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Kgsb. den 5 Jul. 85.

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Mein Sohn ist Sontags nach gehaltener
Caffé-
Stunde und

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vorgängigen Mittagsschlaf mit HE Scheller glücklich zu Hause gekommen und

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willens morgen mit ebendemselben nach
Trutenau
zu wandern, und ist diesen

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Augenblick zu seiner Schwester gegangen, um ein Briefchen an
Mlle

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Henriette
abzuholen und morgen mitzunehmen. Währender Zeit werde ich mich

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also mit meiner liebsten
Commere
mit aller Vertraulichkeit von den

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Begebenheiten und Freuden unterhalten, die ich den 2
ten
d. am Tage der

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Heimsuchung Mariä genoßen.

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Kaum hatte ich jenen Morgen meine Post fertig, so gab ich die Einl. an

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HE
Jacobi
ab, lief über die Lomse nach dem Friedl. Thor und eilte wider zu

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Hause, wie aus einem Bade mit keichenden Athem, da mir der gute Ernst

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Deutsch entgegenkam mit der Nachricht mir von der Post einen Brief aus

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Geldern
gebracht zu haben. Aus
Geldern
? Ist der einzige auf der

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Charte gewesen wird wol der erste und letzte seyn, den ich in meinem Leben

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erhalte. Nun rathen Sie von wem? Von einem jungen Frauenzimmer, das

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mir den 4ten Tag nach ihrer Vermählung selbige auf der
Extra
Post meldet;

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und eine neue Einladung auf die Winterlustbarkeiten in M‥ wo eine ganze

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Haushaltung, völlig eingerichtet, mich schon mit dem Anfang des Aug.

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erwarten wird. Ist es in aller Welt möglich, die Achtsamkeiten der Liebe und

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Freundschaft weiter und höher zu überspannen und übertreiben. Denselben

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Nachmittag kam HE Jachmann wieder mit einem Briefchen von einer

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nordischen
Bibi
– wenn Sie mir erlauben wollen, meine liebe beste Freundin

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und
Commere,
Ihnen diesen arkadischen Namen beyzulegen, und da waren

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alle meine, beynahe möcht ich sagen, schwermüthige Grillen wegen Ihres

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Stillschweigens auch beygelegt oder wie Sie vom HE
Referendarius

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werden gehört haben,
ad acta reponi
rt.

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Nun bin ich imstande Ihnen ein Tagebuch Ihrer ganzen Reise in der Nuß

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mitzutheilen, und bitte sich deshalb keine Mühe zu geben. Wars nicht am

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6
Junii a.c.,
am Tage
Claudius,
daß Sie von hier in der Frühstückstunde

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abreisten? Wars nicht den 10
ej.
daß Sie dem lieben Gott dankten die

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Gefahren von Schiffbruch, Seeräuber, Sturme und
vapeurs
auf dem

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ungeheuren Meerbusen glücklich überstanden zu haben? Wars nicht den 16
Junii,

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wie Sie in Riga mit der Kutsche feyerlich eingeholt wurden. Statt der

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läutenden Glocken und groben Geschützes wurde zu Zeiten gehustet, dann ein

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wenig gelacht, aber noch mehr geküßt. War’s nicht den 22
ej.
wie Sie nach

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Mitau bis zum Sonntag
Trinitatis st. vieux
fuhren? Doch was den lieben

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Sonntag anbetrifft, so waren Sie 1.) unterwegs und 2) vermuthe ich, daß

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der Rigische Gottes-Dienst für eine reformirte Colonistin gar zu früh

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angeht, und eine kleine chronologische Unordnung der Sonntage leicht

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unterlaufen kann. Sie haben also blos nöthig, meine geEhrte Freundin und

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Gevatterin, diese
Data
mit den Ihrigen zu vergleichen, und wenn es der Mühe

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lohnt, selbige durch kurze Erinnerungen gleichstimmig zu machen.

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Sind Sie also mit der Gesellschaft der guten Schweitzerin zufrieden

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gewesen? Wenn ist sie abgegangen von Riga, und erhalten Sie Nachrichten

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von Ihrer dortigen Ankunft und Ihrer Lage, laßen Sie mir auch davon

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Etwas zukommen. Unser Freund wird für ein gutes Haus und ehrliches

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Gehalt
b
gesorgt haben. Den Betrag des letzteren hätte gern gewußt, und

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die
naive
Frage durch eine ähnliche gut gemacht. Der liebe Johannes hatte

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mir ausdrücklich aufgetragen Ihr einen kleinen Denkzedel mitzugeben. Sie

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wißen, wie sauer mir dergl.
Impromtus
werden, und wie
arm ich am

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Geist
bin – Weil ich all mein Börnstein, das mein Vater gesammelt,

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zerstreut, so war die
Breloque
das Eintzige, und ich bekam sie von unserm

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Oberhofprediger Schultz einmal zum Scherz geschenkt. Es ruht also wenigstens

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ein levitischer Seegen darauf. Es beruh
ig
t mich
wenigstens
übrigens,

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daß Sie Selbst ihr das Zeugnis geben, nicht durch sie vom Heimweh
infici
rt

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worden zu seyn – und daß Sie die jungfräuliche Schaam über meine
naive

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Wahrheit und Antwort ihr aus dem Sinn gebracht.

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Was qvälen Sie sich aber mit dem Heimweh, fast möcht ich sagen,
sans

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rime et sans raison.
Herr
Courtan
baut Ihnen sein Haus in Ordnung,

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wobey ihn Ihre Gegenwart mehr hindern als fördern würde.
Mlle
Henriette

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lebt unter Aufsicht einer Mutter und Schwester auf dem Lande, und denkt

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aus bloßer Wollust, gewiß nicht aus Noth nach Riga. Und mit dem lieben

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Jungen, ich bin ja selbst einer gewesen und habe auch einen – die sind dazu

3
praedestini
rt Vater und Mutter zu
vergeßen

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Es freut mich am meisten, daß Sie mit Ihrem Wirth und Bruder H.

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zufrieden sind. Der bloße Verdacht wurmte mich – und Sie wißen, daß ich mich

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vor einer Stecknadel mehr fürchte als vor einem Dolch – Sollte mein

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Verleger nicht
zu rechter Zeit
artig, gefällig, und im Nothfall galant zu

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thun wißen – Sollte ein Verleger, der so viel Jahre auf die letzte Gunst eines

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Autors und Schriftstellers gewartet hat und vielleicht noch eben so lange

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warten muß – Sollte mein sokratischer Genius, der nicht wie der seelige

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Valentin Jamerai Duval
nur eine, sondern 3
Bibi
z. E.
pour le present,
zu

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Paris, in Riga und Mohilow und der Himmel weiß wo mehr hat, sich

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gegen die ihm nächste so weit vergeßen können, nicht Gesundheit und Arbeit

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aus Gefälligkeit aufzuopfern
in der Wahl eines so langgeprüften

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Verlegers
Freundes geirrt haben – – Der arme Michael hat den Weg umsonst

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gethan und muß ohne Empfehlungsschreiben an Jettchen nach Trutenau

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gehen. Der
Lisette Reinette
geht es wie dem Alten, dem das Schreiben auch

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nicht fließen will, und Schade um meine Kursche Laune; weil ich nicht weiß,

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ob Sie, liebste Freundin, mein Geschmier lesen und die
batons rompus

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meines kranken Kopfs zusammenflicken und gantz machen können.

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Diesen Morgen ist meine Antwort an Hill nach Wien abgegangen mit

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einer
Assignation
auf 18 # die er in Welschland eingebüßt und ich so

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glückl. gewesen bin ihm hier zu ersetzen. Den 1 d. erhielt von Jacobi 1 #

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Sonntags von unserm würdigen Oberbürgermeister in 2 Karten 12 # die

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noch fehlenden 5 schoß ein Freund vor auf
Speculation
gegen baares

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Unterpfand. Machen zusammen 18 # die ich ihm wirklich zugedacht und ohne alle

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Mühe im Schlaf zusammengebracht. Uebrigens wißen Sie beßer als ich,

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liebe Frau Gevatterin, daß wer andern Freude macht, selbst welche hat.

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Herr Cammer
Secret.
Bock aus Marienwerder hat zum Abschied mir

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seine Frau und kleinen Fritz Raphael
praesenti
rt und wir haben eine

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vergnügte Stunde in unserm Hayn Mamre gehabt diesen Nachmittag.

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Bitte sich meiner in Pernau zu erinnern. Leben Sie gesund und vergnügt.

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Das wünsch ich auch Ihrem würdigen Wirth und Br. Hartknoch und

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Seinem ganzen Hause. Gegen das Heimweh soll das alte Sprichwort probat

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seyn: Wohl aus den Augen, wol aus dem Sinn. Die menschliche Natur

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gewöhnt sich eben so gut an Abwesenheit als Gegenwart, an Mangel als

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Ueberfluß.

S. 7
Der Abendseegen von Mariä Heimsuchung bestand in einem sanften

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Regen, der alles erqvickt hat. Gestern hat meine Hausmutter gewaschen, und

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schönes Wetter zur Bleiche und Trocknen gehabt. Marianchen Sophiechen

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mit Lehne Käthe gewacht vorige Nacht. Alles um mich herum schläft, und ich

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wache meinen Gast Scheller abzuwarten, der den Abend bey
Banco Dir.

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Ruffmann
zugebracht. Mehr weiß ich nicht – Vielleicht bringt Johann

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Michel morgen noch einen kleinen Nachtrag zu einem
Postscript
aus
Trutenau

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mit. Brauch ich Ihnen noch zu sagen, mit welchen Gesinnungen ich mich

9
unterschreibe als

10
Ihren

11
alten treuen Freund, Gevatter p p

12
Johann Georg Hamann.


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den 7 –

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Ich weiß Ihnen, Geliebteste Freundin, weiter nichts zu melden, als daß

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ich bey HE. Kr. R. Hippel heute beynahe einen gar zu reichen Mittag

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gehabt, Adelungs ersten Theil über den deutschen Styl gelesen, und darinn

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4 mal meine arme Scherflein zur deutschen Litteratur
sehr rühmlich

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angeführt gefunden habe. Ich warte auf meinen Gast, und bin schläfrich. Leben

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Sie recht wohl, und denken Sie an uns, wie wir uns Ihrer fleißig erinnern –

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und schlafen Sie auch ohne Träume und Sorgen; denn dazu sind die Tage

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lang genug. Grüßen Sie Bruder Hartknoch und die Seinigen von uns allen

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– Gute Nacht!

Provenienz

Druck ZH nach der überlieferten handschriftlichen Abschrift Arthur Wardas. Original verschollen. Letzter bekannter Aufbewahrungsort: Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg, Msc. 2552 [Roths Hamanniana], II 2.

Bisherige Drucke

Karl Hermann Gildemeister (Hg.): Johann Georg Hamann’s, des Magus im Norden, Leben und Schriften. 6 Bde. Gotha 1857–1868, V 83–90, vgl. III 115 f.

ZH VI 4–7, Nr. 851.

Textkritische Anmerkungen

Der Brieftext wurde anhand der überlieferten Quellen (vgl. Provenienz) kritisch geprüft. Notwendige Korrekturen gegenüber dem in ZH gedruckten Text wurden vorgenommen und sind vollständig annotiert. Die in den beiden Auflagen von ZH angehängten Korrekturvorschläge werden vollständig aufgelistet, werden aber nur dann im Text realisiert, sofern diese anhand überlieferter Quellen verifiziert werden konnten.
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vergeßen
]
Geändert nach der Abschrift Wardas; ZH:
vergeßen.