Jacobi:
23
Königsberg den 2
ten
Juni 1785
24
J. G. Hamann
25
empf. den 12
ten
Provenienz
Universitätsbibliothek Erlangen, Ms. 2035.
Bisherige Drucke
Friedrich Heinrich Jacobi’s Werke. Hg. von Friedrich Roth. 6 Bde. Leipzig 1812–1825, IV 3: J. G. Hamanns Briefwechsel mit F. H. Jacobi, 51–56.
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 78–83.
Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel, I 4: 1785. Hg. von Albert Mues, Gudrun Schury und Jutta Torbi. Stuttgart-Bad Cannstadt 2003, 104–108.
ZH V 446–450, Nr. 840.
Zusätze fremder Hand
|
450/23 –25
|
Friedrich Heinrich Jacobi |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
446/19 |
Caße ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Casse Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Caße |
|
446/20 |
Jahr ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Jahr. |
|
446/25 |
abgehen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: abgehen, |
|
447/6 |
Weg legen; ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Weg legen, Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): Weg legen; |
|
447/13 |
anzuwenden; ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: anzuwenden, |
|
447/22 |
Reisepaßes, ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Reisepaßes |
|
447/33 |
zweifele ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: zweifele, |
|
448/10 |
Elditten |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Elditten |
|
448/11 |
correspond irt ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: correspondirt |
|
448/19 |
Harris , (deßen ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Harris (deßen |
|
448/22 |
Monboddo |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Monboddo |
|
448/24 –28
|
Metakritik der […] Richtung] |
In der Handschrift von Jacobi unterstrichen. |
|
448/35 |
LitteraturZeitung ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Litteratur-Zeitung |
|
449/23 |
worden . |
Geändert nach der Handschrift; ZH: worden. |
|
449/34 |
Antheil ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Antheil, |
|
450/2 |
wißen, wenn ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: wißen wenn Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): wißen, wenn |
|
450/12 |
Ungedult |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Ungedult , |
|
450/18 |
JGH! ]
|
Geändert nach der Handschrift; in ZH Absatz nach „JGH!“ Korrekturvorschlag ZH 2. Aufl. (1988): kein Absatz |
|
450/21 |
Jacobi |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Jacobi |