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468/7
Kgsb den 26
Junii Dom V. p Tr.
85.
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Mein auserwählter, mein gewünschter Sohn,
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Es bleibt bey diesem alten, mir einmal gegebenen Verhältniße – welches mir
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Ihre liebreiche Aufmerksamkeit noch fester und heiliger macht. Den 21. d. habe
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den ersten Brief nach Mannheim abgegeben. Den Tag drauf zu Mittag, da ich
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eben den ersten Suppenlöffel zu mir genommen hatte, schickte mir mein Nachbar
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der
Director
Stockmar durch einen seiner
Secretaires
die
Resolution
der
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General Administration
vom 10 d. zu, worinn mir die Erlaubnis zu einer Reise rund
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abgeschlagen wurde. Dieses mir und allen meinen Freunden gantz unerwartete
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und
paradoxe
Nein! vermehrte meinen Appetit, anstatt ihn zu schwächen. Ich
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folgte aber doch dem Rath eines Freundes den Morgen drauf durch ein
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Hausmittel die übergelaufene Galle ein wenig abzuführen. Denselben Abend kam
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der gewesene und gegenwärtig vor Anker liegende Hofmeister zu Graventihn,
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HE Scheller, unter deßen Aufsicht mein Johann Michael fast 2 Jahre gelebt,
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und bat um Herberge während seines hiesigen Aufenthalts. Trotz dieser
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innerlichen Unruhe und äußerl. Zerstreuungen, hab ich Gottlo
s
b! meine Andacht
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halten können, mit meinem lieben Jungen und Studenten zum ersten mal –
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Mittagsmahl haben wir bey unserm Oberbürgermeister, HE Kriegsr. Hippel
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gehalten.
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Also haben wir beyde jetzt
runde Gewißheit
, daß ich nicht reisen
kann
,
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nicht reisen
soll
. Diese runde Gewisheit, ist mir freylich lieber als die
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schmeichelhafteste Täuschung
, die mir hier Jedermann eingebildet und meine Furcht
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oder Ahnung für lauter Hypochondrie ausgab, und welche noch ein größer
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Uebergewicht durch Ihre und Düßeldorfsche Nachrichten aus Berlin erhielt.
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Wenn Ihre Vermählung den 15 d. vollzogen
worden,
so habe selbige im
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Geist
gefeyert
, ohne es zu wißen; denn S. Veit erhielt ich Ihren Brief vom
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26 May mit der Silhouette, deren
Eindruck
, wahrer oder eingebildeter, daran
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liegt nichts, mich für die Wahl Ihrer lieben Hälfte parteyisch macht.
S. 469
Siehe, Kinder sind eine
Gabe des HEr
r
n
, und Leibesfrucht ein
Geschenk
.
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Der Ihnen, mein auserwählter, mein gewünschter Sohn, ein freygebiges Herz
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geschenkt, sollte Er nicht Selbst freygebig gegen Sie seyn –
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Befriedigen Sie Ihre
philosophische Neugierde
, nur erwarten Sie keine
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wirkliche Erneuerung
von
St. M.
Diese Erwartung beunruhigt mich eben so
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sehr, als Ihre und meiner Freunde Erwartung von meiner elenden Gegenwart.
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Was für Freude kann es Ihnen machen einen alten, abgenutzten, gantz
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unvermögenden Mann kennen zu lernen, an dem Sie ein wahres Werk der
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Barmherzigkeit und des christlichen Mitleides gethan. Um Sie und meine Freunde
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davon mit aller
Evidenz
zu überführen, eilte ich in Gedanken über Weimar,
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Wandsbeck, Düßeldorf, Zürich und dachte in der Mitte des Octobers in Ihren
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Armen mich auszuruhen, und ein Zeuge Ihres häuslichen Glücks zu seyn – –
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Beydes Lachen und auch Zittern hätte den ganzen langen Weg in mir
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gewittert, ohne daß ich im stande gewesen wäre dasjenige zu genießen, was mir
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Gott zum Abendmal meines Lebens bereitet hat. Ich lebe mir wirklich selbst
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zur Last, und tauge zu keinem Amt, für keine Gesellschaft. Mein jetziger Posten
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ist der einzige, dem ich vorzustehen im stande bin, und ich wäre der glücklichste
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Sclav deßelben gewesen, auch der treuste deßelben vielleicht, wenn die
Canaille
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financiere
nicht durch den
infamen Fooi
enHandel sich
nicht
an unsern
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Biergeldern und Pfuy! Pfuy! vergriffen hätte und an meinen mehr als ich, dadurch
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leidenden Amtsgenoßen
– und mich durch das ergangene Nein! vom 10 d.
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gleichsam bey den Haaren zöge, wo nicht ihr
Retter
, doch wenigstens
Rächer
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zu werden. Ich eigene mir Ihre Ideen zu, die ich aus Ihrem Briefe entlehne,
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weil ich blos durch die Versetzung derselben von meinem dortigen auf meinen
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hiesigen
Beruff
einigen Sinn herauszubringen weiß. Aber das:
Artzt hilf
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dir selber
! verbietet mir, an andern zu pfuschern – Alles in mir stockt, nichts
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will von der Stelle –
28
den 29 –
29
Heute erhalte einen Brief aus Düßeldorf – und ich bin gantz allein, weil
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Joh. Michael mit seinem gewesenen Hofmeister gestern auf einem Schiff nach
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Pillau gereist. Es ist mir schlechterdings nicht möglich meine Gedanken i
ch
n
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Ordnung zu bringen, oder ich habe vielmehr gar keine; weiß Ihnen daher keinen
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beßern Rath zu geben, als den: sich während Ihrer Reise, meiner verdrüslichen
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Angelegenheit gänzl. zu entschlagen, damit die Zufriedenheit Ihrer lieben
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Genoßin, noch Ihre Aufmerksamkeit auf den Gegenstand und Endzweck Ihrer
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Wallfahrt nicht gestört werde. Ich bilde mir ein, daß Sie diese Reise für mich
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selbst thun, und es wird immer nützlicher für uns beyde seyn,
post peractos
S. 470
labores
einander zu sehen und mitzutheilen. „Seine Zeiten sind seine
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Geheimniße; erwarte Ihn“ Das Verhältnis der 3 Schwestern ist mir in einigen Stellen
3
nicht
liquide
gnug, vermuthlich weil es nach dem Leben gezeichnet ist; auch
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scheint mir der
muthwillige Ernst
den
gesetzten
beynahe auszustechen und
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zu übersehen. Es ist mir keine kleine Freude gewesen, Ihren Namen
auch
zum
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erstenmal gedruckt zu lesen. Sie sind es doch nicht, den Cramer in seinem
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Klopstock anredt. Der
Avis
,
der meinem hiesigen Freunde von dem dortigen
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Hof
factor
zugeschickt worden
, ist mir völlig unbekannt. Das Siegel Ihres
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jüngsten Briefes ist auf die gröbste Art aufgeklebt; ob dies zufällig geschehen,
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weiß ich nicht. Bey einem Einschluß ist der Zufall möglich und unschuldig.
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Ich habe die beyden ersten Abschnitte
des Erreurs et de la Verité
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durchgewatet. Es geht mir aber mit ihm, wie mit dem
Baruch Spinoza.
Das wenige,
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was ich davon verstehe, macht mich theils
gleichgiltig
, theils mistrauisch gegen
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alles übrige, was ich nicht verstehe. Das wichtigste für mich wird einmal seyn
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Ihre Erfahrungen mit meinen Ahndungen zu vergleichen. In St.
Nicaise,
den
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D.
Stark geschrieben haben soll, in diesem lächerlichen und verächtlichen Roman,
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den die Allgemeine Litteraturzeitung so ausposaunt, ist auch die Rede von diesem
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Haupt einer Secte. Seit Adams Fall ist mir alle
Gnosis
verdächtig, wie eine
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verbotene Frucht.
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„In einem treuen Arm sich seines Lebens freun
“
– Seinen Freunden giebt
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Er’s schlafend. Ich umarme Sie unter den treuesten Wünschen
in petto,
und
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küße Ihrer geliebten Lebens- und Reisegefährtin die Hände. Ohne neuen
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besondern Anlaß erwarten Sie keinen Brief, bis Sie im stande seyn werden, mich
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mit der Nachricht einer glücklichen Heimkunft zu beseeligen. Gott nehme Sie
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Beyderseits in
Seiner gnädigen und heiligen Obhut
. Ich bin leider! mehr als
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hypochondrisch, bey lebendigem Leibe ein kalter, stummer, todter Stein –
27
Johann Georg H.
28
Seine Zeiten sind seine Geheimniße; erwarte Ihn
! Das ist ein
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schönes wahres Wort der jüngsten Schwester. Verstehe ich die edle Kühnheit
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recht, ihre älteste mit einem
Dornbusch
zu vergleichen, vor
dem sie sich
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schmiegte, aber seitwärts um ihm auszuweichen
? Hab ich’s recht
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verstanden; so wünschte ich es nachthun zu können.
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Adresse von fremder Hand:
34
à Monsieur / Monsieur
Bucholtz
/ Seigneur de Welbergen / à
/
Poste restante
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Vermerk von Hamann:
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den 26. Jun.
85.
Provenienz
Staatsbibliothek zu Berlin, Lessing-Sammlung Nr. 1841 k.
Bisherige Drucke
Friedrich Roth (Hg.): Hamann’s Schriften. 8 Bde. Berlin, Leipzig 1821–1843, VII 252 f.
Ludwig Schmitz-Kallenberg (Hg.): Aus dem Briefwechsel des Magus im Norden. Johann Georg Hamann an Franz Kaspar Bucholtz 1784–1788. Münster 1917, 69–73.
ZH V 468–470, Nr. 847.
Zusätze fremder Hand
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470/34 |
Unbekannt |
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470/36 |
Johann Georg Hamann |
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
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468/31 |
worden, ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: worden., |
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470/7 |
Avis , |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Avis, |
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470/13 |
gleichgiltig ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: gleichgültig |
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470/25 |
Seiner […] Obhut] |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Seine gnädige und heilige Obhut |
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470/34 |
Poste restante |
Geändert nach der Handschrift; ZH: Poste restante |
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470/36 |
85. ]
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Geändert nach der Handschrift; ZH: 85 |