851
4/9
Kgsb. den 5 Jul. 85.
10
Mein Sohn ist Sontags nach gehaltener
Caffé-
Stunde und
11
vorgängigen Mittagsschlaf mit HE Scheller glücklich zu Hause gekommen und
12
willens morgen mit ebendemselben nach
Trutenau
zu wandern, und ist diesen
13
Augenblick zu seiner Schwester gegangen, um ein Briefchen an
Mlle
14
Henriette
abzuholen und morgen mitzunehmen. Währender Zeit werde ich mich
15
also mit meiner liebsten
Commere
mit aller Vertraulichkeit von den
16
Begebenheiten und Freuden unterhalten, die ich den 2
ten
d. am Tage der
17
Heimsuchung Mariä genoßen.
18
Kaum hatte ich jenen Morgen meine Post fertig, so gab ich die Einl. an
19
HE
Jacobi
ab, lief über die Lomse nach dem Friedl. Thor und eilte wider zu
20
Hause, wie aus einem Bade mit keichenden Athem, da mir der gute Ernst
21
Deutsch entgegenkam mit der Nachricht mir von der Post einen Brief aus
22
Geldern
gebracht zu haben. Aus
Geldern
? Ist der einzige auf der
23
Charte gewesen wird wol der erste und letzte seyn, den ich in meinem Leben
24
erhalte. Nun rathen Sie von wem? Von einem jungen Frauenzimmer, das
25
mir den 4ten Tag nach ihrer Vermählung selbige auf der
Extra
Post meldet;
26
und eine neue Einladung auf die Winterlustbarkeiten in M‥ wo eine ganze
27
Haushaltung, völlig eingerichtet, mich schon mit dem Anfang des Aug.
28
erwarten wird. Ist es in aller Welt möglich, die Achtsamkeiten der Liebe und
29
Freundschaft weiter und höher zu überspannen und übertreiben. Denselben
30
Nachmittag kam HE Jachmann wieder mit einem Briefchen von einer
31
nordischen
Bibi
– wenn Sie mir erlauben wollen, meine liebe beste Freundin
32
und
Commere,
Ihnen diesen arkadischen Namen beyzulegen, und da waren
33
alle meine, beynahe möcht ich sagen, schwermüthige Grillen wegen Ihres
S. 5
Stillschweigens auch beygelegt oder wie Sie vom HE
Referendarius
2
werden gehört haben,
ad acta reponi
rt.
3
Nun bin ich imstande Ihnen ein Tagebuch Ihrer ganzen Reise in der Nuß
4
mitzutheilen, und bitte sich deshalb keine Mühe zu geben. Wars nicht am
5
6
Junii a.c.,
am Tage
Claudius,
daß Sie von hier in der Frühstückstunde
6
abreisten? Wars nicht den 10
ej.
daß Sie dem lieben Gott dankten die
7
Gefahren von Schiffbruch, Seeräuber, Sturme und
vapeurs
auf dem
8
ungeheuren Meerbusen glücklich überstanden zu haben? Wars nicht den 16
Junii,
9
wie Sie in Riga mit der Kutsche feyerlich eingeholt wurden. Statt der
10
läutenden Glocken und groben Geschützes wurde zu Zeiten gehustet, dann ein
11
wenig gelacht, aber noch mehr geküßt. War’s nicht den 22
ej.
wie Sie nach
12
Mitau bis zum Sonntag
Trinitatis st. vieux
fuhren? Doch was den lieben
13
Sonntag anbetrifft, so waren Sie 1.) unterwegs und 2) vermuthe ich, daß
14
der Rigische Gottes-Dienst für eine reformirte Colonistin gar zu früh
15
angeht, und eine kleine chronologische Unordnung der Sonntage leicht
16
unterlaufen kann. Sie haben also blos nöthig, meine geEhrte Freundin und
17
Gevatterin, diese
Data
mit den Ihrigen zu vergleichen, und wenn es der Mühe
18
lohnt, selbige durch kurze Erinnerungen gleichstimmig zu machen.
19
Sind Sie also mit der Gesellschaft der guten Schweitzerin zufrieden
20
gewesen? Wenn ist sie abgegangen von Riga, und erhalten Sie Nachrichten
21
von Ihrer dortigen Ankunft und Ihrer Lage, laßen Sie mir auch davon
22
Etwas zukommen. Unser Freund wird für ein gutes Haus und ehrliches
23
Gehalt
b
gesorgt haben. Den Betrag des letzteren hätte gern gewußt, und
24
die
naive
Frage durch eine ähnliche gut gemacht. Der liebe Johannes hatte
25
mir ausdrücklich aufgetragen Ihr einen kleinen Denkzedel mitzugeben. Sie
26
wißen, wie sauer mir dergl.
Impromtus
werden, und wie
arm ich am
27
Geist
bin – Weil ich all mein Börnstein, das mein Vater gesammelt,
28
zerstreut, so war die
Breloque
das Eintzige, und ich bekam sie von unserm
29
Oberhofprediger Schultz einmal zum Scherz geschenkt. Es ruht also wenigstens
30
ein levitischer Seegen darauf. Es beruh
ig
t mich
wenigstens
übrigens,
31
daß Sie Selbst ihr das Zeugnis geben, nicht durch sie vom Heimweh
infici
rt
32
worden zu seyn – und daß Sie die jungfräuliche Schaam über meine
naive
33
Wahrheit und Antwort ihr aus dem Sinn gebracht.
34
Was qvälen Sie sich aber mit dem Heimweh, fast möcht ich sagen,
sans
35
rime et sans raison.
Herr
Courtan
baut Ihnen sein Haus in Ordnung,
36
wobey ihn Ihre Gegenwart mehr hindern als fördern würde.
Mlle
Henriette
37
lebt unter Aufsicht einer Mutter und Schwester auf dem Lande, und denkt
S. 6
aus bloßer Wollust, gewiß nicht aus Noth nach Riga. Und mit dem lieben
2
Jungen, ich bin ja selbst einer gewesen und habe auch einen – die sind dazu
3
praedestini
rt Vater und Mutter zu
vergeßen
4
Es freut mich am meisten, daß Sie mit Ihrem Wirth und Bruder H.
5
zufrieden sind. Der bloße Verdacht wurmte mich – und Sie wißen, daß ich mich
6
vor einer Stecknadel mehr fürchte als vor einem Dolch – Sollte mein
7
Verleger nicht
zu rechter Zeit
artig, gefällig, und im Nothfall galant zu
8
thun wißen – Sollte ein Verleger, der so viel Jahre auf die letzte Gunst eines
9
Autors und Schriftstellers gewartet hat und vielleicht noch eben so lange
10
warten muß – Sollte mein sokratischer Genius, der nicht wie der seelige
11
Valentin Jamerai Duval
nur eine, sondern 3
Bibi
z. E.
pour le present,
zu
12
Paris, in Riga und Mohilow und der Himmel weiß wo mehr hat, sich
13
gegen die ihm nächste so weit vergeßen können, nicht Gesundheit und Arbeit
14
aus Gefälligkeit aufzuopfern
in der Wahl eines so langgeprüften
15
Verlegers
Freundes geirrt haben – – Der arme Michael hat den Weg umsonst
16
gethan und muß ohne Empfehlungsschreiben an Jettchen nach Trutenau
17
gehen. Der
Lisette Reinette
geht es wie dem Alten, dem das Schreiben auch
18
nicht fließen will, und Schade um meine Kursche Laune; weil ich nicht weiß,
19
ob Sie, liebste Freundin, mein Geschmier lesen und die
batons rompus
20
meines kranken Kopfs zusammenflicken und gantz machen können.
21
Diesen Morgen ist meine Antwort an Hill nach Wien abgegangen mit
22
einer
Assignation
auf 18 # die er in Welschland eingebüßt und ich so
23
glückl. gewesen bin ihm hier zu ersetzen. Den 1 d. erhielt von Jacobi 1 #
24
Sonntags von unserm würdigen Oberbürgermeister in 2 Karten 12 # die
25
noch fehlenden 5 schoß ein Freund vor auf
Speculation
gegen baares
26
Unterpfand. Machen zusammen 18 # die ich ihm wirklich zugedacht und ohne alle
27
Mühe im Schlaf zusammengebracht. Uebrigens wißen Sie beßer als ich,
28
liebe Frau Gevatterin, daß wer andern Freude macht, selbst welche hat.
29
Herr Cammer
Secret.
Bock aus Marienwerder hat zum Abschied mir
30
seine Frau und kleinen Fritz Raphael
praesenti
rt und wir haben eine
31
vergnügte Stunde in unserm Hayn Mamre gehabt diesen Nachmittag.
32
Bitte sich meiner in Pernau zu erinnern. Leben Sie gesund und vergnügt.
33
Das wünsch ich auch Ihrem würdigen Wirth und Br. Hartknoch und
34
Seinem ganzen Hause. Gegen das Heimweh soll das alte Sprichwort probat
35
seyn: Wohl aus den Augen, wol aus dem Sinn. Die menschliche Natur
36
gewöhnt sich eben so gut an Abwesenheit als Gegenwart, an Mangel als
37
Ueberfluß.
S. 7
Der Abendseegen von Mariä Heimsuchung bestand in einem sanften
2
Regen, der alles erqvickt hat. Gestern hat meine Hausmutter gewaschen, und
3
schönes Wetter zur Bleiche und Trocknen gehabt. Marianchen Sophiechen
4
mit Lehne Käthe gewacht vorige Nacht. Alles um mich herum schläft, und ich
5
wache meinen Gast Scheller abzuwarten, der den Abend bey
Banco Dir.
6
Ruffmann
zugebracht. Mehr weiß ich nicht – Vielleicht bringt Johann
7
Michel morgen noch einen kleinen Nachtrag zu einem
Postscript
aus
Trutenau
8
mit. Brauch ich Ihnen noch zu sagen, mit welchen Gesinnungen ich mich
9
unterschreibe als
10
Ihren
11
alten treuen Freund, Gevatter p p
12
Johann Georg Hamann.
13
den 7 –
14
Ich weiß Ihnen, Geliebteste Freundin, weiter nichts zu melden, als daß
15
ich bey HE. Kr. R. Hippel heute beynahe einen gar zu reichen Mittag
16
gehabt, Adelungs ersten Theil über den deutschen Styl gelesen, und darinn
17
4 mal meine arme Scherflein zur deutschen Litteratur
sehr rühmlich
18
angeführt gefunden habe. Ich warte auf meinen Gast, und bin schläfrich. Leben
19
Sie recht wohl, und denken Sie an uns, wie wir uns Ihrer fleißig erinnern –
20
und schlafen Sie auch ohne Träume und Sorgen; denn dazu sind die Tage
21
lang genug. Grüßen Sie Bruder Hartknoch und die Seinigen von uns allen
22
– Gute Nacht!
Provenienz
Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 2.
Bisherige Drucke
Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 83–90, vgl. III 115 f.
ZH VI 4–7, Nr. 851.
Textkritische Anmerkungen
Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch
geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind
vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden
vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter
Quellen verifiziert werden konnten.
|
6/3 |
vergeßen ]
|
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH: vergeßen. |