844
455/2
Kgsberg den 19
Junii Dom IV. p Tr.
85.
3
Mein auserwählter, mein gewünschter Sohn,
4
In so einem Fall ist es Recht, Vater und Mutter
nicht
zu
nur
zu vergeßen,
5
sondern auch zu verlaßen –
Agglutinandum
est amori.
Daß Sie mich weder
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vergeßen noch verlaßen, hat mich Ihr letzter Brief überzeugt, den ich den 15 d.
7
erhielt. Wer eine Ehefrau findet, der findet was Gutes, und kann guter Dinge
8
seyn im HErrn, sagt Salomo Spr.
XVIII.
22. Dies sanfte Joch, diese leichte
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Last gedeye auch zu Ihrer Erqvickung und zum neuen Genuß des Lebens!
10
Wir haben schon beyde einmal über d
er
ie
harmoniam praestabilitam
unsers
11
Gestirns gescherzt – Zur Fortsetzung dieses Scherzes muß ich Ihnen melden, daß
12
jedermann d
ie
en Schattenriß für meiner ältesten Tochter ihren hält – und ein
13
junges Mädchen, welches einen glückl. Anfang im Zeichnen gemacht,
14
auch
und heute meine beyden jüngsten Töchter besucht, auch dieser Meinung ist, aber
15
nicht in Ansehung der
Stirne
–
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Wenn ich auch nicht schreiben kann, so muß ich Ihnen doch wenigstens
17
antworten. Die einzige herrschende Idee meines Gehirns ist auch
Reisen
. Ich
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habe den 1 d. eine Bittschrift bey der hiesigen
Provincial-Direction
deshalb
19
eingegeben, um mir die Erlaubnis dazu auszuwirken, wozu selbige auch willig
20
und bereit war. Der Bericht ist deshalb auch mit derselben Post abgegangen,
21
aber noch keine Antwort von der
General-Administration
eingelaufen, welche
22
mir
Director
Stockmar sogleich beym Empfange mitzutheilen versprach. Mein
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Entwurf war gantz Ihren
Datis
gemäß eingerichtet, zum Anfang des
Julii
in
24
Frankfurt zu seyn, und meiner Gesundheit wegen
D.
Lindner in Halle
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consuliren zu können. Seitdem hat mir letzterer seine Abreise nach Jena gemeldet –
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und Ihre
Prolongation
bis zum August kommt mir auch zu statten. Mit oder
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gegen den 1
Julii
schreib ich an
Mr. de la Haye de Launoy
selbst, und habe durch
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das bisherige Stillschweigen des eigentl.
Chef
unsers
Departements,
Mr.
29
Grottard,
ein Recht solches zu thun, – und gleichsam an ihn zu
appelli
ren. So
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bald ich Antwort erhalte, schreibe ich und melde zugleich meine Marschroute.
31
den 20 –
32
Ich bin der Meinung unmaasgeblich, daß Sie mich ruhig in Münster selbst,
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oder in
Düßeldorf
abwarteten, und einer so weiten Reise bis nach Frankf.
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überhoben seyn könnten. Ich möchte gern die Geburtstage, welche im
August
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fallen, in
Weimar
feyren – und von da nach
Wandsbek
eilen – und dann
S. 456
nach Düßeldorf, wo mich
Jacobi
so lange beherbergen wird. Dies wäre
2
Anfangs
Sept.
Der Zwischenraum bis zum 20 8
br.
könnte durch eine kleine
3
Ausflucht, die ich immer
in petto
gehabt, ausgefüllt werden – und dann würde ich
4
Ruhe
im eigentlichsten Verstande haben, um bey Ihnen zu
Hause
zu seyn.
5
Ich bin gewohnt in einem Spannbette ohne
Vorhänge
zu schlafen – habe
6
leider! 2mal des Tags
Caffé
nöthig, trinke zu Hause des Mittags Waßer und
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schreite des Abends um 8 Uhr zur
dritten
Pfeife bey einer
Bouteille
Bier, das
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ich bis zum Schlafengehen haben muß, welches gewöhnlich um 10 Uhr geschieht.
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Auf 4 Monathe werde ich
wenigstens
Erlaubnis bitten müßen. Die
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Erklärung des
Mr. de la Haye de Launoy
ist immer gut im Nothfall, und die
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grosmüthige Fürstin würde durch eben den
Canal
mein Gesuch einer
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Verlängerung auf einen oder 2 Monathe mehr begünstigen können, wenn ich Ihnen und
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mir selbst nicht zur Last bin – welches ich immer
besorgen
muß
14
Johann Michael – (ich bin
George
) ist mein unumgänglicher Reisegefährte,
15
hat vorige Woche den Anfang gemacht, um sich recht zu meinem Kammerdiener
16
zu
qualifici
ren, das Barbieren auszulernen, ist mit 7 grauen Bärten im Königl.
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Hospital bey der ersten Probe fertig geworden, und nur einer hat einen kleinen
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Malchushieb in sein Ohr bekommen. Noch hab ich aber nicht Herz ihm meinen
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philosophischen Schimmel anzuvertrauen. Wie ängstlich ich von Kleinigkeiten
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abhänge! und was für Einfluß selbige auf meine Zufriedenheit haben!
21
Auch meiner philosophischen Neugierde war kein Experiment zu kostbar; aber
22
die Noth eines Hausvaters hat mich vielleicht sparsam gemacht, ohne die rechte
23
Klugheit der
Oekonomie
, worunter ich ebensoviel verstehe, als Demosthenes
24
unter seinem dreymal heiligen
Actio
.
Die philosophische Neugierde
ist
25
dieser
jener
Cardinal
Tugend meiner reinen Vernunft und zu empirischen
26
Willens eben nicht günstig. Die Evidenz meines Besuchs – und meine mehr als
27
sokratische
Unwißenheit
wird vielleicht eine uns beyden heilsame Cur seyn –
28
Ihr Stillschweigen beunruhigte mich blos wegen Ihrer
Gesundheit
, für
29
die ich schlechte Folgen von der kalten Witterung
besorgte:
Den 1
Junii
beruhigte
30
mich darüber Jacobi, verschwieg mir aber den
angenehmen
Vorfall, den ich
31
von Ihnen Selbst erfahren sollte.
32
Den 4
Junii
kam Hartknoch mit einer jungen
Schweitzerin
an – deren bloßer
33
Name (
Tobler
)
eben
die Wirkung einer ausgeschütteten Salbe auf mein
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benebeltes Gehirn that. Sie hatte ein paar Zeilen von L. Denselben Mittag
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speiste bey Hippel und im Hinwege brachte mir ein jüdischer Kaufmannsdiener
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das große
Rouleau
mit Kupfern. Alles überfiel mich so auf einmal, daß ich
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meiner Sinnen nicht mächtig war. Hartknoch eilte mit seiner Schwägerin,
Me
S. 457
Courtan,
die meine
Gevatterin
ist und Ihrer Gesundheit wegen in ähnl.
2
Verhältnis mit mir sich befindt, nach Riga, daß ich kaum L. liebreiche
3
Empfehlung seiner Landsmännin zu erkennen im stande war. In diesem
Billet doux
4
vom 8 May stand mit Lavaterscher Hand geschrieben: „B. hat eine Brust
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gefunden, an der Sein Haupt ruhen kann. Nun noch ein Amt, eine Last, ein Joch –
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und der Mann ist, was Er seyn muß – durch einen Zufall, den ich als
Willen
7
des alleinwollenden verehre – Unser (liebes Gevattermännchen) B. weiß noch
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nicht recht mit Bestellungssachen umzugehen – Nicht
mir
, Ihm haben Sie die
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– Meßiade – mir nur ein Rouleau Kupfer zu danken, wenn es einmal
10
ankommen ist“ –
11
Ich weiß also, nicht mehr aus Ahndung, an wen ich mich wegen der Folge der
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Meßiade zu halten habe – und Johannes L. schreibt sehr
gerade
, ohn Lineal,
13
blos durch sein glückliches Augenmaas. Alles übrige mündlich, so Gott will und
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wir leben – Kl. Brief vom 27
Nov. pr.
habe erst den 1 Jänner erhalten und
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darauf den 11 April durch Hartknoch geantwortet – ohngeachtet das Antworten
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sich von selbst verbietet, wenn man nicht schreiben kann. Gestern habe die beyden
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letzten Theile des Zimmermanns über die Einsamkeit durchgepeitschet und mit
18
Verdruß gesehen, daß er auch in den Zank mit
Oberreit
eingeflochten ist.
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Letzterer hat durch seine Antwort beynahe allen Credit verloren – und Schweigen
20
ist beßer öfters als Antworten für beide Theile. Eins der neuen Bücher, das
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Kl. geschrieben ist in einem Pack des Hartkn. zurückgeblieben in Berl. Ich mag
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mich selbst nicht einmal, und noch ungerner die Schriften meiner Freunde
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beurtheilen – auch jeder Schriftsteller muß
seines Glaubens leben
. Bey einer
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persönl. Bekanntschaft wird alles ausgegleicht werden können.
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Heute fängt sich unser große Jahrmarkt an – der mich weiter nichts angeht,
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als daß ich ihn bey aller Entfernung
mecum porto.
Johann Michael ist mit
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seinem Freunde Raphael Hippel schon um 3 Uhr Morgens auf die Beine
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gewesen zu einer botanischen Ausflucht, wozu ihn der junge Graf Kayserling seine
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Kutsche angeboten – und durch einen Zusammenfluß wunderbarer Umstände
30
hab ich mich heute an
Weickardts Biographie
erhitzt und muste ein Glas
31
ungarischen Wein dazu trinken. Dieser Brief muß fortgehen, er mag gerathen
32
wie er will –
33
Herder schickte mir 81 das damals gantz neue Werk Ihres
St
Martin
welches
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aber schon 57 zu
Edinburg (quasi)
ausgekommen seyn soll. Es hat keine
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Wirkung bey mir gemacht. Der erste Theil des
Tableau
fiel mir übersetzt in die
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Hände, und machte mein Urtheil gantz irre, bis ich gegen das
Ende
kam, wo ich
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wider Luft zu schöpfen im stande war – ohne mich um den 2
ten
Theil bekümmert
S. 458
zu haben. An jenem Ende schien ich handgreifliche Beweise zu finden zur
2
Entscheidung. Ich kann mich aber auf nichts als dunkle Eindrücke besinnen.
3
Ein reicher Kaufmann, der seinen Handel aufgegeben, und weil er keine
4
Erben hat, in Ruhe lebt, begegnete mir vor vielen Wochen und erkundigte sich
5
nach meinem Sohn, der bey seinem Aufenthalt auf dem Lande einen Mann hat
6
kennen lernen, der immer bey jenem einkehrt ohne sonst fast jemanden in der
7
Stadt zu besuchen. Ohngeachtet unserer von meiner Seiten sehr entfernten
8
Bekanntschaft that er sehr vertraut mit mir, redte von dem vielen Guten, was
9
Hofrath Dehn ihm von meinem Jungen erzählt, und frug ob er mir Glück
zu
10
wünschen sollte zu einer Freygebigkeit, die er gehört – Ich bat mir die Erlaubnis aus
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seinen Freund auch so bald er wider nach der Stadt käme, bey ihm kennen zu
12
lernen, weil man ihn sonst nirgends hier zu sehen bekäme. Weil ich die Sache
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nicht leugnen mochte, so versicherte er mich seiner herzl.
Mitfreude
. Ich freue
14
mich auch, Herr Fischer, wenn andere
für mich Guts thun
und ich dadurch
es
15
selbst zu thun überhoben
bin. Der Mann schien mir doch den Stich mehr zu
16
fühlen, als ich es ihm zugetraut hab. Sein Freund Dehn muß ihn seit der Zeit
17
nicht besucht, oder er es vergeßen haben mich davon zu
averti
ren.
18
Gerathen hätte ich eben nicht zu
Reise
Ihrer Reise – aber
lieb ist es mir
19
sehr lieb, Ihre Resultate einmal zu hören, ob sie mit meinen
praeiudicatis
20
stimmen werden. Das eine Buch liegt schon vor mir, und denke das andere auch
21
hier aufzutreiben, wenigstens die jetzt erst vollendete Uebersetzung – auch ein
22
Diademe des Sages
gehört dazu. Um meinen Durst zu stillen, ist jedes neben
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mir fließende Bächlein ebensogut, als jene tiefe unterirrdische Brunnen, die gar
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zu kühlend für mich sind. Wir müßen uns erst einander sehen, um von
25
Hypothesen zu
reden
. Weder ein Vorleser noch
Amanuensis
ist für mich, weil ich
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zum Verstehen und Urtheilen
selbst
lesen
und
selbst
schreiben
muß.
selbst =
27
mit eignen Augen, mit eigner Hand.
28
Wir waren eben mit unsern Mittag fertig und beym Butterbrodt, wie mein
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alter Verleger Kanter mich besuchte. Ich holte das Schattenbild – da, mein
30
lieber Director, kennen Sie das? – Mit seiner ihm natürl. Zuverläßigkeit rief er:
31
ihre Tochter! Die Frage nach dem Künstler wurde verredt und ich lies ihn dabey.
32
Was sind alle Beqvemlichkeiten
unter Weges
– – wenn man nicht zu Hause
33
ist. Daheim! daheim! Eine Klopstocksche Ode auf die deutsche Göttin
34
Hamsoena
– Nur
Schade
daß
keine
einzige meiner Schwärmereyen poetisch ist.
35
Ich habe diesen ganzen Nachmittag im
St. Martin
gelesen; es geht mir aber
36
mit ihm, wie mit dem
Spinoza.
Beyde widerstehen meinem Magen, an dem die
37
Schuld vielleicht liegen mag. Es wird mir lieb seyn, wenn Sie mir
a posteriori
S. 459
mehr zu sagen im stande seyn werden, als ich
a priori
zu ahnden vermag. Alles
2
ist eitel, sagt der Prediger.
Sunt lacrymae
rerum
– o quantum est in
rebus
3
inane!
Ich weiß keinen andern Rath, als‥ Iß dein Brodt mit Freuden, trink
4
deinen Wein mit gutem Muth – Brauche des Lebens mit Deinem
Weibe
das
5
Du lieb hast, so lange Du das eitele Leben hast, das Dir Gott unter der Sonne
6
gegeben hat, so lange Dein eitel Leben währt. Nimm auch das Kreutz deßelben
7
auf Dich und trag es Ihm zu Liebe und Ehren nach. Er hat für das Ende wie für
8
den Anfang deßelben – für
alles
gesorgt. Sammlen Sie nur recht viel für
9
unsere October Abende – und für das
vacuum immensum
meines erschöpften
10
Kopfs bis auf ein
granum salis
,
das ich nicht gern mit allen gnostischen
11
Schläuchen vertauschen möchte. Also vom 20
Oct.
bis zum 11
Nov.
wenigstens
12
leb ich bey, mit und unter Ihnen, nicht wie ein Gast, sondern wie ein
Kind im
13
Hause
– und freue mich im Geist auf dieses Abendmal meines Lebens –
14
Gott sey Ihr
Schild
und
großer Lohn
! – Ohne Noth erwarte keine Zeile
15
von Ihnen, und werde das Nothdürftige nicht ermangeln zu melden.
16
Vergeßen Sie nicht, mein wohlthätiger Freund und Bruder in Geist und
17
Wahrheit! die Cardinaltugend eines jungen Hausvaters und einer jungen
18
Hausmutter, das Beyspiel häuslicher Oekonomie zur Schöpfung eines Paradieses
19
und der
besten Welt
daheim
!
20
Adresse von fremder Hand:
21
à Monsieur / Monsieur Bucholtz, / Seigneur de Welbergen /
Poste restante
.
22
den
19.
Jun.
85.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841 i.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 249–252.
Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 62–69.
ZH V 455–459, Nr. 844.
Zusätze fremder Hand
|
459/21 –22
|
Unbekannt |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
455/4 |
nicht zu nur ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: zu nicht nur |
|
456/13 |
muß ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: muß. |
|
456/29 |
besorgte: ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: besorgte. |
|
456/32 |
Schweitzerin ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Schweizerin |
|
456/37 |
Me |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Me. |
|
457/33 |
Martin |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Martin, |
|
458/14 |
es |
Geändert nach der Handschrift; ZH: es |
|
458/26 |
muß. ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: muß, |
|
458/34 |
Hamsoena |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Hamsoena. |
|
458/34 |
Schade ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Schade, |
|
459/4 |
Weibe ]
|
Geändert nach der Handschrift; ZH: Weibe, |